Am 8. Februar 2014, vier Tage vor einem Kolloquium mit Robert Service an der Humboldt-Universität, sandte die PSG diese schriftlichen Fragen an Robert Service und den Lehrstuhlinhaber, Prof. Jörg Baberowski.
1. Die »American Historical Review«, die maßgebliche historische Fachzeitschrift in den USA, hat im Juni 2011 eine vernichtende Kritik Ihrer Trotzki-Biografie veröffentlicht. Professor Bertrand M. Patenaude von der Stanford University bescheinigt Ihnen darin die »Verzerrung geschichtlicher Tatsachen« und »grobe faktische Fehler … in einem Maß, das die intellektuelle Integrität der Biografie insgesamt fragwürdig erscheinen lässt«.[1]
Patenaude bezeichnet »die schiere Zahl faktischer Fehler« in Ihrem Buch als »erstaunlich«. Er selbst habe über vier Dutzend gezählt. »Als Informationsquelle ist das Buch von Service absolut unzuverlässig. Manchmal sind die Irrtümer unfassbar«, folgert er.[2]
Die angesehene amerikanische Fachzeitschrift stellt sich uneingeschränkt hinter die ausführliche Kritik, die David North in seinem auch in Deutsch erschienenen Buch »Verteidigung Leo Trotzkis« an Ihrer Trotzki-Biografie geübt hat. Sie sei nicht, wie North‘ trotzkistische Überzeugungen vermuten ließen, übertrieben, sondern »ausführlich, peinlich genau, gut belegt und verheerend in ihrer Kritik«.[3] Die »American Historical Review« gelangt zum Schluss:
North nennt Services Biografie ein »zusammengeschustertes Machwerk«. Starke Worte, aber völlig berechtigt. Harvard University Press hat sein Imprimatur unter ein Buch gesetzt, das die elementaren Regeln der Geschichtswissenschaft missachtet.[4]
Eine verheerendere Kritik durch eines der führenden Fachjournale der Welt lässt sich kaum vorstellen. Auch vierzehn angesehene europäische Historiker und Sozialwissenschaftler haben sich der Kritik angeschlossen und dem Suhrkamp Verlag in einem Brief von der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe Ihres Buches abgeraten. Trotzdem haben Sie nie auf die Kritik geantwortet und versucht, Ihren Ruf zu verteidigen.
Warum? Welche Erklärung haben Sie dafür? Man kann aus Ihrem Verhalten nur schließen, dass Sie nicht antworten können, und dass die Vorwürfe gegen Ihr Buch korrekt und unwiderlegbar sind.
2. Der Londoner »Evening Standard« vom 23. Oktober 2009 zitiert Sie mit den Worten: »Noch ist Leben in dem alten Kerl Trotzki – aber wenn der Eispickel [das Mordinstrument des stalinistischen Agenten Mercader 1940] nicht gereicht hat, ihn endgültig zu erledigen, habe ich das nun hoffentlich geschafft.«
Wie erklären Sie diese Aussage? Offenbar haben Sie sich mit Ihrem Buch die Aufgabe gestellt, einen Rufmord zu verüben, und nicht, eine ernsthafte politische Biografie zu schreiben.
3. Ihr Buch enthält eine Reihe empörender und historisch falscher Aussagen, die ausschließlich darauf abzielen, Trotzkis persönliche Integrität anzugreifen.
So behaupten Sie, Trotzki habe seine erste Frau Alexandra Sokolowskaja »schäbig behandelt« (S. 19), und: »Kaum hatte er zwei Kinder gezeugt, beschloss er, sich aus dem Staub zu machen.« (S. 92)[5]
Tatsächlich beweisen alle verfügbaren Quellen, dass Trotzki mit dem vollen Einverständnis seiner damaligen Frau aus der sibirischen Verbannung floh, um seine politische Arbeit im Exil fortzusetzen. Die beiden bewahrten ihre geistige Verbindung und Freundschaft bis ans Ende ihres Lebens. Alexandra Sokolowskaja und die gemeinsamen Kinder wurden von Trotzkis Eltern finanziell unterstützt. Erst Stalins Terrorapparat unterbrach den Kontakt zwischen den beiden: Alexandra Sokolowskaja wurde wegen ihrer Freundschaft zu Trotzki 1938 ermordet.
Weshalb machen Sie Trotzki auch noch für die Ermordung seiner Familienangehörigen durch das stalinistische Regime, seine schlimmsten Feinde, verantwortlich?
