David North
Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert

Engels war an allem schuld: Eine Kritik von Tom Rockmores »Marx nach dem Marxismus«

Veröffentlicht am 2. Mai 2006 auf der »World Socialist Web Site«.

Tom Rockmore, Professor für Philosophie an der Duquesne University im US-Bundesstaat Pennsylvania, beginnt sein Werk »Marx After Marxism: The Philosophy of Karl Marx« mit der Feststellung:

Es ist klar oder sollte zumindest klar sein, dass der Marxismus als politischer Ansatz damit gescheitert ist, eine historische Alternative zum liberalen Kapitalismus zu bieten. Mit dem schnellen Zerfall des Ostblocks im Jahre 1989 und dem Aufbrechen der Sowjetunion 1991 schwand der Gegensatz zwischen totalitärem Marxismus und liberalem Kapitalismus, der das 20. Jahrhundert über weite Strecken geprägt hatte. Infolgedessen ging die moderne industrialisierte Welt unfreiwillig eine Pascalsche Wette auf liberale wirtschaftliche und demokratische Grundsätze ein. Gegenwärtig hat der moderne Wirtschaftsliberalismus keinen echten Rivalen in der industrialisierten Welt.[1]

Dieser Abgesang auf den »politischen Marxismus« ist typisch für die in akademischen Kreisen vorherrschende Auffassung, das Ende der UdSSR bedeute das Ende des Marxismus. Worauf beruht diese Behauptung? Allein auf der Voraussetzung, die Politik der alten Sowjetbürokratie habe den Marxismus verkörpert, einer Voraussetzung, die mehr über die gesellschaftlichen und politischen Anschauungen der Professorenzunft aussagt als über den Marxismus. Wie kommen Akademiker dazu, die reaktionäre nationalistische Politik des Kremls mit der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus gleichzusetzen? Normalerweise weichen sie dieser Frage einfach aus. Von ihren erhabenen Höhen aus betrachten sie den politischen Kampf, den revolutionäre Marxisten jahrzehntelang gegen die Kremloligarchie geführt haben, als »sektiererische Zänkerei«, für die karrierebeflissene Professoren keine Zeit haben. Ihnen genügte, dass die Kremlbürokratie, zumindest bis 1991, über reale Macht gebot. Oder anders ausgedrückt, dass die Bürokratie die Kontrolle über einen mächtigen Staat ausübte und Fördergelder vergab – von denen einige in internationale Symposien flossen, an denen Akademiker, die Wert auf einen linken Ruf legten, stets gerne teilnahmen.

Richtig verstanden, nämlich als theoretische Grundlage eines revolutionären sozialistischen Programms und einer revolutionären Praxis, spielte der Marxismus für die Politik des Sowjetregimes seit den späten 1920er Jahren, als Leo Trotzki und seine Anhänger in der Linken Opposition offiziell aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ausgeschlossen wurden, keine Rolle mehr. In den 1930er Jahren besiegelte der Kreml seinen Bruch mit den marxistischen Ursprüngen der Sowjetunion mit einem politischen Genozid, dem alle noch verbliebenen Vertreter der marxistischen, revolutionären Intelligenz und der Arbeiterklasse in der UdSSR zum Opfer fielen. Den Höhepunkt der von Stalin und seinen Verbündeten im Kreml organisierten internationalen Konterrevolution bildeten die Moskauer Prozesse und die Säuberungen, die sie begleiteten. Hunderttausende revolutionäre Sozialisten wurden ermordet.

Bereits 1933, nachdem Stalins Verrat an der deutschen Arbeiterklasse Hitlers Machtübernahme ermöglicht hatte, rief Trotzki zum Sturz der Kremlbürokratie durch eine politische Revolution auf. Trotzki ging es nicht um Rache, sondern um den Erhalt der UdSSR. Er warnte immer wieder, dass die Politik des stalinistischen Regimes zum Zusammenbruch der Sowjetunion führen werde, wenn die Arbeiterklasse es nicht zuvor zu Fall bringe. Trotzki betonte mit Nachdruck, der Stalinismus sei ein Krisenregime, das nationalistische Programm der Kremlbürokratie führe in eine wirtschaftliche und politische Sackgasse, die autarke Wirtschaftspolitik der Bürokratie könne die UdSSR langfristig nicht vom Druck des kapitalistischen Weltmarkts abschirmen und das Schicksal der Sowjetunion hänge vom Sieg der sozialistischen Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten Westeuropas und Nordamerikas ab. Diese Auffassungen flossen ins marxistische Programm der Vierten Internationale ein.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 bestätigte nicht nur Trotzki, sondern auch den Marxismus als Wissenschaft der politischen Perspektive. Es wäre durchaus angebracht gewesen, wenn Wissenschaftler, die sich für sozialwissenschaftliche Experten hielten, es sich aber größtenteils nicht hatten vorstellen können, dass die Sowjetunion über Nacht verschwinden würde, anerkannt hätten, dass die marxistische Analyse der trotzkistischen Bewegung außerordentlich weitsichtig war.

