David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Chruschtschows Geheimrede vor dem Zwanzigsten Parteitag

Die politische Krise in der Socialist Workers Party hatte im Jahr 1956 sehr bedrohliche Ausmaße angenommen. Fast zehn Jahre ständig schlimmerer Isolation hatten den Parteikader schwer mitgenommen.

Aber dann wurde die internationale Arbeiterbewegung von zwei Ereignissen erschüttert, die die scheinbar uneinnehmbare Festung des Stalinismus niederrissen: Nikita Chruschtschows »Geheimrede« vor den Delegierten des Zwanzigsten Parteitags der Kommunistischen Partei im Februar 1956 und der Ausbruch der politischen Revolution in Ungarn acht Monate später.

Keine Darstellung der Ereignisse, die zur Wiedervereinigung der SWP mit den Pablisten führten, wäre in sich logisch, geschweige denn vollständig, wenn sie nicht die Auswirkungen der stalinistischen Krise auf die trotzkistische Bewegung untersuchte. Aber Banda ignoriert die Ereignisse von 1956 vollständig. Nur im Vorübergehen lässt er eine wie üblich zynische und falsche Bemerkung zur ungarischen Revolution fallen: »Nachdem Cannon sich einen Freiraum für Manöver mit der Arbeiterbürokratie geschaffen hatte und die lästige Cochran-Tendenz losgeworden war, ging er auf der Grundlage einer gemeinsamen Position zur Revolution in Ungarn und einer Verwässerung des Programms der politischen Revolution in der UdSSR folgerichtig an den Schacher mit Pablo heran.«

Wir wollen prüfen, ob es stimmt, dass Cannon und die Pablisten eine »gemeinsame Position« zu den Ereignissen von 1956 hatten. Die SWP verteidigte später ihre Wende zur Wiedervereinigung ohne jede Berechtigung damit, dass die Reaktion der Pablisten auf Chruschtschows Rede und die ungarische Revolution einen klaren Bruch mit ihren revisionistischen Positionen von 1953 bedeute und sich die Linien des Internationalen Komitees und des Internationalen Sekretariats getroffen hätten.

Dass Banda diese Behauptung als wahr voraussetzt, ist Bestandteil seines Versuchs, den grundlegenden Inhalt der Spaltung von 1953 und das wirkliche Ausmaß der programmatischen Differenzen zwischen dem Trotzkismus und dem Pablismus abzuleugnen. Die Entscheidung Cannons und der SWP, die Spaltung von 1953 zu begraben und eine Wiedervereinigung in die Wege zu leiten, war nicht auf gemeinsame politische Standpunkte des IKVI und der Pablisten zurückzuführen. Vielmehr war es die zunehmende politische Anpassung der SWP an das Milieu des kleinbürgerlichen Radikalismus in den USA, die Cannon zu den Wiedervereinigungsversuchen trieb, obwohl sich die Haltung der SWP zu Chruschtschows Rede und der ungarischen Revolution grundlegend von der pablistischen unterschied.

Die Haltung der SWP zu den Pablisten änderte sich gerade dann, als die Klassenlogik und die praktischen Erfordernisse ihrer Anpassung an nichtproletarische Kräfte in den USA – die sich besonders bösartig in der »Umgruppierungs«-Strategie ausdrückte – in direkten und unversöhnlichen Gegensatz zu ihrer formal richtigen Opposition gegen den Revisionismus auf internationaler Ebene gerieten. Diesen Prozess wollen wir jetzt im Einzelnen untersuchen, angefangen mit Chruschtschows erstaunlicher Rede im Februar 1956.

Fast drei Jahrzehnte lang war Stalin als »Vater des Volks«, »Lenin ­unserer Zeit«, Quelle aller Weisheit und Gewährer aller Reichtümer der Natur dargestellt worden. Angesichts der Ehrentitel, mit denen er in der sowjetischen Presse überhäuft wurde, wäre selbst ein orientalischer Despot aus Verlegenheit rot geworden.

