David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Das »Umgruppierungs«-Fiasko der SWP

Die veränderte Haltung der Socialist Workers Party gegenüber dem pablistischen Internationalen Sekretariat – d. h. ihr Wunsch nach Gesprächen, um die Spaltung auf der Grundlage einer »konkreten« Übereinstimmung über aktuelle Aufgaben beizulegen, ohne die grundlegenden Differenzen über Perspektiven und Methoden, die zu der Explosion von 1953 geführt hatten, theoretisch und politisch aufzuarbeiten – war unauflöslich mit einer abrupten Wegwendung von ihrer traditionellen proletarischen Orientierung verbunden. Mit der sogenannten »Umgruppierungspolitik« schlug die Socialist Workers Party im Dezember 1956 einen Kurs ein, der in das vergiftete Milieu des amerikanischen Mittelklasseradikalismus und weg von der Arbeiterklasse und dem Kampf für den Trotzkismus führte.

Den Zusammenhang zwischen der Umgruppierungspolitik der SWP innerhalb der USA und ihrem neuen Interesse an einer Wiedervereinigung mit den Pablisten brachte Cannon in einem Brief an das Politische Komitee zum Ausdruck, in dem er am 12. März 1957 seine positive Antwort auf Goonewardenes Diskussionsvorschläge rechtfertigte:

Zu einer Zeit, wo wir für die Umgruppierung der Kräfte in unserem Land und in England eintreten und sogar alle möglichen Formen der Zusammenarbeit und Vereinigung mit Tendenzen erwägen, die sich eventuell in Richtung Revolution entwickeln werden, würde es uns sicher vor einige Probleme stellen, zu erklären, warum wir uns gegenüber einer internationalen Tendenz, die uns in ihren politischen Positionen weitaus näher steht, weigern, über eine Vereinigung auch nur zu reden.

Nein, Gespräche können wir nicht verweigern. Mein Brief an Goonewardene nimmt die Situation so, wie sie ist, und bietet eine Diskussion über die Frage der Einheit an.[1]

Den Hintergrund der Umgruppierungspolitik bildete die verheerende Krise, die nach der Enthüllung von Stalins Verbrechen und der brutalen Niederschlagung der ungarischen Revolution in der amerikanischen Kommunistischen Partei wütete. Die KP der USA teilte alle Laster ihrer stalinistischen Schwesterorganisationen, nur fehlte ihr deren einziger rettender Vorzug – eine Massenbasis in der Arbeiterklasse. Jahrzehntelang hatte sie Stalins Verbrechen sklavisch unterstützt. In direkter Zusammenarbeit mit der GPU, der sowjetischen Geheimpolizei, hatte sie an der Ermordung Leo Trotzkis mitgewirkt. Sie hatte das FBI bei der Organisierung der staatlichen Komplotte unterstützt, die zur Inhaftierung von SWP-Führern während des Zweiten Weltkriegs führten.

Bei ihrer Verteidigung der Verrätereien der Kremlbürokratie trat die KP selbst die elementarsten Interessen der amerikanischen Arbeiterklasse mit Füßen. Der Begriff »stalinistischer Lump« für KP-Funktionäre in den Gewerkschaften, die die einfachen Mitglieder entsprechend den außenpolitischen Interessen der sowjetischen Bürokratie zynisch ausverkauften und sich in ihren Methoden kaum von den Mafia-Ganoven unterschieden, mit denen die Stalinisten häufig zusammenarbeiteten, fand Eingang in die Alltagssprache militanter Arbeiter.

Die zahllosen Verrätereien der Stalinisten besonders während des Zweiten Weltkriegs, als sie den Streikverzicht guthießen und durchsetzten, erzeugten unter breiten Schichten von Arbeitern gewaltiges Misstrauen und Hass, den sich rechte Bürokraten wie Reuther und Murray zunutze machen konnten. Die reaktionären Apostel des Antikommunismus in der Arbeiterbewegung konnten sich keine bessere Waffe wünschen als die Taten der Kommunistischen Partei.

Es gab viele mutige und aufopferungswillige KP-Mitglieder, die der Arbeiterklasse aufrichtig ergeben waren. Aber mit Beginn des Kalten Kriegs, der Hexenjagd von McCarthy und der Zerstörung des umfangreichen stalinistischen Apparats in den Gewerkschaften wurden die politisch aufrichtigen Kämpfer der KP entweder aus den Betrieben hinausgetrieben oder konnten sich nur halten, indem sie ihre politische Identität verbargen. Schon vor 1956 war die Kommunistische Partei eine demoralisierte Organisation. Derart fortgeschritten war die Verwesung der KP-Führung, dass sie es nicht fertigbrachte, einen prinzipiellen Kampf gegen McCarthys ­Politik aufzunehmen. Die übelste Begleiterscheinung der Entkräftung der KP war ihre Weigerung, die Rosenbergs auf einer Klassengrundlage zu verteidigen.

Zwei Jahrzehnte systematischer Klassenzusammenarbeit hatten einen Großteil der KP-Mitglieder in wenig mehr als pflichtbewusste Liberale verwandelt, die die politische Hauptaufgabe amerikanischer Kommunisten darin sahen, Wahlwerbung für die Kandidaten der Demokratischen Partei zu betreiben.

Die Ereignisse von 1956 legten die Kommunistische Partei in Trümmer. Tausende von Mitgliedern, die in der schlimmsten Hexenjagd-Periode noch verbissen an ihrer Mitgliedschaft festgehalten hatten, waren entsetzt, als Stalins Verbrechen enthüllt wurden. Die Invasion Ungarns führte dann zu Massenaustritten. Die KP-Führung spaltete sich in zwei Haupttendenzen. Die Fraktion der unerschütterten Kreml-Lakaien, angeführt von William Z. Foster (und unterstützt von Gus Hall), wartete einfach auf weitere Anweisungen Chruschtschows und war gegen jede Diskussion über die Krise innerhalb der stalinistischen Organisationen.

