David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Die Auswirkungen der ungarischen Revolution

Mandels eitle Spekulationen über den Kampf verschiedener Tendenzen innerhalb der Bürokratie dienten letztlich nur dazu, die europäischen und all die Arbeiter, die unter dem Einfluss der Pablisten standen, am Vorabend einer erneuten stalinistischen Terrorwelle gegen die Arbeiterklasse politisch zu desorientieren und zu entwaffnen.

Die brutale Niederschlagung der ungarischen Revolution im November 1956, die 20 000 Menschenleben kostete, war eine deutliche Antwort auf diejenigen, die Chruschtschows Anprangerung von Stalins Verbrechen für den Beginn einer bürokratischen Selbstreform gehalten hatten.

Die blutige Intervention der Sowjetunion gegen die Revolution war nicht nur ein neuerlicher Beweis dafür, dass der Stalinismus nur mit den Methoden des Bürgerkriegs besiegt werden kann; noch wichtiger war, dass der Kampf der ungarischen Arbeiter eine historische Bestätigung der theoretischen und politischen Grundlagen von Trotzkis Kampf gegen die Bürokratie darstellte. Genau wie die Pariser Kommune der Welt zum ersten Mal, wenn auch nur in ihrer Keimform, die Diktatur des Proletariats vor Augen führte, so zeigte der Arbeiterrat von Groß-Budapest (und die ihm angeschlossenen Räte in ganz Ungarn) die lebendige Form der politischen Revolution.

Im Feuer der Ereignisse vom November und Dezember 1956, als die Arbeiter von Budapest über vier Wochen lang einen heroischen Generalstreik gegen die sowjetische Intervention organisierten, passten die Pablisten ihre Rhetorik vorübergehend an die Massenbewegung an. Aber nach dem Streik fanden sie schnell zu ihrem gewohnten revisionistischen Gehabe zurück, säten Illusionen in den Charakter der Bürokratie und taten ihr Möglichstes, das trotzkistische Programm der politischen Revolution abzuwürgen.

Die politischen Differenzen zwischen dem Internationalen Komitee und der SWP auf der einen und den Pablisten auf der anderen Seite, die sich bereits in ihren jeweiligen Reaktionen auf Chruschtschows Geheimrede gezeigt hatten, traten in ihren Einschätzungen der ungarischen Revolution nicht weniger deutlich zutage. Im Januar 1957, am Vorabend der plötzlichen und entscheidenden Wende in ihrer internationalen Orientierung, verabschiedete das Nationalkomitee der Socialist Workers Party eine Erklärung mit dem Titel »Die ungarische Revolution und die Krise des Stalinismus«, die sich auf den, wie Cannon immer noch sagte, »orthodoxen Trotzkismus« begründete.

Die Erklärung der SWP analysierte die ungarische Revolution und die ihr vorausgegangene Massenbewegung. Sie begann mit einem Frontalangriff auf die pablistische Perspektive: »Ein für alle Mal haben Stalins Erben gezeigt, wie idiotisch es ist, an die Möglichkeit ihrer ›Selbstreform‹ zu glauben. In denkbar brutalster Form haben sie Trotzkis Einschätzung, dass sie sich mit der Hartnäckigkeit einer herrschenden Klasse an die Macht und die damit verbundenen Privilegien klammern, bestätigt.«[1]

Das Dokument untersuchte die Entwicklung der ungarischen Revolution und analysierte kritisch die Erfahrung ihrer wichtigsten Errungenschaft, der Arbeiterräte. Der Schwerpunkt des Dokuments lag auf der Notwendigkeit, eine bewusste marxistische Führung aufzubauen, um die politische Revolution zu organisieren und zum Sieg zu führen. In Ermangelung einer trotzkistischen Führung hatten die Arbeiterräte die politischen und praktischen Aufgaben, wie sie durch den Kampf gestellt worden waren, nicht lösen können.