Die Vergötterung Stalins machte nicht an den Grenzen der Sowjetunion halt. Zu den ergebensten und lautstärksten Priestern des Stalinkults gehörten die Führer der amerikanischen Kommunistischen Partei, darunter auch ihr heutiger Generalsekretär Gus Hall. William Z. Foster, Gründungsmitglied und langjähriger Führer der KP, hatte für seine wenige Jahre vor 1956 verfasste Autobiografie den unglücklichen Titel »Von Bryan zu Stalin« gewählt. Aber dann, drei Jahre nach dem Tod des »genialen Stalin«, verkündete Nikita Chruschtschow der Welt, dass sein ehemaliger Chef ein blutrünstiger und mordender Tyrann gewesen war:

Stalin handelte nicht durch Überzeugung, Erklärung und geduldige Zusammenarbeit, sondern zwang den anderen seine Vorstellungen auf und forderte absolute Unterwerfung unter seine Meinung. Wer sich dieser Meinung widersetzte oder seinen eigenen Standpunkt und dessen Richtigkeit zu beweisen suchte, war dazu verurteilt, aus dem Führungskollektiv entfernt und schließlich moralisch und physisch vernichtet zu werden …

Stalin schuf den Ausdruck »Volksfeind«. Dieser Begriff machte es von vornherein überflüssig, die ideologischen Fehler eines oder mehrerer Männer in einer Auseinandersetzung nachzuweisen. Dieser Begriff ermöglichte unter Verletzung aller Normen der revolutionären Gesetzlichkeit den Einsatz brutaler Unterdrückung gegen jeden, der in irgendeiner Hinsicht nicht mit Stalin übereinstimmte … Der Begriff »Volksfeind« wurde gezielt zu dem Zweck eingeführt, solche Personen zu vernichten.

Es ist eine Tatsache, dass viele Personen, die später als Feinde der Partei und des Volks ausgelöscht wurden, zu Lenins Lebzeiten mit ihm zusammengearbeitet hatten.[1]

Dreiunddreißig Jahre waren vergangen, seit Leo Trotzki den Kampf gegen das Anwachsen der stalinistischen Bürokratie und ihre Usurpation der Macht der sowjetischen Arbeiterklasse aufgenommen hatte. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit Stalin die blutigen Säuberungen eröffnet hatte, in denen zwei Generationen revolutionärer Marxisten vernichtet wurden, die die Oktoberrevolution geführt und den sowjetischen Staat aufgebaut hatten. Sechzehn Jahre waren vergangen, seit ein GPU-Mörder Trotzki, dessen Namen der Kreml und seine stalinistischen Satellitenorganisationen mit einem Bann belegt hatten, einen Eispickel in den Schädel geschlagen hatte.

Aber plötzlich, im Februar 1956, kam die Bestätigung für Trotzkis unversöhnlichen Kampf gegen Stalin, die ganze bürokratische soziale Kaste und das bonapartistische System, das der tote Diktator verkörpert hatte. Wer sonst hatte die Wahrheit gesagt über Stalin und den Stalinismus? Wer sonst hatte die politischen und sozialen Wurzeln dieser ungeheuerlichen bürokratischen Tyrannei analysiert? Wer sonst die im Stalinismus verkörperten inneren Widersprüche aufgedeckt, die Unvereinbarkeit bürokratischer Herrschaft mit den objektiven Erfordernissen von Wirtschaftsplanung auf der Grundlage einer verstaatlichten Industrie entlarvt und die Unvermeidbarkeit einer politischen Revolution gegen die Bürokratie nachgewiesen? Das Gespenst Trotzkis und des Trotzkismus – nicht nur als großer Ankläger der Vergangenheit, sondern vor allem als bewusster Ausdruck des im sowjetischen Proletariat angestauten Hasses gegen die Bürokratie und als sein revolutionäres Kampfprogramm – verfolgte den Zwanzigsten Parteitag.

Es dauerte mehrere Wochen, bevor die Nachricht von Chruschtschows Rede über die Grenzen der Sowjetunion hinausdrang. Den Führern der jeweiligen stalinistischen Parteien verschlug es die Sprache, als sie den Text in den kapitalistischen Zeitungen lasen. Zunächst warteten sie auf ein offizielles Dementi des Kremls – eine technisch bedingte Frist, die es den kleinen stalinistischen Lumpen erlauben sollte, ihrer Mitgliedschaft und der Arbeiterklasse wie bisher ins Gesicht zu lügen. Aber es kam kein Dementi, und in den stalinistischen Organisationen brach heller Aufruhr aus.

Für die Vierte Internationale war der Zwanzigste Parteitag mehr als eine Bestätigung ihrer bisherigen Kämpfe. Er war ein überwältigender Beweis für ihr Programm und ihre Perspektiven und eine vernichtende Widerlegung aller Revisionisten, die dem Trotzkismus keine Zukunft gaben, außer als Anhängsel der angeblich so mächtigen stalinistischen Organisationen.