Die andere Fraktion unter dem Herausgeber des »Daily Worker«, John Gates, war zwar für eine ausgiebige Diskussion, wandte sich aber nicht vom Standpunkt des Marxismus, sondern von dem der kleinbürgerlichen Demokratie aus gegen den Stalinismus. Unter Stalinismus verstand Gates nicht den Verrat der sozialistischen Weltrevolution durch eine bürokratische Kaste, sondern die Unterdrückung demokratischer Rechte. Er verwechselte also eine Seite des Stalinismus mit seinem Wesen. Seine politische Orientierung und die seiner Anhänger richtete sich nicht auf den Aufbau einer marxistischen Partei, sondern auf die völlige Verwerfung der sozialistischen Revolution.

Die Unfähigkeit der Gates-Fraktion, einen prinzipiellen Kampf gegen den Stalinismus zu führen, ihre Stimmung persönlicher Verzweiflung und offenen Abschwörens des Klassenkampfs gegen den Kapitalismus stieß die wenigen proletarischen Elemente ab, die es innerhalb der KP noch gab, und spielte den standfesten Lakaien der Kremlbürokratie in die Hände. Letztere, Foster, Hall und Harry Winston, bezichtigten die Gates-Fraktion, »Liquidatoren« zu sein, die einfach eine Ausrede suchten, um der Arbeiterbewegung den Rücken zu kehren. Und trotz der verlogenen und zynischen Hintergedanken der alten stalinistischen Lumpen lag in diesem Vorwurf mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.

Unter den spezifischen Bedingungen in den USA eröffnete das Ausein­anderbrechen der Kommunistischen Partei als solches jedoch keine unmittelbaren Aussichten darauf, in großem Maßstab Arbeiter zu rekrutieren. (Im Kampf gegen Cochran hatte Cannon nachgewiesen, dass die breite Schicht stalinistischer Arbeiter, die in den dreißiger und vierziger Jahren Bestandteil der Vorhut in den Gewerkschaften gewesen war, nicht mehr existierte und dass Cochran Pablos prostalinistische Orientierung in Wirklichkeit zynisch als Deckmantel benutzte, um den Kampf für den Aufbau einer revolutionären Partei in der Arbeiterklasse über Bord zu werfen.)

Aber die wesentliche Bedeutung der stalinistischen Krise bestand auch gar nicht darin, ob sie unmittelbare Möglichkeiten eröffnete, in großem Maßstab aus der KP der USA zu rekrutieren. Vielmehr war das Auseinanderbrechen der KP ein Wendepunkt in dem langen Kampf der Pioniere des Trotzkismus in Amerika und schuf bislang einmalige Bedingungen, in der Arbeiterklasse und unter sozialistisch gesonnenen Elementen der Mittelklasse und der Intellektuellen politische Klarheit zu schaffen.

Um die neue Generation von Arbeitern, Studenten und Jugendlichen zu erziehen, die durch die unlösbaren internationalen Widersprüche des amerikanischen Imperialismus unweigerlich in den politischen Kampf geworfen werden würden, hätte die SWP alle theoretischen und politischen Lehren verteidigen müssen, für die die internationale Bewegung Trotzkis seit 1923 gekämpft hatte. Die SWP stand also vor der Aufgabe, die historische und politische Bedeutung des Kampfs auf Leben und Tod zu erklären, den Trotzki und seine Anhänger gegen den Stalinismus geführt hatten. Die SWP hätte ein geduldiges und pädagogisches Herantreten an die verschiedenartigen Kräfte erarbeiten müssen, die sich gegen den Stalinismus aussprachen, durfte sich jedoch in keiner Weise an deren Verwirrung, Ausflüchte und Rechtfertigungen anpassen. Vor allem durfte sie nicht zulassen, dass im Namen einer oberflächlichen Zurückweisung von Stalin, dem individuellen Tyrannen, das politische Wesen des Stalinismus weitergeführt wurde, d. h. die Zurückweisung des Weltsozialismus zugunsten der friedlichen Koexistenz und die Usurpation der politischen Macht des Proletariats durch die privilegierte Bürokratie.

Mit anderen Worten, die SWP konnte nur dann einen sicheren Zugang zu den fortgeschrittensten Arbeitern finden, wenn sie den historischen Weg ihrer eigenen Entwicklung zurückverfolgte, die alten Grundlagen festigte und auf ihnen aufbaute. Es war nicht falsch, eine umfassende und ausführliche Diskussion mit allen Kräften vorzuschlagen, die durch das Aufbrechen der Kommunistischen Partei in Bewegung geraten waren, wie verwirrt sie auch sein mochten. Aber diese Diskussion musste darauf ausgerichtet sein, in den fortgeschrittenen Teilen der Arbeiterklasse Klarheit zu schaffen.

Es war daher notwendig, zu erklären, weshalb die Trotzkisten und nur die Trotzkisten den Stalinismus auf prinzipieller Grundlage bekämpft hatten, und wie dieser Kampf mit der historischen Bestimmung der amerikanischen Arbeiterklasse zusammenhing. Außerdem musste man erklären, weshalb so viele amerikanische Radikale unabhängig von ihren Absichten so leicht auf den Stalinismus hereingefallen waren und seine Verbrechen, wenn sie sich nicht direkt daran beteiligten, zumindest gutgeheißen hatten.

Aber mit ihrer Umgruppierungspolitik wandte sich die SWP mit ihren Argumenten nicht an die Arbeiterklasse, um deren Erziehung sie sich hätte bemühen müssen, sondern an die Gates-Fraktion, die Intellektuellen, Radikalen und »linken« Liberalen aus dem Umfeld der KP, die durch deren Kollaps entwurzelt worden waren. Aus diesem Grund war die Herangehensweise der SWP falsch. Anstatt den Kampf für trotzkistische Prinzipien zu verstärken, die jetzt von großen internationalen Ereignissen bestätigt wurden, begann die SWP, ihre trotzkistische Identität herunterzuspielen, um den verlorenen Exstalinisten und ihren radikalen, beinahe-radikalen und liberalen Freunden nicht auf die empfindlichen Hühneraugen zu treten.