Das Fehlen einer revolutionär-sozialistischen Partei kam die ungarischen Arbeiter teuer zu stehen. Das soll nicht heißen, dass sie für deren Fehlen verantwortlich gemacht werden könnten. Wie die Erfahrung gezeigt hat, ist es nicht einfach, unter der totalitären Herrschaft des Stalinismus eine solche Partei aufzubauen. Aufgrund des Fehlens einer bewussten revolutionär-sozialistischen Führung versäumten es die Arbeiterräte, die Macht zu übernehmen. Sie hörten nicht auf, mit den Marionetten Moskaus um Zugeständnisse zu verhandeln. Dieser Weg erwies sich als katastrophal. Während die Führung der Arbeiterräte in fruchtlosen Verhandlungen mit Figuren, die im Land keine wirkliche Macht mehr hatten, Zeit vergeudete, mobilisierte die stalinistische Konterrevolution ihre Unterdrückungsmaschinerie.

a) Die Führung der Arbeiterräte versäumte es, die Ziele der Revolution klar zu verkünden: nationale Freiheit und Arbeiterdemokratie, Sturz der bürokratischen Kaste und Übergang der Macht an die Arbeiterräte.

b) Die Führung der Arbeiterräte versäumte es, systematisch revolutionäre Aufrufe an die Arbeiter in ganz Osteuropa und der Sowjetunion zu verbreiten, um die Ziele der Revolution zu erklären und zu sozialistischer Solidarität im gemeinsamen Kampf aufzurufen.

c) Die Führung der Arbeiterräte versäumte es, systematisch an die sowjetischen Streitkräfte heranzutreten und an ihr Erbe der Revolution von 1917, an ihre sozialistischen Überzeugungen und an ihren eigenen tiefsitzenden Missmut gegen den Kreml zu appellieren.

d) Die Führung der Arbeiterräte versäumte es, die Arbeiter in den kapitalistischen Ländern um Hilfe zu bitten, damit sie die Imperialisten hindern, die Lage auszunutzen.

e) Die Führung der Arbeiterräte versäumte es, alle Schichten der Bevölkerung zu ihrem Beitrag zum Sieg und die Nation insgesamt zur militärischen Verteidigung zu mobilisieren.

f) Die Führung der Arbeiterräte machte einen furchtbaren Fehler, als sie die Versprechen der Moskauer Bürokraten, Reformen zuzulassen und die Besatzungstruppen abzuziehen, für bare Münze nahm.

g) Die Führung der Arbeiterräte sah nicht voraus, dass Moskau bereit sein würde, die Revolution in Blut zu ertränken, und wurde daher von dem konterrevolutionären Angriff überrascht.

Hätten die Arbeiterräte die Macht übernommen, was sie unter einer revolutionär-sozialistischen Führung getan hätten, dann wäre die Moskauer Bürokratie zum Untergang verurteilt gewesen. Ihre politischen Aufrufe und entschlossenen Aktionen an der Spitze der Revolution hätten in der Sowjetunion und ganz Osteuropa einen Widerhall gefunden und die Massen mit der glühenden Überzeugung auf die Beine gebracht, dass dies die Rückkehr zu Lenin, die Regenerierung des Arbeiterstaats bedeute.[2]

Zu den »politischen Ausdrucksformen«, die die ungarischen Arbeiter brauchten, erklärte die SWP mit Bestimmtheit:

Die notwendigste ist die Partei, der höchste Ausdruck der bewussten Führung. Die glänzenden Aussichten für den Aufstieg einer revolutionär-sozialistischen Partei unter den Arbeitern des sowjetischen Blocks kann man an vielen Parolen ablesen, die in der ungarischen Revolution aufkamen. Diese Parolen stammten von denkenden Köpfen, die, vielleicht ohne es noch selbst zu wissen, zu trotzkistischen Schlussfolgerungen kamen.[3]

Die SWP fasste die Lehren des blutigen Kampfs zusammen: »Die ungarische Revolution entlarvte den konterrevolutionären Charakter des Stalinismus und zerstörte damit weiter den unheilvollen Einfluss des Stalinismus unter den sozialistisch gesonnenen Arbeitern der Welt. Dies hat neue Möglichkeiten zur Neugruppierung der revolutionären Vorhut unter dem Banner des Leninismus und Trotzkismus geschaffen.«[4]

Was die außerordentliche Stärke dieser Erklärung ausmachte und sie von der für die Pablisten typischen sterilen »objektivistischen« Apologetik abhob, war nicht nur, dass sie den Stalinismus verurteilte und die Bestätigung des Trotzkismus verzeichnete. Sie bemühte sich, aus der Erfahrung der ersten politischen Revolution heraus die historische Notwendigkeit der Vierten Internationale für die Vorbereitung und Organisierung des bewaffneten Sturzes der stalinistischen Bürokratie nachzuweisen.