Chruschtschows Enthüllungen unterstrichen die Bedeutung der Spaltung von 1953 in der Vierten Internationale. Die objektive Rolle des Pablismus hatte eindeutig darin bestanden, die Vierte Internationale gerade dann politisch zu entwaffnen, als die Krise der sowjetischen Bürokratie rasch heranreifte und damit die Voraussetzungen schuf, den Stalinismus in der internationalen Arbeiterbewegung zu zerschlagen.

Mit seinen impressionistischen Theorien über »Generationen« deformierter Arbeiterstaaten und sich selbst reformierende Bürokratien hatte der Pablismus Illusionen über die Stalinisten geschürt und vom Kampf gegen sie abgelenkt. Seine Aufrufe zur organisatorischen Liquidation und politischen Kapitulation im Gewand einer besonderen Form des »Entrismus« bedeuteten in der Praxis, den Kampf gegen die Stalinisten gerade in dem Moment abzubrechen, wo sie am verwundbarsten waren.

Die Konsequenzen der Spaltung und der politische Abgrund, der den Trotzkismus vom Pablismus trennt, zeigten sich in den völlig unterschiedlichen Reaktionen des Internationalen Komitees und des Internationalen Sekretariats auf Chruschtschows Enthüllungen.

Als James P. Cannon am Abend des 9. März 1956 in Los Angeles eine Rede zum Thema »Das Ende des Stalinkults« hielt, erinnerte er mit vollem Recht an all jene zahllosen Revolutionäre, die im Kampf gegen die sowjetische Bürokratie gefallen waren. Achtundzwanzig Jahre zuvor hatte er selbst den Kampf für Trotzkis Ideen aufgenommen und war aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden. Jetzt, einen Monat nach seinem sechsundsechzigsten Geburtstag, erklärte er die Bedeutung von Chruschtschows Enthüllungen:

Vor drei Jahren starb Stalin, der blutrünstige Tyrann, der Verräter von Revolutionen und der Mörder an Revolutionären, ›der schlimmste Verbrecher in der Geschichte der Menschheit‹, leider im Bett. Vor zwei Wochen nutzten seine persönlich ausgewählten und handverlesenen Erben, die Nutznießer seiner ungeheuerlichen Tyrannei und Komplizen all seiner Verbrechen, die Gelegenheit des Zwanzigsten Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, um den Stalinkult zu verurteilen und seine zwanzigjährige diktatorische Herrschaft für falsch zu erklären.

Die Verlautbarung des Parteitags ist beschränkt, aber wahr. Das ist die erste Wahrheit von offizieller Seite aus dem Kreml seit über dreißig Jahren. Die Wahrheit bahnt sich ihren Weg nur langsam. Mark Twain sagte, eine Lüge kann um die halbe Welt reisen, während sich die Wahrheit erst die Schuhe anzieht. Aber die Wahrheit ist zäher als die Lüge und holt sie schließlich ein. Die Wahrheit setzt sich wieder durch – sogar in Moskau …

Ein Moskauer Korrespondent für Associated Press berichtet, dass er einen Parteitagsdelegierten fragte, was nun mit all den Statuen aus Mörtel von Stalin geschehen solle, die in Moskau und ganz Russland herumstehen, und der Delegierte antwortete: »Die Statuen können stehenbleiben.« Aber da irrt er sich. Sie werden eine Weile stehenbleiben, bis jemand auf die Idee kommt, dass die Sowjetunion dringend ein neues Straßenbauprogramm braucht und hier ohne jeden Grund dieser Mörtel herumsteht, den man kleinstampfen und zu Beton verarbeiten sollte. So werden die Stalin-Denkmäler schließlich enden …

Welche Gründe den sowjetischen Parteitag auch bewegt haben, die Absage an Stalin durch seine Erben ist eine große und gute Nachricht – die größte und beste Nachricht seit Stalins Tod vor drei Jahren. Das können wir sagen, ohne die Bedeutung des Parteitags zu überschätzen oder uns und anderen etwas über seine Beweggründe vorzumachen.

Das ist nicht das Ende des Stalinismus in der Sowjetunion und international. Weit entfernt davon. Die auf dem Parteitag versammelten Bürokraten, Sprösslinge dieses widerlichen Systems und Vertreter seiner privilegierten Nutznießer, hoffen den Stalinismus aufrechtzuerhalten, indem sie sich von Stalin und dem an seinen Namen geknüpften verhassten Kult lossagen. Und doch könnte die Absage an den Kult trotzdem den Anfang vom Ende dieses Systems bedeuten.[2]

Cannon wies die Ansicht zurück, Chruschtschows Rede deute auf eine beginnende Selbstreform hin, die das trotzkistische Programm für den gewaltsamen Sturz der Bürokratie hinfällig machen würde. Er wies darauf hin, dass Chruschtschow die politischen Grundlagen des Stalinismus verteidigte und sich weigerte, »die Konterrevolution gegen Lenins Erbe, das von Trotzki verteidigt wurde«, zu verurteilen.