4. Obwohl Trotzkis politisches Wirken vor allem auf seinen Schriften beruhte und er ein umfangreiches Werk hinterließ, haben Sie eine Biografie geschrieben, die sich mit keinem einzigen seiner zahllosen Artikel, Aufsätze und Bücher zu politischen, sozialen und kulturellen Themen ernsthaft auseinander setzt. Sie haben eine Biografie über einen Mann verfasst, der in erster Linie durch seine Ideen wirkte, ohne eine einzige dieser Ideen zu erläutern.
In der »Einführung« behaupten Sie: »Man darf seine schriftliche Hinterlassenschaft nicht allein für bare Münze nehmen … Das, worüber er sich ausgeschwiegen hat, ist ebenso wichtig wie das, worüber er zu reden oder zu schreiben beliebte. Seine unausgesprochenen Grundannahmen waren integraler Bestandteil seines Lebens.« (S. 20)
Das ist, offen gesagt, absurd. Wie konnten Sie herausfinden, was Trotzkis »unausgesprochene Grundannahmen« sind, wenn Sie nicht untersucht haben, was er tatsächlich geschrieben hat? Und worin bestehen diese »unausgesprochenen Grundannahmen«?
5. Während Sie den Inhalt seiner Schriften ignorieren, wimmelt es in Ihrem Buch von abschätzigen Bemerkungen über Trotzki als Schriftsteller. Unter anderem behaupten Sie: »Er schrieb immer, was ihm gerade in den Sinn kam« (S. 107), »Mit Recherchen zu der Mehrzahl der Fragen, die die intellektuelle Elite der Partei beschäftigten, gab er sich nicht ab« (S. 143), »Seine Gedanken waren ein verworrenes und verwirrendes Sammelsurium« (S. 444). Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Diese Einschätzung steht in eklatantem Widerspruch zum Urteil zahlreicher Experten und Zeitgenossen. So zitiert Walter Benjamin in seinem Tagebuch die Einschätzung von Bertolt Brecht aus dem Jahre 1931: »Es ließe sich mit gutem Grund behaupten, dass Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre.«[6]
Heute müssen selbst viele seiner politischen Gegner anerkennen, dass Trotzki die Gefahr des Nationalsozialismus deutlicher als irgendjemand sonst voraussah und mit seinem Eintreten für eine Einheitsfront von SPD und KPD gegen die Nazis recht hatte, die von Stalin und der SPD-Führung vehement abgelehnt wurde. Seine Schriften zum Nationalsozialismus, die in der (bei weitem nicht vollständigen) deutschen Ausgabe von 1971 800 Seiten umfassen, gehören bis heute zum Besten, was zu diesem Thema geschrieben wurde.
Sie widmen den Ereignissen in Deutschland dagegen nur wenige Zeilen und gehen nicht auf Trotzkis Schriften ein. Stattdessen behaupten Sie wahrheitswidrig, Trotzki habe es »nicht für nötig« gehalten, »Hitler, Mussolini oder Franco genauer zu betrachten« (S. 590). In der Einleitung erklären Sie: »Hätte statt Stalin Trotzki die oberste Führung innegehabt, wäre die Gefahr eines Blutbades in Europa drastisch gestiegen.« (S. 17f.)
Was wollen Sie damit sagen? Waren die achtzig Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts kein Blutbad? Wie hätte Trotzki, der gegen die Lähmung und Desorientierung der Arbeiterbewegung durch die stalinistische Bürokratie und für ihre Mobilisierung gegen die Nazis kämpfte, ein größeres Blutbad verursachen können?
6. Ihr Buch befasst sich geradezu obsessiv mit Trotzkis jüdischer Herkunft und bemüht dabei antisemitische Stereotype. Unter anderem schreiben Sie: »Indem er zum Außenminister für eine Regierung wurde, die mehr an der Verbreitung der Weltrevolution als an der Verteidigung der Interessen des Landes interessiert war, entsprach Trotzki dem weitverbreiteten Stereotyp der ›Judenfrage‹.« (S. 247)
»Er war keck in seiner Klugheit und offen in seinen Meinungen. Niemand konnte ihn einschüchtern. Trotzki besaß diese Eigenschaften in einem höheren Maße als die meisten anderen Juden … Dabei war er durchaus nicht der einzige Jude, der an den Chancen zum sozialen Aufstieg sichtlich Gefallen fand.« (S. 259)
»Haarspalterische Debatten gehörten zum Marxismus ebenso wie zum Judentum.« (S. 260) »Die Parteiführung wurde vielfach als eine jüdische Clique bezeichnet.« (S. 263f.)