Kleinliche organisatorische Berechnungen anstelle prinzipieller Überlegungen wurden zur Grundlage der Umgruppierungspolitik der SWP. Sie ließ ihr ursprüngliches Beharren fallen, Voraussetzung für eine Umgruppierung sei politische Klärung. Die Umgruppierung wurde zu einem Mittel, die SWP politisch und ideologisch dem formlosen Milieu des amerikanischen Radikalismus und seinen kleinbürgerlich-demokratischen Perspektiven anzupassen.

Das Schlimmste war, dass die Art und Weise, wie die SWP die Umgruppierung definierte, einen klaren Rückzug von der Auffassung bedeutete, dass die SWP die revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse war, die einzig wirkliche Vertreterin ihrer historischen Interessen, und dass ihr die Aufgabe oblag, die Krise der revolutionären Führung zu lösen.

Die liquidatorische Perspektive, die der Umgruppierungspolitik zugrunde lag, wurde auf der 17. Nationalen Konferenz der SWP im Juni 1957 klar und deutlich ausgesprochen. Farrell Dobbs stellte in seinem politischen Bericht in Aussicht, dass eine Umgruppierung all die zersplitterten Überbleibsel der alten radikalen Elemente, denen es aufgrund der stalinistischen Krise in ihren angestammten Nestern ungemütlich geworden war, in einer neu zu schaffenden revolutionären Partei vereinen werde. »Wir machen keinen Fetisch aus der Organisationsfrage«, erklärte Dobbs. »Was die letztendliche Form der Partei angeht, die aus dem Umgruppierungsprozess hervorgeht, so sind wir völlig flexibel.«[2]

Cannon lieferte die theoretische Rechtfertigung für die liquidatorische Politik der SWP. »The Militant« berichtete über die Konferenz:

Cannon stellte fest, dass die revolutionäre Umgruppierung von 1917–1919, die von der Russischen Revolution angespornt und inspiriert wurde, Elemente aus allen organisierten radikalen Tendenzen in der jungen Kommunistischen Partei der USA zusammenführte – aus der Sozialistischen Partei, der IWW und sogar der Socialist Labor Party. Er erinnerte daran, dass das sozialistische Wirken von Louis C. Fraina, der zu den einflussreichsten Figuren der ersten Jahre der amerikanischen kommunistischen Bewegung zählte, in der sektiererischen SLP begonnen hatte.[3]

Cannons Argumente stützten sich auf eine falsche und widersinnige Analogie. Die Situation nach 1956 mit der Situation von 1917 zu vergleichen, bedeutete nicht nur, seiner Fantasie die Zügel schießen zu lassen. Es war eine Fälschung der Geschichte und eine Rechtfertigung des Liquidatorentums. Die glühenden Arbeiteragitatoren, Antikriegskämpfer und idealistischen sozialistischen Intellektuellen, die, angewidert vom Opportunismus der Sozialistischen Partei und begeistert vom Beispiel des Bolschewismus, die amerikanische Kommunistische Partei gründeten, konnte man überhaupt nicht vergleichen mit den ausgelaugten, zynischen, selbstgefälligen und im Allgemeinen gut situierten Anti-Stalin-Stalinisten, Exstalinisten, Extrittbrettfahrern, Ex-Wallace-Anhängern und wohlmeinenden Liberalen, mit denen sich die SWP jetzt umgruppieren wollte.

Außerdem vollzog sich die »Umgruppierung« von 1917–1919 unter dem Einfluss des größten revolutionären Aufschwungs des internationalen Proletariats in der Weltgeschichte. Die damalige Umgruppierung in den Vereinigten Staaten war der direkte Ausdruck einer organischen Differenzierung in der Arbeiterbewegung. Das neue Stadium des Klassenkampfs, das mit der Verwandlung der USA in die weltweit führende imperialistische Macht verbunden war, versetzte dem revolutionären Syndikalismus der IWW und den Sozialismusideen Debs’ den Todesstoß.

Cannons Rolle, die Umgruppierungspolitik einzuleiten und zu unterstützen, bezeichnete das politische Ende seines langen Kampfs für den Aufbau der trotzkistischen Bewegung. Wenn man Cannons Haltung zur Umgruppierung in den Rahmen seiner politischen Biografie stellt, wird klar, dass sie nicht einfach ein episodischer Fehler war. Sie bedeutete einen Bruch mit den politischen Grundideen, von denen seine Tätigkeit in der Arbeiterbewegung seit 1918/19 angeleitet worden war, als er erkannt hatte, dass in den Vereinigten Staaten eine Partei gebildet werden musste, wie Lenin sie in Russland aufgebaut hatte.

Cannons Entwicklung zum Parteiführer, zum amerikanischen Bolschewiken, vollzog sich durch eine Kritik sowohl des Syndikalismus der IWW als auch von Debs’ Konzeption einer sozialistischen Partei. Cannon wurde zum unversöhnlichen Gegner einer »allumfassenden« Partei, die jedem offensteht, der sich irrtümlicherweise für einen Sozialisten hält.