Sie schwören dem Stalinkult ab, ohne die konkreten Verbrechen, die im Namen dieses Kults begangen wurden, beim Namen zu nennen und zu verurteilen, ohne die gesamte Theorie und Praxis des Stalinismus auf nationaler und internationaler Ebene seit Lenins Tod zurückzuweisen. Sie haben bisher kein Wort zu der langen scheußlichen Geschichte des Stalinismus in der internationalen Arbeiterbewegung gesagt.

Zu dieser Geschichte gehört der Verrat an der chinesischen Revolution 1926 und der Verrat an den deutschen Arbeitern 1933, der Hitlers Sieg mit all seinen schrecklichen Folgen für die deutsche Arbeiterklasse und die Völker Europas ermöglichte. Sie haben noch kein Wort gesagt über den Verrat an der spanischen Revolution 1936 und die Ermordung spanischer Revolutionäre durch stalinistische Gangster, die zu diesem Zweck dorthin geschickt wurden. Sie haben den Hitler-Stalin-Pakt, der den Zweiten Weltkrieg auslöste, bisher nicht erwähnt.

Geschwiegen haben sie über die sozialpatriotische Politik, die von allen mit der Sowjetunion verbündeten Parteien während des Zweiten Weltkriegs vertreten wurde. Mit dieser Politik schlossen sich die schändlichen Stalinisten unseres Landes dem Lager ihrer imperialistischen Herren an, wurden die Hauptbefürworter von Streikverzicht und die fanatischsten Streikbrecher. Im Dienste Stalins begrüßten sie es, als wir 1941 in Minneapolis gerichtlich verfolgt wurden – der erste Prozess unter dem Smith-Act –, und riefen die Gewerkschaften auf, unsere Verteidigung vor Gericht nicht zu unterstützen.

Der Moskauer Parteitag sagte kein Wort über den Verrat der europä­ischen Revolution unmittelbar nach dem Krieg. Die französischen Partisanen und die italienischen Partisanen hielten die Macht in den Händen, aber sie wurden von der Politik des Stalinismus entwaffnet. Die kommunistischen Arbeiter wurden durch die Politik der Stalinisten, die mit der Bourgeoisie zusammenarbeiteten, demoralisiert. Vertreter der Kommunistischen Parteien in Italien und Frankreich beteiligten sich an bürgerlichen Kabinetten und halfen, das Regime zu stabilisieren und die Revolution zu ersticken.

Eine weitere typische Manifestation des Stalinismus hier in den Vereinigten Staaten haben sie noch nicht zurückgewiesen, nämlich die gegenwärtige Politik der Kommunistischen Partei, die den Arbeitern rät, gute Demokraten zu sein und wie die Banker, Industriellen und Dixiecrats in die Demokratische Partei einzutreten und die Demokratische Partei zu wählen, um den diplomatischen Interessen der Kreml-Bande zu dienen.

Den Stalinkult haben sie zurückgewiesen, aber den Stalinismus und seine Verbrechen noch nicht. Das ist etwa so, als würde ein Berufsverbrecher hoffen, einer Anklage wegen Mordes zu entgehen, wenn er gesteht, dass er auf den Bürgersteig gespuckt hat.

Die Moskauer Bürokraten haben einen ersten Schritt gemacht – das kann man weder leugnen noch ignorieren. Etwas haben sie gestanden, aber noch nicht genug. Sie haben A gesagt, aber an dem B haben sie sich verschluckt. Aber im politischen Alphabet folgt B auf A, und wir können sicher sein, dass es zu gegebener Zeit gesagt werden wird. Wenn Stalins Erben nicht B sagen können, weil sie sich dann selbst zurückweisen müssten, dann werden die sowjetischen Arbeiter, deren brennender Hass gegen jede Erinnerung an das stalinistische Regime die Triebkraft hinter diesem ersten Abrücken ist, es für sie – und gegen sie – sagen.

Die Zurückweisung des Stalinkults auf dem Moskauer Parteitag ist ein Echo in den obersten bürokratischen Zirkeln auf den heranrollenden Donner der kommenden politischen Revolution in der Sowjetunion. Nichts unterhalb einer vollständigen politischen Revolution wird genügen. Nicht nur der Kult um Stalin als Person, sondern der Stalinismus als politisches System muss zurückgewiesen und gestürzt werden. Nur eine Revolution der sowjetischen Arbeiter kann dies leisten.