Die Pablisten bezeugten ihre vollkommene Ablehnung dieser revolutionären, d. h. trotzkistischen Perspektive in ihrem ersten ausführlichen Dokument über den Stalinismus nach der ungarischen Revolution, eine schmachvolle Resolution, die auf dem Fünften Weltkongress der Revisionisten im Oktober 1957 angenommen wurde und etwa ein halbes Jahr zuvor verfasst worden war. Schon der Titel, »Aufstieg, Niedergang und Perspektiven für den Fall des Stalinismus«, deutete die teleologische Perspektive an, die alle großspurigen »Thesen« von Pablo und Mandel durchdrang. Ihre Analyse konzentrierte sich nicht auf die aktive Rolle der Arbeiterklasse und die Aufgaben der Vierten Internationale im Kampf gegen die Bürokratie. Stattdessen ging es ihnen »vor allem darum, die genauen Bedingungen für den Fall des Stalinismus zu definieren«.[5]

Im Rahmen dieser Forschung wurde ergründet, wie die Bürokratie unter dem Druck abstrakter und mysteriöser welthistorischer Kräfte, die Mandel von seinem Schreibtisch in Belgien aus weissagte und interpretierte, fast automatisch, selbst gegen ihren eigenen Willen, ihr stalinistisches Erbe verwirft. Chruschtschow, so Mandel, habe einen unaufhaltsamen Prozess der Selbstverwandlung in Gang gesetzt: »Aber trotz des verzweifelten Widerstands dieser Bürokratie, trotz der Schritte zurück, der Verzögerungen und selbst der reaktionären Folgen in dem einen oder anderen Bereich hat der Kampf für die Gedankenfreiheit in der UdSSR auf dem Zwanzigsten Parteitag einen gewaltigen Sieg errungen, dessen Folgen nicht mehr zerstört werden können.«[6]

Trotz all der zweideutigen Formulierungen, in die Mandel seine Revisionen trotzkistischer Theorien üblicherweise kleidete, ging aus dieser Erklärung eindeutig hervor, dass die Pablisten die Bürokratie oder zumindest Teile davon als Protagonisten des Kampfs gegen den Stalinismus definierten. Mandel stand daher vor der großen politischen Herausforderung, die Ursprünge dieser progressiven Fraktion zu erklären. Er meisterte sie in seinem üblichen orakelhaften Stil: »Unter dem Druck der Massen und der Unzufriedenheit, die allmählich einen politischen Aspekt annahm, wurde der Führungskern der Bürokratie in verschiedene Tendenzen auseinandergerissen: eine Tendenz für weitgehende Zugeständnisse an die Massen (Malenkow-Mikojan?), eine Tendenz für die Straffung der Diktatur (Kaganowitsch-Molotow?), eine ›zentristische‹ Tendenz (Chruschtschow-Bulganin).«[7] (Fragezeichen im Original)

In seinem Begeisterungsrausch für die Errungenschaften von Chruschtschow und seinen Gefolgsleuten verkündete Mandel: »Indem sie die Autorität von Stalin, der Inkarnation aller bürokratischen Autokratie, so gründlich zerstörten, haben sie die Autorität und den Geist der bürokratischen Herrschaft auf jeder Ebene unwiderruflich untergraben.«[8]

Mit einer Behauptung von dieser Tragweite wurde die historische Notwendigkeit der politischen Revolution durch den bewaffneten Aufstand des sowjetischen Proletariats geleugnet. Schließlich war die Autorität der Bürokratie laut Mandel durch den Zwanzigsten Parteitag bereits »unwiderruflich untergraben«. Aber das war nicht alles. Mandel, der angestrengt in seine Kristallkugel spähte, weissagte den progressiven Teilen der stalinistischen Bürokratie in Osteuropa eine glorreiche Zukunft. Er warf sich in seine Lieblingspose als Berater der Bürokratie, anstatt als ihr revolutionärer Gegner, und schlug ihren »linken« Elementen vor, nationale Gefühle auszunutzen:

Die Opposition innerhalb der KPs zieht Nutzen aus nationalen Gefühlen. Der Kampf für den »nationalen Weg zum Sozialismus« gewinnt dort also einen höchst progressiven und revolutionären Wert, im Gegensatz zu den KPs im Westen, wo er im Allgemeinen eine Wende zu systematisiertem rechtem Opportunismus bedeutet. Gomulka in ­Polen, Nagy in Ungarn, morgen vielleicht Hernstedt oder Ackermann in Ostdeutschland werden in den Augen der Massen zu Symbolen für den Kampf um nationale Gleichberechtigung, schaffen dadurch günstige Bedingungen, die KPs (vermittels ihrer »nationalen« Tendenz) wieder populär zu machen und gestatten der politischen Revolution unter der oppositionellen kommunistischen Führung, nationale Gefühle zu ihren Gunsten zu mobilisieren …[9]

Nirgends wurde der Gegensatz zwischen der Linie der Pablisten und der Linie der SWP deutlicher als in ihren jeweiligen Standpunkten zu Tito, der sich bei der Niederschlagung der Revolution auf die Seite Moskaus gestellt und den ungarischen Arbeitern damit ein Messer in den Rücken gestoßen hatte. Die SWP stellte diesen Verrat bitter an den Pranger:

Tito spielte während der ungarischen Revolution eine verabscheuungswürdige Rolle. Er rührte keinen Finger zur Unterstützung der Kämpfer und verdammte und verleumdete sie am Ende. Als die Karten auf dem Tisch lagen, stellte sich heraus, dass Tito – trotz seiner Differenzen mit Chruschtschow & Co. – einfach eine Spielart des Stalinismus vertritt, und das war entscheidend. Wegen seiner kritischen Einstellung und seinem Ruf, unabhängig zu sein, waren Titos Argumente zur Verteidigung Moskaus weit wirkungsvoller als alles, was aus Moskau selbst verlautete.[10]

Die Pablisten gingen dagegen mit ein paar beiläufigen Bemerkungen über Titos hinterhältige Rolle, die alle Fragen über sein Verhältnis zum Stalinismus klärte, hinweg und betonten stattdessen wieder in ihrer objektivistischen Manier seine »höchst progressive Rolle in der internationalen kommunistischen Bewegung während der gesamten kritischen Vorbereitungsperiode des Zwanzigsten Parteitags der KP der UdSSR«.[11]

Trotzki hatte die stalinistische Bürokratie als »durch und durch konterrevolutionär« gebrandmarkt und immer auf der Notwendigkeit bestanden, innerhalb der Sowjetunion eine Sektion der Vierten Internationale als neue revolutionäre Partei der Arbeiterklasse aufzubauen. Mandels Perspektive gründete sich dagegen ausschließlich auf den Glauben, in den sowjetischen und osteuropäischen Bürokratien würden revolutionäre Tendenzen keimen. Danach spielten auch sowjetische Führer, soweit sie die Entwicklung solcher Tendenzen förderten, wie Chruschtschow laut Mandel mit der Zurückweisung Stalins und Rehabilitierung Titos, »eine höchst progressive und sogar objektiv revolutionäre Rolle in ihren jeweiligen KPs«.[12]

In seiner Analyse der polnischen Ereignisse beharrte Mandel darauf, dass nicht die Kräfte der Vierten Internationale die revolutionäre Vorhut bildeten, sondern vielmehr »linke« Kräfte innerhalb der Bürokratie: »Das Ausmaß, in dem die Linke Tendenz ihrem Programm treu bleibt, es in der Praxis anwendet und sich immer enger an das Proletariat bindet, wird ihre Fähigkeit bestimmen, ihrer Rolle als leninistische Führung der polnischen Arbeiterklasse völlig gerecht zu werden.«[13]

Diese Voraussage von Pablo und Mandel war nun wirklich ein Schlag ins Wasser. Anstatt sich in eine »leninistische Führung« des polnischen Proletariats zu verwandeln, reorganisierte die »Linke Tendenz« die Bürokratie, nahm unter Gomulkas Führung die Unterdrückung der Arbeiterklasse wieder auf und war bereits 1970 so verhasst, dass sie nach Streiks und blutigen Demonstrationen gestürzt wurde.