Sozialismus hatte für Cannon Klassenkrieg gegen den Kapitalismus bedeutet, und auf dieser Grundlage musste die Partei, die sich zum Kampf für den Sozialismus bekannte, neue Mitglieder rekrutieren und ihre Kader erziehen. In den organisatorischen Grundsätzen, die die SWP auf ihrer Gründungskonferenz 1938 beschlossen hatte, hieß es:

Die revolutionäre marxistische Partei lehnt nicht nur die Willkür und den Bürokratismus der Kommunistischen Partei ab, sondern auch die falsche und trügerische »Allumfassendheit« der Sozialistischen Partei von Thomas-Tyler-Hoan, die eine Schwindelei und ein Betrug ist. Die Erfahrung hat ein für alle Mal gezeigt, dass diese »Allumfassendheit« die Partei im Allgemeinen und den revolutionären Flügel im Besonderen lähmt … Die SWP wird nur in dem Sinne umfassend sein, dass sie diejenigen in ihre Reihen aufnimmt, die ihr Programm annehmen, und denjenigen den Zutritt verweigert, die ihr Programm ablehnen.[4]

Noch 1955 betonte Cannon in einem Artikel zu Ehren von Debs’ hundertstem Geburtstag, dass der größte Fehler des alten Pioniers seine falsche Parteikonzeption gewesen war, sein fehlendes Verständnis dafür, dass es keine »allumfassende« revolutionäre Organisation geben kann, seine Duldung opportunistischer Tendenzen innerhalb der Partei und ihrer Führung und sein Ausweichen vor Fraktionskämpfen.

Leidenschaftlich argumentierte Cannon, dass Debs’ »falsche Partei­theorie einer der am teuersten bezahlten Fehler war, den je ein Revolutionär in der gesamten Geschichte der amerikanischen Bewegung gemacht hat«. Mit einer Partei, die sich auf Debs’ »allumfassende« Konzeption begründete, konnte man unmöglich den Kapitalismus stürzen. »Im Lichte dessen, was wir aus der Russischen Revolution und in ihrer Folgezeit gelernt haben, ist es jetzt unsere Auffassung, dass der Kampf für den Sozialismus zu neun Zehnteln aus dem Kampf gegen den bürgerlichen Einfluss in den Arbeiterorganisationen einschließlich der Partei besteht.«[5]

Die Gründung der Kommunistischen Partei, erklärte Cannon,

war nicht einfach ein Bruch mit der alten Sozialistischen Partei, sondern, was noch wichtiger ist, ein Bruch mit der Auffassung, es könne eine gemeinsame Partei von Revolutionären und Opportunisten geben. Das war ein Neubeginn für den amerikanischen Sozialismus, der historisch weitaus wichtiger war als alles Vorangegangene einschließlich der Schaffung der Sozialistischen Partei 1901. Es gibt kein Zurück zu den veralteten und diskreditierten Experimenten der Vergangenheit …

Für den Kampf gegen die Verbrechen und Verrätereien des Stalinismus, der die Voraussetzung für den Aufbau einer aufrechten revolutionären Partei ist, braucht man Waffen aus einem anderen Arsenal. Auch hier sind die Russen unsere Lehrer. Die programmatischen Waffen für den Kampf gegen den stalinistischen Verrat wurden uns von Trotzki gegeben, dem ebenbürtigen Nachfolger Lenins.

Es kann keine Rückkehr zur Vergangenheit der amerikanischen Bewegung geben. Im Zusammenhang mit Debs’ hundertstem Geburtstag haben ein paar Scharlatane, die den Wert einer sozialistischen Bewegung an ihrer momentanen zahlenmäßigen Stärke messen, in der alten Sozialistischen Partei, mit der man zu Debs’ Zeiten so viele Stimmen gewinnen konnte, neue Vorzüge entdeckt und ein erneutes Experiment dieser Art gefordert. Neben ihrer Wertlosigkeit als Ratschlag für die sozialistische Avantgarde ist diese Empfehlung eine Beleidigung von Debs’ Andenken.[6]

Und doch kehrte Cannon mit der Umgruppierungspolitik gerade zu diesen politischen Auffassungen zurück, deren Bankrott er so klar analysiert hatte. Am 1. März 1958, als die Umgruppierungspolitik rapide zu einer schäbigen Wahlposse degenerierte, teilte Cannon eine Plattform mit Vincent Hallinan, einem alten stalinistischen Trittbrettfahrer, der 1952 bei den Präsidentschaftswahlen für die kapitalistische Progressive Partei kandidiert hatte, und hielt eine Rede zum Thema »Vereinte Sozialistische Aktion 1958 und die Zukunftsaussichten amerikanischer Sozialisten«. Cannons Rede war ein sentimentaler und nostalgischer Aufruf zur Rückkehr in die Vergangenheit.

Das grundlegende Ziel des Neuaufbaus für die Zukunft – und darin sind sich, so denke ich, alle Anwesenden einig – das grundlegende Ziel, das wir alle anstreben, ist eine Umgruppierung der verstreuten sozialistischen Kräfte, damit sich schließlich alle aufrechten Sozialisten in einer gemeinsamen Parteiorganisation zusammenschließen. Aber das kommt nicht von heute auf morgen. Die Erfahrung der letzten beiden Jahre lehrt, dass es einige Zeit dauern wird. Wir müssen unsere Zusammenarbeit und Vereinigung etappenweise vollziehen, Schritt für Schritt.

Der Ausgangspunkt aller wirklichen Sozialisten aller Tendenzen, ob sie gegenwärtig der einen oder anderen Organisation angeschlossen oder unabhängig sind, ist dabei die Erkenntnis, dass wir alle Teil einer einzigen Bewegung sind und dass wir in einem Aktionsfeld nach dem anderen zusammenarbeiten sollten gegen die Ungerechtigkeiten und die Unterdrückung des Kapitalismus. Nach der schlimmen Erfahrung der zerstörten Solidarität klingt dies beinahe wie eine revolutionäre Aussage. Aber es war die ständige Praxis und Tradition der alten sozialistischen und radikalen Bewegung in Amerika.[7]

Cannons Zurückweisung der Parteikonzeption von Lenin und Trotzki bedeutete, dass er den Kampf für Marxismus in der Arbeiterklasse aufgegeben hatte, der seinen schärfsten Ausdruck findet im Kampf gegen den Druck feindlicher Klassenkräfte, so wie sie politisch, theoretisch und organisatorisch innerhalb der Partei widergespiegelt werden. Jahrelang hatte Cannon dem linken Flügel der Parteiführung angehört. Wenn Cannon nicht eingegriffen hätte, hätten Cochran und seine Anhänger 1952/53 fast widerstandslos eine Mehrheit in der SWP gewonnen. Als der Kampf begann, war Cannon in der SWP-Führung in der Minderheit und konnte nur unter größten Schwierigkeiten eine Mehrheit innerhalb der Führung gewinnen und die Parteimitgliedschaft mobilisieren.