Das Ziel dieser Revolution ist die restlose Zurückweisung der stalinistischen Theorie des »Sozialismus in einem Land«, der Begründung für all die Verbrechen und all den Verrat, und die Wiedereinsetzung von Lenins und Trotzkis Programm des proletarischen Internationalismus, der Sturz des stalinistischen Polizeistaats in der Sowjetunion und die Wiederherstellung der Sowjetdemokratie, die Abschaffung der privilegierten Kaste, die vollständige Revision der Schauprozesse und Säuberungen und die Anerkennung ihrer Opfer. Dies sind die Forderungen und das Programm der politischen Revolution in der Sowjetunion.

Der Moskauer Parteitag war nicht die Revolution und bedeutet nicht, wie Dummköpfe und Verräter vielleicht behaupten, die Wiederherstellung der Sowjetdemokratie, sondern war ein Zwischenfall auf dem Weg dorthin. Eine stockende, zögernde Reaktion der sowjetischen Spitzen auf die mächtige revolutionäre Stoßkraft von unten, ein Reformversprechen im Rahmen des Polizeistaats, eine verbale Beruhigungsgeste in der Hoffnung, den Sturm zu bändigen – das ist die wirkliche Bedeutung der Aussagen des Moskauer Parteitags. Dies und nicht mehr ist seine Absicht.[3]

Der Druck feindlicher Klassenkräfte in den USA hatte bereits schwere Auswirkungen auf die Socialist Workers Party, deren Führer nach beinahe zehn Jahren ständiger politischer Reaktion, Wirtschaftsblüte und immer tieferer Isolation von den Massenorganisationen der Arbeiterklasse der Zukunft des revolutionären Kampfs in den Vereinigten Staaten immer skeptischer gegenüberstanden. Aber trotzdem, an diesem Freitagabend im März fand der alte Kämpfer einen aufrüttelnden Abschluss für seine Rede:

Uns eröffnen sich atemberaubende Perspektiven. Und es sind nicht Perspektiven für eine verschwommene und entfernte Zukunft, sondern für die Epoche, in der wir heute leben und kämpfen. Wir sollten Mut fassen, denn wir haben große Verbündete. Die russischen Arbeiter, die aus dem Zuchthaus des Stalinismus ausbrechen und wieder den Weg internationaler revolutionärer Aktion beschreiten, das große China und die revolutionäre Bewegung der gesamten kolonialen Welt, die mächtige Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten und Europa – diese Kräfte sind der unbesiegbare »Dreierbund«, der die Welt verändern und beherrschen und ihr Freiheit, Frieden und Sozialismus sichern kann.

Das Ende des Stalinkults ist ein Bestandteil der revolutionären Entwicklung auf Weltebene und bezeichnet den Beginn der Bestätigung Trotzkis. Seine Theorie der Entwicklung der Revolution bestätigt sich in den Weltereignissen in einem Land nach dem anderen – und jetzt erneut in Russland. Alles, was er vorhersah und uns, seine Schüler, lehrte, erweist das Leben als wahr. Und wir, die wir lange Jahre unter seinem Banner gekämpft haben, grüßen heute erneut seinen großen Namen. Wir sind uns sicherer denn je, dass wir recht hatten. Wir haben mehr Grund denn je, kompromisslos für das volle Programm des Trotzkismus zu kämpfen, und wir haben mehr Grund als je zuvor, unseres Siegs gewiss zu sein.

Unser Sieg wird mehr sein als der Sieg einer Fraktion oder Partei – denn der Fraktions- und Parteikampf war und ist Ausdruck des internationalen Klassenkampfs. Die Bestätigung und der Sieg des Trotzkismus werden gleichbedeutend sein mit dem Sieg der internationalen Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen die kapitalistischen Ausbeuter und stalinistischen Verräter und für die sozialistische Neugestaltung der Welt.[4]

Im selben Ton wie Cannons Rede war eine Resolution gehalten, die das Nationalkomitee der SWP im April 1956 verabschiedete. Ihr Titel lautete »Das neue Stadium in der russischen Revolution«. Sie richtete sich eindeutig gegen die versöhnlerische Haltung der Pablisten gegenüber den Stalinisten:

Jede neue Enthüllung, die das Augenmerk der ganzen Welt darauf lenkt, dass nur der Trotzkismus die Wahrheit über den Stalinismus gesagt hat, trifft vernichtend die vereinzelten Gruppen, die den Trotzkismus für geschichtlich überholt und den Stalinismus für die Kraft der Zukunft erklärt haben. Die verräterische Politik dieser Gruppen läuft darauf hinaus, im Wettlauf mit den schlimmsten stalinistischen Lumpen Rechtfertigungen für die Bürokratie zu suchen und die verzweifelten Rehabilitierungsversuche angesichts des Drucks der Massen als »Selbstreform« der Bürokratie zu verkaufen. Die Ideologie Deutschers, die die sowjetischen Massen ausklammert, als sei die Bürokratie eine rationale autonome Macht, erweist sich als am besten geeignet zur Unterstützung der Demagogie der Chruschtschows.[5]

In einer zweiten Rede, die Cannon am 15. Juni 1956 über Chruschtschows Enthüllungen hielt, setzte er den Angriff auf die pablistische Perspektive fort und bestand darauf, dass die Zugeständnisse der sowjetischen Bürokratie nur ein verzweifelter Versuch waren, dem unvermeidbaren und unaufhaltsamen Aufstand der sowjetischen Massen die Spitze zu brechen:

Der unwiderstehliche Druck der sowjetischen Arbeiter war die Kraft, die hinter dem Zwanzigsten Parteitag stand. Das, Genossen, ist der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse. Die auf diesem Parteitag versammelten Bürokraten hatten Warnsignale eines nahenden Sturms registriert und begannen, auf diese Signale zu reagieren. Der Aufstand der ostdeutschen Arbeiter im Juni 1953, dann einen Monat später ein Generalstreik im Sklavenarbeitslager Workuta – diese großartigen Aktionen unter den Gewehren des Polizeistaatsterrors, bei denen Arbeiter ihr Leben für einen Streik einsetzten, kündigten den nahenden revolutionären Sturm an, genau wie die Generalstreikbewegung der russischen Arbeiter 1905 die erste Revolution gegen den Zaren ankündigte …

Wir setzen unser ganzes Vertrauen in diese revolutionäre Bewegung der sowjetischen Arbeiter und keinen Funken Vertrauen in die guten Absichten der bürokratischen Erben Stalins. Wenn man die Diskussion über die neuen Ereignisse verwirren und in der beginnenden Diskussion die Wahrheit vergewaltigen will, dann sagt man, dass sich die sowjetischen Bürokraten bereits reformiert hätten oder dabei seien, dass sie »milder« geworden seien und nur in Ruhe gelassen werden müssten, damit allmählich alle verhassten Merkmale des Stalinismus verschwänden und wieder eine demokratische Arbeiterregierung verwirklicht würde.

Wenn man ihnen vertraut und sie in Ruhe lässt, dann wird im Wesentlichen alles beim Alten bleiben. Diese Bürokraten sind die privilegierte Oberschicht. Sie werden ihre Privilegien niemals freiwillig aufgeben. Sie müssen gestürzt werden, so wie jede privilegierte Gruppe in der Geschichte gestürzt werden musste. Trotzki bemerkte zu diesem Thema in seinem großen Werk »Verratene Revolution« vor zwanzig Jahren: »Kein Teufel hat jemals freiwillig seine Krallen beschnitten!«[6]

Die Pablisten reagierten ganz anders auf die Abkehr von Stalin. Ihre ausschließliche Beschäftigung mit den Konflikten innerhalb der Bürokratie – die ihnen immer als Sprungbrett in das Reich der spekulativen Fantasie diente – nahm 1956 besessenere Formen an als je zuvor. Cannon sagte sehr klar, dass die Krise der Bürokratie ein Ausdruck der revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse war, dass die Zugeständnisse ein Ergebnis der Angst der Bürokratie waren, die am Stalinismus festhielt, und dass die Arbeiterklasse nach wie vor alle Vertreter dieser privilegierten Schicht politisch vernichten und physisch absetzen musste, was den Aufbau einer revolutionären, d. h. trotzkistischen Führung erforderte. Die Pablisten dagegen spannen feine theoretische Netze um das angebliche revolutionäre Potenzial des einen oder anderen Teils der stalinistischen Bürokratie.

Im »Übergangsprogramm« hatte Trotzki darauf hingewiesen, dass die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse leicht zu Spaltungen innerhalb der Bürokratie führen könne. Ihre politische Polarisierung könne von neofaschistischen Elementen (»Butenko«) bis hin zu solchen, die revolutionäre Tendenzen an den Tag legten (»Ignaz Reiss«), alles hervorbringen.

Aber diese Beobachtung war völlig zweitrangig. Sie war Trotzkis durchgehender Betonung des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Proletariat und Bürokratie und seinem Beharren auf der konterrevolutionären Rolle der Bürokratie untergeordnet.