In der englischen Ausgabe findet sich (ohne Quellenangabe) eine Nazi-Karikatur von Trotzki. Sie ist mit der Legende versehen: »In Wirklichkeit war seine Nase weder lang noch gebogen, und niemals ließ er es zu, dass sein Spitzbart zu lang wurde oder sein Haar schlecht gekämmt war.«
Warum benutzen Sie derartige Karikaturen von Juden? Weshalb dichten Sie ihnen angebliche jüdische Eigenschaften an? Und weshalb tun Sie das, obwohl Sie genau wissen, dass Trotzkis Gegner antisemitische Vorurteile gegen ihn mobilisiert haben?
Sie haben sogar eigens eine Erzählung erfunden, um Trotzkis Judentum zu unterstreichen. Auf den ersten vierzig Seiten Ihres Buches nennen Sie ihn ständig Leiba, obwohl er diesen jiddischen Vornamen weder trug noch benutzte. Warum stützen Sie sich auch hier wieder auf die antisemitischen Karikaturen, die Trotzkis stalinistische und faschistische Gegner von ihm zeichneten?
7. Aus Ihrem Buch spricht eine kaum verhohlene Bewunderung für Stalin. Sie schreiben: »Stalin war keine mediokre Figur, sondern besaß beeindruckend vielfältige Fähigkeiten und ein Talent zur entschlossenen Führung.« (S. 17) Und: »Trotzki verlor nicht gegen ›die Bürokratie‹; er unterlag gegen einen Mann und eine Clique, die besser als er das sowjetische System begriffen hatten.« (S. 19)
In Wirklichkeit bestand Stalins Politik in den 1920er und 1930er Jahren aus einer endlosen Reihe katastrophaler Fehlurteile – über die innere Dynamik des Wirtschaftslebens, über die faschistische Gefahr in Deutschland, über das Risiko einer deutschen Invasion.
Sie stellen diese Behauptungen auf, ohne auf die Kritik am Stalinismus einzugehen, die Trotzki über siebzehn Jahre hinweg, von 1923 bis 1940, konsequent entwickelte. Weshalb ignorieren Sie Trotzkis »Verratene Revolution«, seine Kritik an Stalins Wirtschaftspolitik in den 1920er Jahren, seine Kritik am »Sozialismus in einem Land«, seine Kritik an der Zwangskollektivierung und alles andere? In Ihrem Buch findet sich nichts davon.
8. Weshalb gibt es in Ihrem Buch derart offenkundige und unfassbare Fehler? Um noch einmal die Kritik in der »American Historical Review« zu zitieren: »Service verwechselt die Namen von Trotzkis Söhnen, bezeichnet die falsche Partei als die größte politische Fraktion in der ersten Duma von 1906, schreibt den Namen des in Sarajewo ermordeten österreichischen Thronfolgers fehlerhaft, gibt eine falsche Darstellung der Umstände, unter denen Nikolaus II. abdankte, verdreht den Standpunkt, den Trotzki 1940 zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg einnahm, in sein Gegenteil, und gibt ein falsches Todesjahr von Trotzkis Witwe an.«[7]
Wie viel Zeit und Arbeit haben Sie in ein Buch gesteckt, in dem offenkundig die elementarsten historischen Fakten nicht stimmen?
9. Und eine letzte Frage: Der Titel Ihres Kolloquiumsbeitrags lautet (in englischer Sprache): »Trotzky – Problems of a Biography«.
Wie Sie wissen müssen, ist diese Schreibweise von Trotzkis Namen inkorrekt. Im Englischen wird Trotzki üblicherweise mit »s«, »Trotsky«, geschrieben. Die einzigen, die die Schreibweise »Trotzky« nach der Oktoberrevolution benutzt haben, waren – wie Sie als Trotzkis Biograf ebenfalls wissen müssten – die Faschisten in den 1930er Jahren und die britischen und amerikanischen Stalinisten. Sie schrieben Trotzki mit »tzky«, um seinen Namen bedrohlicher klingen zu lassen.
Weshalb unterläuft Ihnen ein derart grundlegender Fehler?
Bertrand M. Patenaude, »Ein zusammengeschustertes Machwerk!«, in: The American Historical Review, Jg. 116, Nr. 3, Juni 2011, S. 900–902, Oxford University Press. Zitiert nach: David North, Verteidigung Leo Trotzkis, Essen 2012, S. 326.
Ebd., S. 328.
Ebd., S. 326.
Ebd., S. 332.
Alle Zitate entnommen aus: Robert Service, Trotzki – Eine Biographie, Berlin 2012.
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1985, S. 432.
Bertrand M. Patenaude, »Ein zusammengeschustertes Machwerk!«, in: The American Historical Review, Jg. 116, Nr. 3, Juni 2011, S. 900–902, Oxford University Press. Zitiert nach: David North, Verteidigung Leo Trotzkis, Essen 2012, S. 328.