Aber selbst nach der Spaltung lastete der politische Druck, der den pablistischen Revisionismus erzeugt hatte, nach wie vor auf der SWP und drückte sie nach rechts. Der lange Wirtschaftsboom, die Erstarrung der Arbeiterbewegung, der Würgegriff der Bürokratie um die Gewerkschaften und die nachklingenden Folgen der antikommunistischen Hysterie übten gewaltigen Druck auf die Kader der SWP aus.

Cannons Widerstand gegen diesen Klassendruck war 1957 zusammengebrochen. Deswegen stimmte er der Umgruppierung zu, vollzog die Wende zur Wiedervereinigung und kehrte zu Debs’ Auffassung einer allumfassenden Partei zurück. Erschöpft und unfähig, den Opportunismus zu bekämpfen, wurde Cannon selbst zum Opportunisten.

Während des gesamten Jahres 1957 war die SWP damit beschäftigt, gute Beziehungen zu dem Strand- und Treibgut aus den Wracks des untergehenden Stalinismus und senilen amerikanischen Radikalismus herzustellen, also zu den professionellen Veteranen reformistischer Protestpolitik. Im Mai 1957 »begrüßte« die SWP »begeistert« das neugebildete »Amerikanische Sozialistische Forum«, das sie als einen entscheidenden Durchbruch in der Umgruppierung betrachtete.

In dem vierzig Mitglieder umfassenden Nationalkomitee des Forums saßen neben Farrell Dobbs der Pazifist A. J. Muste (gleichzeitig Vorsitzender des Forums), John T. McManus vom »National Guardian«, ein ehemaliger Anhänger der bürgerlichen Progressiven Partei von Wallace, der Stalinist W. E. B. Du Bois, der stalinistische Trittbrettfahrer Waldo Frank, der Gates-Anhänger Joseph Starobin, der Radikale Dave Dellinger sowie die Pablisten Bert Cochran und Mike Bartell (Zaslow). Zu behaupten, aus dieser Schar könne eine »wiederbelebte sozialistische Bewegung in den Vereinigten Staaten« hervorgehen, hieß die Arbeiterklasse irreführen und die SWP-Mitgliedschaft betrügen.[8]

Um alle Leichen unterzubringen, die die Mitglieder dieses Forum-Nationalkomitees im Keller hatten, hätte man schon ein größeres New Yorker Kaufhaus anmieten müssen. Die SWP führte sich auf, als spiele die Vergangenheit überhaupt keine Rolle mehr. Über zwanzig Jahre waren vergangen, seit Muste seine flüchtige Verbindung mit dem Trotzkismus aufgekündigt hatte. Von der Revolution war er so weit weg wie der Mann im Mond. Mit Cochran und Bartell, die schon längst mit den Pablisten gespalten und noch weiter nach rechts gegangen waren, in einem Komitee zu sitzen und über die Zukunft des Sozialismus in Amerika zu diskutieren, zeigte außerdem, dass die SWP bei ihrer Arbeit innerhalb der Vereinigten Staaten ihre Standpunkte von 1953 bereits verworfen hatte.

Cochran und Clarke waren gerade deswegen ausgeschlossen worden, weil sie den Anspruch der SWP, die Partei der sozialistischen Revolution in den Vereinigten Staaten zu sein, abgelehnt hatten. Sie hatten darauf beharrt, dass die SWP nur ein kleiner Strudel in dem breiten sozialistischen Strom sei, aus dem die revolutionäre Partei schließlich hervorgehen werde. 1958 hatte sich die SWP diese Auffassung voll und ganz zu eigen gemacht. Zum Gründungstag der SWP verkündete »The Militant« in einem Leitartikel:

Die Mitglieder der Socialist Workers Party sind stolz auf ihre Partei und deren zwanzigjährige Geschichte. Aber dieser Stolz macht sie nicht blind und steht in keiner Weise im Widerspruch zu ihrer ersten Verpflichtung – den sozialistischen Interessen der Arbeiterklasse. Sie hoffen daher, dass aus der gewissenhaften Überprüfung der Ideen, die jetzt stattfindet, und aus den immer freieren und offeneren Diskussionen zwischen Gruppen und Einzelpersonen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen der Wille hervorgehen wird, die jetzt zersplitterten Kräfte umzugruppieren, um in den USA eine Partei aufzubauen, die den Kampf für den Sozialismus zum Sieg führen kann.[9]

Der liquidatorische Inhalt der Umgruppierungspolitik zeigte sich am klarsten, als die SWP an dem Spektakel der »unabhängigen sozialistischen« Wahlkampagne 1958 teilnahm. Alle verbliebenen Ansprüche, die Umgruppierung sei nur eine Taktik, um die Krise des Stalinismus auszunutzen und neue Kräfte für den Trotzkismus zu gewinnen, warf die SWP über Bord und stürzte sich Hals über Kopf in die Aufgabe, in den Wahlen des Bundesstaats New York alle »sozialistischen« Kräfte hinter gemeinsamen Gouverneurs- und Senatskandidaten zu vereinen. In einem offiziellen »Vorschlag an die radikale Bewegung« erklärte die SWP ihre Bereitschaft zu einem Minimalprogramm für die Wahlen, dem jeder links von der Demokratischen Partei zustimmen konnte.