Er stellte nicht nur fest, dass »die revolutionären Elemente in der Bürokratie … eine verschwindende Minderheit bilden«, die die sozialistischen Interessen des Proletariats nur »passiv« widerspiegeln können, sondern warnte auch: »Die faschistischen, überhaupt konterrevolutionären Elemente, deren Zahl ständig wächst, bringen mit noch größerer Folgerichtigkeit die Interessen des Weltimperialismus zum Ausdruck.«[7]

Jedenfalls spielten Aussichten darauf, ob innerhalb der Bürokratie vereinzelte Elemente auftauchen würden, die mit der Arbeiterklasse sympathisierten, oder nicht, bei der Formulierung von Strategie und Programm der Vierten Internationale keine bedeutende Rolle.

Die Pablisten jedoch gründeten ihre Strategie nicht auf das revolutionäre Proletariat, sondern auf die politische Widerspiegelung seines Kampfs in den Gipfeln der sowjetischen Bürokratie. Was Mandel und Pablo anging, so beschränkte sich die historische Rolle der Arbeiterklasse darauf, Druck auf die Schicht auszuüben, die sie für die wesentliche historische Kraft zur Verwirklichung des Sozialismus hielten – die Bürokratie. Ein Leitartikel, der im März 1956 in der pablistischen Zeitschrift »Quatrième Internationale« erschien, fasste die Ansichten der Revisionisten zusammen:

Die Bürokratie wird in verschiedenen Formen von einer sowjetischen Gesellschaft, die sich vom Joch des Stalinismus befreit, unter Druck gesetzt. Unter dem Einfluss dieses zunehmenden Drucks beginnt ihre Spitze sich zu differenzieren. Der weitere Verlauf dieses Prozesses wird durch das Zusammenwirken dieses Drucks, der direkten Aktion der Massen und des Kampfs der Tendenzen innerhalb der Bürokratie bestimmt werden.

Diese Entwicklung ist nur der Anfang. Es wäre ein unverzeihlicher Irrtum, zu glauben, diese Entwicklung werde ihren bisherigen Weg geradeaus fortsetzen und rasch in die Wiederherstellung wirklicher proletarischer Demokratie in der UdSSR und in die »Rückkehr zu Lenin« in der Innen- und Außenpolitik münden. Dies wird erst in einem Stadium möglich sein, wo die Politisierung der Massen in direkte Aktion übergeht und sich trifft mit einer schärferen Differenzierung, einem tatsächlichen Bruch zwischen dem entstehenden revolutionären Flügel und dem immer isolierteren thermidorianischen Flügel der Bürokratie. Dieser Prozess der politischen Revolution wird seinen Höhepunkt finden im Sturz des bürokratischen Regimes und der Wiederherstellung der Sowjetdemokratie.[8] (Betonung im Original)

Dies war nicht die trotzkistische Theorie der politischen Revolution, sondern eine Theorie der Selbstreform der Bürokratie, die durch etwas zusätzlichen Druck des Proletariats begünstigt wird. Pablo und Mandel tischten die »direkte Aktion der Massen« – eine zweckdienlich flexible Phrase, die praktisch alles bedeuten konnte – auf einer Ebene mit dem »Kampf der Tendenzen innerhalb der Bürokratie« auf. Die »direkte Aktion der Massen« führt zu, nein, »trifft sich« mit den inneren Auseinandersetzungen zwischen dem »entstehenden revolutionären Flügel« und dem »immer isolierteren thermidorianischen Flügel« der Bürokratie, mit dem Ergebnis der Wiederherstellung der Sowjetdemokratie.

Diese verqueren Formulierungen, die nicht im Geringsten der Einfachheit und Direktheit glichen, mit der Trotzki die Mechanik der politischen Revolution erklärt hatte, zielten darauf ab, die trotzkistische Bewegung nicht auf die Mobilisierung der Arbeiterklasse zum Sturz der Bürokratie zu konzentrieren, sondern auf die Suche nach liberalen Verbündeten in den Reihen der privilegierten Kaste.

Unmissverständlich zeigte sich der kapitulantenhafte Charakter dieser Erklärung in folgendem Absatz: »Die Vierte Internationale begrüßt die Resultate des Zwanzigsten Parteitags, macht sich aber keine Illusionen. Sie weiß, dass der Kampf für die wirkliche Erneuerung der proletarischen Demokratie ein langer Kampf sein wird. Aber die Vierte Internationale hat bewiesen, dass sie die dazu erforderliche Zähigkeit besitzt.«[9]

In Wirklichkeit bestand das ganze Dokument aus nichts anderem als Wunschvorstellungen. Es versuchte, die Sache so darzustellen, als ginge es bei der Wiederherstellung der Sowjetdemokratie darum, zwischen einer wachsenden reformerischen Tendenz der Bürokratie und dem Druck der sowjetischen Arbeiterklasse das richtige Verhältnis auszubalancieren.