Als im Herbst 1957 der Fünfte Weltkongress der Pablisten eröffnet wurde, beschrieb Mandel sogar die Kommunistische Partei der Sowjetunion als eine Organisation, in der es von revolutionären Tendenzen nur so wimmelte: »Die Gewerkschaftskader in den Fabriken, die Sekretäre der Fabrikzellen der KP, selbst Führer von Distrikten, kleinen Städten, gelegentlich selbst Provinzzentren, und vor allem die Komsomolzen können so wirkliche Übertragungsriemen für die proletarischen Strömungen werden, die sich in der Gesellschaft herauskristallisieren. Und aus ihren Reihen könnten zukünftige Nagys und Gomulkas, vielleicht sogar künftige bolschewistische Führer hervorgehen.«[14]

Mandels Analyse ließ nur einen Schluss zu: dass weder in der Sowjetunion noch in Osteuropa eine Notwendigkeit für eine politisch unabhängige trotzkistische Partei bestand, da die revolutionären Kräfte innerhalb der stalinistischen Organisationen heranreiften. Durch die politische Entwicklung dieser Kräfte, die automatisch und unbewusst den Druck und Willen der Massen widerspiegelten, wurde das alte stalinistische Regime liquidiert. Jedenfalls behauptete das Mandel. Was in Wirklichkeit liquidiert wurde, war die revolutionäre trotzkistische Perspektive.

In einem Brief an Cannon mit Datum vom 10. Mai 1957 untersuchte Gerry Healy den Inhalt von »Niedergang und Fall« und fasste ihn treffend zusammen:

Hier ist die ganze Doppeldeutigkeit des Dritten Kongresses in aktualisierter Form. Trotz der gesamten bitteren Erfahrung der ungarischen Revolution wird erneut ein Fragezeichen über die Rolle der Bürokratie in der politischen Revolution gesetzt. Wie kann man mit einer solchen Perspektive trotzkistische Massenparteien aufbauen? Und tatsächlich glaubt Pablo nicht an diese Möglichkeit. Du kannst das Dokument von der ersten bis zur letzten Seite durchgehen und wirst nicht einen einzigen Aufruf zum Aufbau trotzkistischer Parteien in der UdSSR, China oder Osteuropa finden. War das nicht einer der Hauptgründe für die Spaltung von 1953?[15]

Healys Brief war eine Reaktion darauf, dass die SWP eine abrupte politische Wende in ihren Beziehungen zu den Pablisten vollzogen hatte. Angesichts der unübersehbaren Differenzen in der offiziellen Politik, die die SWP einerseits und das Internationale Sekretariat andererseits zur ungarischen Revolution vertraten – wobei Letzteres keinerlei Anstalten machte, seine revisionistischen Auffassungen aufzugeben –, waren die britischen Trotzkisten bestürzt, als Cannon den letzten Aufruf der sri-lankischen LSSP, mit den Pablisten Verhandlungen über die Aufhebung der Spaltung von 1953 und die Wiedervereinigung der Vierten Internationale aufzunehmen, in positivem Sinne beantwortete.

Die Argumente, die der LSSP-Sekretär Leslie Goonewardene in einem Brief an Cannon vom 2. Januar 1957 anführte, zeichneten sich durch das opportunistische Verwischen der politischen Differenzen aus, das für die sri-lankischen Zentristen typisch war. In seinen Versuchen, die SWP herumzukriegen, ersetzte Goonewardene Prinzipien durch Schmeichelei und Kniffe: »Eine internationale trotzkistische Bewegung ohne die SWP ist eine verwundete internationale Bewegung, genau wie eine SWP außerhalb dieser Bewegung eine schwer geschwächte SWP ist. Deswegen brauchen wir einander, egal was unsere Differenzen sind.«[16]

Jeder Vorschlag zu Gesprächen mit den Pablisten, der von der LSSP ausging, war doppelt verdächtig. Die LSSP hatte nicht nur eine widerwärtige Rolle gespielt, als sie durch ihre Opposition gegen den »Offenen Brief« Pablos Autorität gestützt hatte, sondern war auch nach der Spaltung stetig nach rechts gegangen, indem sie sich immer offener an bürgerliche Nationalisten und Stalinisten in Ceylon anpasste.