Bei der Ausarbeitung ihres Vorschlags für einen »vereinten sozialistischen« Wahlkampf arbeitete die SWP eng mit der »Guardian«-Gruppe zusammen. Allein dies zeigte, welche Veränderung in der SWP vor sich gegangen war. 1955 hatte die SWP einen Aufruf zu einer »vereinten sozialistischen« Liste von John T. McManus, einem Führer dieser Gruppe, ausdrücklich abgelehnt. In einem Brief an Murry Weiss vom 4. März 1955 hatte Cannon mit unverhüllter Verachtung von McManus und Konsorten ­gesprochen:

Der Haufen vom American Guardian Monthly Review widerspricht, soviel ich weiß … der allgemeinen Ideologie des Stalinismus in keinem einzigen wesentlichen Punkt. Sie sind bereit, alles gutzuheißen, von den Moskauer Prozessen über den Zweiten Weltkrieg bis hin zu dem pazifistischen Tamtam für die Koexistenz, wenn sie dafür nur ihre eigene Partei haben dürfen … Die große Mehrheit dieser Stalinisten-Dissidenten sind ausgelaugte, unheilbar von der stalinistischen Ideologie korrumpierte Leute, die nicht die geringste Absicht oder Fähigkeit haben, irgendetwas zu tun, außer über die offizielle KP zu quengeln und nach einem eigenen kleinen Dreckpfuhl für sich allein zu verlangen, in dem sie herumplanschen können.[10]

Die Umgruppierungspolitik stärkte die rechtesten Elemente innerhalb der SWP, die den Wahlkampf als ein Mittel begrüßten, endlich all den lästigen »trotzkistischen Ballast« loszuwerden, den sie für die Isolation der Partei verantwortlich machten. Der führende Vertreter des rechten Flügels war Murry Weiss. Vehement verteidigte er das Liquidatorentum gegen die Kritiker der Umgruppierung innerhalb der SWP.

Weiss pries die Wahlkampagne:

Unser Vorschlag war im Wesentlichen sehr einfach: Bei den Bundesstaatswahlen sollten sich die Sozialisten gegen das kapitalistische System und seine beiden Parteien zusammenschließen. Welche Sozialisten? Die Sozialisten, die den Begriff Sozialismus ernst genug nahmen, um sich gegen kapitalistische Parteien und Politiker zu stellen. Auf der Grundlage welches Programms? Eines Programms, auf das sich alle einigen können, die sich als Sozialisten gegen die kapitalistischen Parteien zusammenschließen wollen. Und wir schlugen einen Rahmen vor, in dem sich ein solches Minimalprogramm bewegen könnte. Diese Herangehensweise überließ es dem Kampf, zu entscheiden, welche Kräfte in der radikalen Bewegung bereit sein würden, gemeinsam diesen Weg sozialistischer Klassenkampfpolitik einzuschlagen.[11]

Das Bündnis, das die SWP mit dem New Yorker Kleinbürgertum einging, war prinzipienlos und reaktionär. »Viele unserer Bündnispartner stimmen nicht damit überein, dass es ein elementares Prinzip des Sozialismus ist, niemals eine Koalition mit kapitalistischen Parteien einzugehen«, gab Weiss gnädig zu.[12] Um den Kuhhandel bei den Wahlen nicht zu gefährden, verleugnete die SWP schändlich den Trotzkismus und kapitulierte vor den prostalinistischen Sympathien des »Guardian«-Vertreters, mit dem sie zusammenarbeitete. Weiss schilderte die Kapitulation der SWP:

Gemeinsam mit anderen in dem Bündnis bestanden wir auf der Notwendigkeit, eine unzweideutige Aussage zu Sozialismus und Demokratie in die Plattform aufzunehmen, eine Erklärung, die klar Stellung bezieht gegen die bürokratische Diktatur des Stalinismus in der Sowjet­union und in Osteuropa. Wir argumentierten, dass wir nur so den Wählern die Botschaft eines Sozialismus übermitteln könnten, der frei von den Verbrechen des Stalinismus ist. Wir kämpften pädagogisch, aber beharrlich für diese Position.

Trotzdem konnten wir im Verlauf zahlreicher Diskussionen die Vertreter des Guardian und die Führer der ehemaligen ALP [American Labor Party] nicht dafür gewinnen. Sie gestanden zwar zu, dass man sich auf Arbeiterdemokratie und sozialistische Demokratie überall als Forderung des kleinsten gemeinsamen Nenners einigen sollte, meinten aber, dies sei in einer Wahlplattform für die USA fehl am Platze. Auch führten sie ins Feld, dass es das Bündnis sprengen würde, wollte man versuchen, in dieser Frage eine Minimalforderung auszuformulieren, denn es gebe zahlreiche tiefgreifende historische und theoretische Differenzen, die in keiner Minimalformulierung versöhnt werden könnten. Und sie sträubten sich stur gegen einen solchen Absatz in der Plattform. Wir mussten die wirkliche Bedeutung dieser Haltung abschätzen, um unseren eigenen Kurs zu bestimmen.