Ernest Mandels unerreichte Fähigkeit, gesellschaftliche Grundwidersprüche zu verschleiern und seine journalistischen Impressionen zu höchst komplizierten politischen Planspielen für die Wiederbelebung der sowjetischen Bürokratie auszubauen, fand ihren vollendeten Ausdruck in seinem Bericht vor dem Siebzehnten Plenum des pablistischen Internationalen Exekutivkomitees im Mai 1956.

Gleich einem Goldsucher schürfte Mandel in der sowjetischen Bürokratie nach den liberalen Tendenzen, denen man die entscheidende historische Rolle in der Erneuerung der Sowjetunion zugeschrieben hatte. Peinlich sichtete er die vielfältigen Tendenzen in der Bürokratie, »Linke« und »Rechte«, von »Mikojan-Malenkow« bis »Kaganowitsch-Molotow«, und verkündete:

Sicherlich kann man die Bürokratie nicht als eine »reaktionäre Masse« begreifen, die von der Arbeiterklasse gleichzeitig und als Ganze angegriffen werden muss. Diese mechanistische und antimarxistische Position ist das Gegenteil von allem, was Trotzki lehrte. Je mehr der Druck der Massen zunimmt (und parallel dazu der Druck der privilegiertesten Schichten), desto stärker wird sich die Bürokratie, einschließlich ihrer Führer, in verfeindete Tendenzen aufsplittern. Im Verlauf dieses Prozesses wird sich eine Tendenz »Reiss« herausbilden, die sich aufrichtig wieder in die leninistische Tradition stellen wird. Sicherlich kann man die Mikojan-Tendenz nicht als eine solche Strömung bezeichnen, sie liefert bestenfalls ein kulturelles Medium, in dem sich die Ideen einer solchen Strömung entwickeln können. Es ist unmöglich, das Verhalten jedes einzelnen Kreml-Führers im Verlaufe dieses Prozesses vorherzusagen; ausgeschlossen ist jedoch, dass die Rückkehr zur Demokratie auf allmählichem, kaltem Wege vollzogen wird, ohne offene Aktion der Massen gegen die Bürokratie, ohne Spaltungen in der KP und in der Bürokratie selbst.

Die Ereignisse haben vollständig die Richtigkeit der Ansicht bewiesen, die wir seit 1953 zur Frage der entscheidenden Rolle des Drucks der Massen auf die innere Entwicklung der UdSSR vertreten haben. Einige unserer sogenannten orthodoxen Kritiker haben versucht, diese Ereignisse als das Ergebnis interner Meinungsverschiedenheiten der Bürokratie zu erklären. Heute ist klar, dass diese Position nicht haltbar ist und in Wirklichkeit selbst Tendenzen zur Kapitulation vor dem Stalinismus fördert.[10]

Weit davon entfernt, ihren revisionistischen Hafen zu verlassen, blieben die Pablisten ausdrücklich in den Positionen verankert, die zu der Spaltung von 1953 geführt hatten, und erklärten, ihre Haltung zu Chruschtschow sei eine Fortsetzung ihrer alten Perspektive. Und darin hatten sie recht. Die Gräben zwischen dem orthodoxen Trotzkismus und dem Pablismus waren 1956 tiefer geworden. Der Aufstand der polnischen Arbeiterklasse im Herbst desselben Jahres, unmittelbar gefolgt von der ungarischen Revolution, bewies darüber hinaus, dass die Linie der Pablisten Verrat an der Arbeiterklasse war.


[1]

Moscow Trials Anthology, London 1967, S. 17–18.

[2]

James P. Cannon, Speeches for Socialism, New York 1971, S. 143–146.

[3]

Ebd., S. 149–151.

[4]

Ebd., S. 156–157.

[5]

National Education Department Socialist Workers Party, Education for Socialists: The Struggle to Reunify the Fourth International (1954–63), Bd. 2, Februar 1978, S. 31.

[6]

Cannon, Speeches for Socialism, S. 171–173.

[7]

Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 121.

[8]

SWP, The Struggle to Reunify, Bd. 2, S. 54.

[9]

Ebd., S. 56.

[10]

Ebd., S. 59.