Als Cannon sich über den Vorschlag der LSSP Gedanken machte und ihn der SWP-Führung zur Überprüfung vorlegte, war er sich über die immer verräterischere Politik von Goonewardene und seinen Verbündeten sehr bewusst. Cannon wusste, dass die »Samasamajist«, die Zeitung der LSSP, am 31. Januar 1957 mit einem Leitartikel unter der Überschrift »Tribut an Zhou Enlai« erschienen war, der auf eine unaufrichtige Abdeckung der konterrevolutionären Rolle des Stalinismus hinauslief. Es hieß in diesem Artikel: »Trotz unserer politischen Differenzen anerkennen wir die gewaltigen Opfer dieser Männer, die die chinesische Revolution zum Sieg geführt haben.«[17] Diese Würdigung erwähnte mit keinem Wort die bedrohliche Lage der inhaftierten chinesischen Trotzkisten und schwieg sich darüber aus, dass die chinesischen Stalinisten Chruschtschows Aktionen in Ungarn verteidigten.

Eine Woche später mehrten sich die eindeutigen Anzeichen für die opportunistische Orientierung der LSSP. Die »Samasamajist« gab am 7. Februar bekannt, dass Zhou Enlai die Parteiführer zu einem Besuch nach China eingeladen hatte. Es konnte keinen Zweifel mehr darüber geben, was der wesentliche politische Inhalt des Bündnisses der LSSP mit den Pablisten und ihres Aufrufs zur Wiedervereinigung war. Die Zentristen von der LSSP wollten eine internationale Organisation auf opportunistischer Grundlage, um die wirklichen Trotzkisten innerhalb ihrer eigenen Organisation und international zu neutralisieren und sich einen politischen Deckmantel zu verschaffen, unter dem sie einen gewaltigen Verrat an der Arbeiterklasse von Ceylon vorbereiten konnten.

Am 11. März 1957 erschien »The Militant« mit einem außergewöhnlichen Kommentar, in dem öffentlich die LSSP kritisiert wurde:

Wir möchten unsere Genossen von der LSSP in Ceylon an die grundlegenden Auffassungen erinnern, auf deren Verdeutlichung Trotzkisten stets Wert gelegt haben:

Zhou Enlai und die Kommunistische Partei Chinas haben weder »die chinesische Revolution zum Sieg geführt«, noch haben sie ein Recht darauf, mit diesem Sieg identifiziert zu werden. In dem Bürgerkrieg nach 1945 hat die chinesische KP jahrelang versucht, Chiang Kai-shek zu versöhnen. Sie erbot sich, die revolutionären Kräfte diesem chinesischen Diktator, der Marionette des US-Imperialismus, unterzuordnen.[18]

»The Militant« schilderte die Behandlung der Anhänger der Vierten Internationale in China und riet: »Die ceylonesischen Trotzkisten sollten unserer Meinung nach mit aller Kraft die Forderung nach Freilassung unserer chinesischen Genossen und nach uneingeschränkten demokratischen Rechten für die chinesische Arbeiterklasse unterstützen. Nur die Arbeiterdemokratie kann den Sieg der chinesischen Revolution sichern, ihren Fortschritt garantieren und den Kampf für den Sozialismus in ganz Asien vorwärtsbringen.«[19]

Goonewardene und Colvin de Silva ignorierten diesen Rat. Das Verhalten der LSSP-Delegation in China war eine Beleidigung der Prinzipien der Trotzkisten auf der ganzen Welt. Die Delegierten weigerten sich rundheraus, die chinesischen Stalinisten mit der Frage der inhaftierten Trotzkisten zu konfrontieren!

Cannon wusste, was die LSSP-Führer in Wirklichkeit wert waren. Trotzdem reagierte er nur einen Tag nach Veröffentlichung des genannten Kommentars in »The Militant« in einem Brief vom 12. März 1957 an Goonewardene zustimmend auf die Vorschläge der LSSP, mit den Pablisten Gespräche zum Zwecke der Wiedervereinigung zu führen:

Konsequente Bemühungen auf beiden Seiten um gemeinsame Positionen zu den politischen Tagesfragen würden einen bewussten und ernsthaften Versuch der Wiedervereinigung rechtfertigen, selbst wenn einige wichtige Differenzen über Auffassungen allgemeiner Art ungelöst blieben. Es wäre unklug, so zu tun, als gebe es diese Differenzen nicht, oder ihnen durch zweideutige Kompromissformulierungen auszuweichen, die dann verschieden interpretiert würden. Es wäre besser und realistischer, über eine mögliche Wiedervereinigung zum Zwecke gemeinsamer politischer Aktion nachzudenken, sich darauf zu einigen, dass man in einigen Fragen nicht einig ist, und es dem Test der Ereignisse und der klärenden, nicht fraktionalistischen Diskussion zu überlassen, eine endgültige Einigung herbeizuführen.[20]

Das war eine Kehrtwendung Cannons um 180 Grad. Wieder und wieder hatte er erklärt, dass jeder Versuch einer Wiedervereinigung mit den Pablisten, bei dem wichtige Prinzipienfragen unterdrückt würden, die trotzkistische Bewegung in den USA und auf der ganzen Welt desorientieren würde. Aber Cannon war nicht der Einzige, der seine Position geändert hatte. Die zentrale Führung der SWP unterstützte diese Wende in der Frage der Wiedervereinigung ausnahmslos. Auf einer Sitzung des Politischen Komitees der SWP an diesem selben 12. März gab Morris Lewit einen politischen Bericht, in dem er Cannons Brief guthieß, obwohl er zugab, dass Pablo sich nicht von seiner bisherigen Linie abgewandt hatte.

Im Gegenteil, Pablo und seine Anhänger behaupten, sie hätten die ganze Zeit recht gehabt und die Ereignisse hätten dies bestätigt. Dabei vergessen sie geflissentlich ihre falschen Prognosen und schreiben sich Analysen und Prognosen zu, die nicht aus Pablos Linie, sondern aus der des Trotzkismus abgeleitet waren.

Aber wie dem auch sei, wir können die fortdauernde Spaltung mit den Pablisten nicht damit rechtfertigen, dass sie nicht zugeben, dass sie früher im Unrecht waren, wenn ihre falsche Linie von früher nicht ihren heutigen Kurs bestimmt. Das scheint nicht der Fall zu sein. Pablo entfernt sich von der spezifischen Linie, die einen liquidatorischen Flügel innerhalb der VI hervorbrachte.[21]

Die Behauptung, Pablo entferne sich von seiner liquidatorischen Linie, war völlig unwahr. Sie war ein dünnes Mäntelchen für einen klaren politischen Rückzug der SWP vom Kampf gegen den Revisionismus.

Um zu verstehen, wie und warum dies geschah – besonders unter Bedingungen, wo es so schien, als verteidige die SWP nach wie vor trotzkistische Prinzipien –, muss man die innere Entwicklung der SWP selbst untersuchen. Eine solche Untersuchung beweist unwiderlegbar, dass die Entscheidung, eine Wiedervereinigung mit den Pablisten anzustreben, direkt mit einer Hinwendung zum kleinbürgerlichen Radikalismus in den Vereinigten Staaten verbunden war. Aus diesem Grunde war Cannons Brief an Goonewardene ein Meilenstein in der Degeneration der Socialist Workers Party.


[1]

National Education Department Socialist Workers Party, Education for Socialists: The Struggle to Reunify the Fourth International (1954–63), Bd. 2, Februar 1978, S. 35.

[2]

Ebd., S. 36.

[3]

Ebd.

[4]

Ebd., S. 39.

[5]

Fünfter Weltkongress der Vierten Internationale, »Rise, Decline, and Perspectives for the Fall of Stalinism«, in: Fourth International, Nr. 1, Winter 1958, S. 56.

[6]

Ebd., S. 58.

[7]

Ebd.

[8]

Ebd., S. 59.

[9]

Ebd., S. 61.

[10]

SWP, The Struggle to Reunify, Bd. 2, S. 38.

[11]

Fourth International, Winter 1958, S. 62.

[12]

Ebd.

[13]

Ebd., S. 63–64.

[14]

Ebd., S. 77.

[15]

National Education Department Socialist Workers Party, Education for Socialists: The Struggle to Reunify the Fourth International (1954–63), Bd. 3, Juli 1978, S. 33.

[16]

Ebd., S. 15.

[17]

Ebd., S. 82.

[18]

Ebd.

[19]

Ebd.

[20]

Ebd., S. 17.

[21]

Ebd., S. 19.