War ihre Weigerung, einer einfachen Erklärung zuzustimmen, die sich gegen die bürokratischen Praktiken des stalinistischen Regimes und für die sozialistische Demokratie aussprach, ein Zeichen dafür, dass sie genau wie die KP-Führung einfach Gefangene des Kremls waren? In diesem Falle wäre die Möglichkeit einer fruchtbaren Zusammenarbeit in den Wahlen außerordentlich zweifelhaft gewesen. Oder war es ein Anzeichen des anhaltenden Drucks des Stalinismus oder eines noch unvollständigen Bruchs mit der organisierten stalinistischen Bewegung? Wir entschieden uns für das Letztere. Alles deutete darauf hin, dass sie schließlich offen mit dem Stalinismus brechen und gezwungen sein würden, die Verbrechen der stalinistischen Bürokratie zu verurteilen. Ob sie dann zu unserer Position übergehen würden oder nicht, blieb natürlich problematisch. Aber unserer Einschätzung nach würden sie es sich während der Wahlkampfzeit nicht leisten können, an der Position festzuhalten, dass Sozialismus und Demokratie in der Sowjetunion, Osteuropa usw. »kein Thema« ist.[13]

Um den prostalinistischen Lumpen entgegenzukommen, ging die SWP dazu über, öffentlich die politische Revolution gegen die sowjetische Bürokratie abzulehnen. Begierig stürzte sich Joseph Hansen, ein Mann, der beim Schreiben von Artikeln vor nichts zurückschreckte, auf diese Aufgabe und ließ in der Frühjahrsausgabe der SWP-Zeitschrift »International Socialist Review« Folgendes verlauten:

Das Programm der politischen Revolution in der Sowjetunion ist in der radikalen Bewegung schwer missverstanden und in bedauerlicher Weise fehlinterpretiert worden. Es wurde dargestellt als »Revolutionsromantik«, als hitzköpfiges Sektierertum, das jeden Kampf für Reformen grundsätzlich ablehnt, als weltfremde Einstellung wie die der De Leonisten, die »bloße« Reformen überheblich von sich weisen und nicht eher Ruhe geben, als bis all ihre Wünsche restlos und auf einen Schlag erfüllt werden. Ein etwas großzügigeres Bild zeigt so eine Art TV-Western, in dem die geprellten Cowboys sich zusammenrotten und die Bösewichte abknallen, die das Büro des Sheriffs besetzt haben.

Es entspricht der Realität viel eher, das Programm der politischen Revolution als die Gesamtsumme der Reformen zu betrachten, die durch militante Kämpfe errungen werden und in der Übergabe der Macht an die Arbeiter gipfeln.

Keine Revolution kommt in einer einzigen Riesenportion. Sie entwickelt sich in aufeinanderfolgenden Stufen in zusammenhängenden Bereichen. Wenn irgendeine Forderung in irgendeinem Stadium isoliert oder als Selbstzweck betrachtet wird, anstatt als Mittel für ein höheres Ziel, dann erscheint sie als Reform.[14] (Betonung im Original)

Weit deutlicher, als Pablo es je formuliert hatte, entwarf Hansen einen Prozess der demokratischen Selbstreform der Bürokratie: »Eine Schicht der Offiziellen, die Schicht, die feinfühlig auf die Forderungen des Volks reagieren kann, wechselt nach und nach auf die Seite der Arbeiter und liefert in unterschiedlichem Maße neue Quellen der Ermutigung.«[15]

Hansen war noch nicht fertig. Er nutzte die mit der Umgruppierung endlich gegebene Gelegenheit und war entschlossen, die SWP restlos von jeder Perspektive des gewaltsamen revolutionären Sturzes der Bürokratie zu trennen:

Um jedes weitere Missverständnis auszuschließen, möchte ich betonen, dass die politische Revolution keine Parole für die unmittelbare Aktion ist. Es ist auch keine Parole für die Agitation. Es ist eine strategische Richtlinie, die als Anleitung benutzt werden muss, um die kommenden Ereignisse in der gesamten nächsten historischen Periode der sowjetischen Entwicklung zu verstehen und zu beeinflussen …

Was unsere sozialistischen Gefährten angeht, die zu dem Schluss gekommen sind, dass der Stalinismus verschwinden muss, aber noch nicht sicher sind, ob die Bürokratie auf die eine oder andere Weise aus der Welt reformiert werden kann, so bin ich durchaus bereit, den Nachweis darüber, welches Programm und welche Perspektiven den Bedürfnissen des Arbeiterkampfs unter den neuen sowjetischen Lebensbedingungen am besten entsprechen, dem Test der kommenden Ereignisse zu überlassen.[16] (Betonung im Original)

Die unabhängige sozialistische Wahlkampagne endete für die SWP mit einem totalen Debakel. Sie beugte sich sogar der Entscheidung, dass keiner der »sozialistischen Kandidaten« von der SWP gestellt würde. Zum Senatskandidaten von New York kürte man stattdessen Corliss Lamont, einen Millionär, Pazifisten und ehemaligen Schwärmer für die Moskauer Prozesse. Gouverneurskandidat wurde John T. McManus. Zum Kandidaten für den Posten des stellvertretenden Gouverneurs ernannte die »Vereinigte Sozialistische Partei« eine entgleiste liberale »Freundin der Sowjetunion«, Dr. Annette Rubinstein. »The Militant« bejubelte diese Kandidatenauswahl als »einen großen Schritt vorwärts«: »Man muss Corliss Lamont, John T. McManus und Annette Rubinstein gratulieren, dass sie die Kampagne für Frieden und Sozialismus aufnehmen. Ihre lange und mutige Opposition gegen den Kalten Krieg und die Hexenjagd gibt uns die Zuversicht, dass sie eine militante Kampagne führen werden, die die Sache des Sozialismus stärken wird.«[17]

Allein die Verbindung der SWP mit der Kandidatur Corliss Lamonts, von ihren Lobgesängen ganz zu schweigen, war ein unwiderlegbarer Beweis für den politischen Verfall der Partei. Der Millionär Lamont war der vollendete Inbegriff der verängstigten Liberalen, radikalen Touristen und berufsmäßigen Wohltäter der Menschheit, die man unter der breiten Kategorie Mitläufer zusammenfasst. Lamonts Brief, in dem er die Kandidatur annahm, gibt einen kleinen Einblick in seine reaktionäre politische Einstellung: »Angesichts der Nahostkrise und der anderen internationalen Probleme, die vor den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt stehen, beabsichtige ich in meiner Kampagne die Fragen von Frieden, Abrüstung und internationaler Zusammenarbeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Vereinten Nationen in den Vordergrund zu stellen.«[18]

Neben seinem Glauben an die Vereinten Nationen war Lamont der festen Überzeugung, ein »Gipfeltreffen« zwischen Eisenhower und Chruschtschow »zur Aufarbeitung internationaler Probleme« wäre ein großer Fortschritt für die Sache der friedlichen Koexistenz. Eine Resolution über die Libanon-Krise, die von einer Versammlung der Vereinigten Sozialistischen Partei verabschiedet wurde, erklärte demgemäß: »Die Hoffnung der Völker auf Frieden richtet sich jetzt auf das in den Vereinten Nationen anberaumte Gipfeltreffen …«[19]

Den Höhepunkt von Corliss Lamonts »militanter Kampagne« bildete ein »Zehnpunkte-Programm für den Frieden«, in dem unter anderem vorgeschlagen wurde, … den Außenminister John Foster Dulles zu feuern! In einer Radioansprache am 26. September erläuterte Lamont diesen denkwürdigen Vorschlag: »Soll der internationale Frieden kommen, dann muss Minister Dulles gehen! Im Interesse Amerikas und der ganzen Menschheit ist es an der Zeit, dass Präsident Eisenhower Mr. Dulles als Außenminister entlässt. Ich schlage vor, ihn durch Harold Stassen aus seiner eigenen Partei zu ersetzen, der sich unermüdlich und aufrichtig für die Abrüstung eingesetzt hat.«[20]

Drei Tage später schloss sich »The Militant« Lamonts Forderung nach der Amtsenthebung des Außenministers an. Unter der Überschrift »Dulles muss weg!« hieß es in einem Leitartikel:

Für Millionen Menschen auf dem ganzen Erdball ist John Foster Dulles zum düsteren, verhassten Symbol für die reaktionäre amerikanische Außenpolitik geworden, die die Welt unablässig mit einem Atomkrieg bedroht. Auch hier bei uns zu Hause entwickelt sich in der Bevölkerung eine Opposition gegen den Außenminister und die wahnwitzige Politik des äußersten Risikos, die an seinen Namen geknüpft ist. Die zunehmende Forderung ist völlig gerechtfertigt: »Dulles muss weg!«[21]

Die SWP passte sich nicht einfach nur an Lamont an. Ihre Unterstützung für Lamonts Vorschlag, der amerikanische Imperialismus solle sein Make-up erneuern, ergab sich organisch aus ihrer Kapitulation vor der bürgerlichen Demokratie, die sich bereits in der Forderung nach dem Einsatz von Bundestruppen im Süden angekündigt hatte. Wenn man von Eisenhower fordern konnte, in Mississippi die demokratischen Rechte zu verteidigen, weshalb sollte man ihn nicht dazu bewegen, einen neuen Außenminister einzusetzen, der dasselbe auf Weltebene tut?

Murry Weiss fand die tiefsinnigste Begründung, weshalb man Lamonts Forderung nach Dulles’ Absetzung unterstützte. Es erinnere ihn, sagte er, an die Forderung der Bolschewiki von 1917 nach Absetzung der zehn kapitalistischen Minister!

Nur wer sich standhaft weigert, die tatsächliche politische Entwicklung der SWP nach 1957 zu studieren – ihre verräterische Verwerfung des »Übergangsprogramms« und der Grundlagen des Trotzkismus, ihre ekelerregende Kapitulation vor dem Abschaum des amerikanischen Radikalismus, ihre Ablehnung des Kampfs um die Arbeitermacht zugunsten eines kleinbürgerlichen Protestprogramms –, kann allen Ernstes behaupten, die Wiedervereinigung mit den Pablisten sei auf eine Übereinstimmung betreffs des Charakters der kubanischen Revolution zurückzuführen.

Die SWP konnte nicht Jubelartikel über Annette Rubinstein und Corliss Lamont schreiben und gleichzeitig Pablos Verrat am Trotzkismus geißeln. Lange bevor Castro aus der Sierra Madre herabstieg und seinen Siegesmarsch nach Havanna antrat, hatte die SWP ihren etwas weniger großartigen Einzug in das Lager des amerikanischen Kleinbürgertums gehalten. Das war es, was die SWP zurück zu den Pablisten brachte und ihren Bruch vom Internationalen Komitee und ihre Wiedervereinigung mit den Pablisten auf die Tagesordnung setzte.


[1]

National Education Department Socialist Workers Party, Education for Socialists: The Struggle to Reunify the Fourth International (1954–63), Bd. 3, Juli 1978, S. 15.

[2]

The Militant, 17. Juni 1957.

[3]

Ebd.

[4]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 10, August 1946, S. 25.

[5]

James P. Cannon, The First Ten Years of American Communism, New York 1962, S. 270.

[6]

Ebd., S. 275.

[7]

James P. Cannon, Speeches for Socialism, New York 1971, S. 338.

[8]

The Militant, 20. Mai 1957.

[9]

The Militant, 6. Januar 1958.

[10]

Diskussionsbulletin der SWP, Jg. 20, Nr. 2, Januar 1959, S. 27.

[11]

Diskussionsbulletin der SWP, Jg. 20, Nr. 1, Januar 1959, S. 3.

[12]

Ebd., S. 8.

[13]

Ebd., S. 10–11.

[14]

Joseph Hansen, »Proposed Roads to Soviet Democracy«, in: International Socialist Review, Jg. 19, Nr. 2, Frühjahr 1958, S. 50.

[15]

Ebd., S. 51.

[16]

Ebd.

[17]

The Militant, 21. Juli 1958.

[18]

The Militant, 28. Juli 1958.

[19]

The Militant, 4. August 1958.

[20]

The Militant, 6. Oktober 1958.

[21]

The Militant, 29. September 1958.