Doch nach solchen Bekundungen wissenschaftlicher Demut suchte man vergebens. Stattdessen löste das Ende der UdSSR eine Flut von Veröffentlichungen aus, die den Tod des Marxismus verkündeten. Diese Werke lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen. In die erste fallen die Erzeugnisse der unverhohlenen ideologischen Verteidiger des Kapitalismus auf der politischen Rechten (wie Fukuyama und Pipes), für die das Ende der UdSSR die Unmöglichkeit einer Alternative zur bestehenden bürgerlichen Ordnung beweist. In die zweite fällt ein breites Spektrum von Arbeiten linker Akademiker, die die vage Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung in ferner Zukunft offen halten, aber darauf beharren, dass der Marxismus nicht die theoretische Grundlage zukünftigen gesellschaftlichen Wandels sein werde.

Akademiker auf der Suche nach einer Alternative zum Marxismus

Worin besteht dann die Alternative zum Marxismus? Eine beträchtliche Anzahl neuer akademischer Werke redet einer Wiederbelebung verschiedener Formen vormarxistischer Philosophie und Politik das Wort. Sie behaupten, das Auftreten des jungen Dr. Marx in den frühen 1840er Jahren habe die Entwicklung von alternativen, links-progressiven Philosophien und sozialen Bewegungen vorzeitig beendet. Da Marx sein Werk aufgrund einer vernichtenden Kritik Hegels entwickelt habe, müsse der angerichtete Schaden behoben werden. Nachdem Marx ihn auf die Füße gestellt habe, so die Argumentation, sei es nun an der Zeit, den alten idealistischen Philosophen wieder auf den Kopf zu stellen. Hegels Werk biete eine ausreichende Grundlage für die Entwicklung einer zeitgemäßen, fortschrittlichen Gesellschaftstheorie und -praxis. Einige Werke, die so argumentieren, lehnen den Marxismus ausdrücklich ab; andere meinen, Marx habe Hegel wenig hinzugefügt oder seine eigene Originalität übertrieben; und wieder andere möchten Hegelianismus und Marxismus verschmelzen, in der Regel zum Nachteil des Letzteren.

Professor Errol Harris schreibt in »Der Geist Hegels«: »Nicht Hegel steht auf dem Kopf, sondern Marx und Engels, die den Kopf abgetrennt und sich dann eingebildet haben, dass der enthauptete Torso der Dialektik weiterhin lebens- und bewegungsfähig sei.«[2] Er fügt hinzu: »Niemand würde behaupten, dass Marx’ eigene Lehren lächerlich waren, aber seine Kritik an Hegel war oft stumpfsinnig und engstirnig, da sie auf einem völlig falschen Verständnis des hegelschen ›Idealismus‹ beruhte.«[3]

Professor Paul Franco argumentiert in »Hegels Philosophie der Freiheit«, Antworten auf die Probleme der heutigen Welt seien bei Hegel, nicht bei Marx zu finden:

Seit etwa 30 Jahren lebt das Interesse an Hegels gesellschaftlicher und politischer Philosophie wieder stark auf. Diente es anfangs der Suche nach den Ursprüngen des marxschen Projekts, begann es später Hegel selbst als Denker in den Mittelpunkt zu stellen, der vielleicht etwas Tieferes zu bieten hat als Marx.[4]

Marx bezeichnet Franco als »Epigonen« Hegels.[5]

Der kanadische Akademiker David MacGregor hat mehrere Bücher verfasst, die sich der Aufgabe widmen, den Hegelianismus als maßgebliche theoretische Grundlage für ein demokratisches und sozial fortschrittliches Projekt zu verankern. In »Das kommunistische Ideal bei Hegel und Marx« behauptet MacGregor, dass

Marx’ Fehlinterpretation der hegelschen Idee ihn gegen Hegels Staatstheorie einnahm und ihn womöglich davon abhielt, die widersprüchliche Realität der liberalen Demokratie völlig zu verstehen, der sich erst seine heutigen Anhänger (die viel von Hegel lernen können) ernsthaft stellen. Dieses Buch verweist auf ein Verständnis des liberalen, demokratischen Staats, das Marx’ Kritik mithilfe der Erkenntnisse aus Hegels politischer Theorie abmildert.[6]

MacGregor bekennt sich freimütig zum Ziel, »Hegels Denken vor der Interpretation zu retten, die Marx ihm aufzwang. Ich wende mich gegen Marx’ Behauptung, man müsse die hegelsche Dialektik ›umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken‹.«[7]

In seinem späteren Werk »Hegel, Marx und der englische Staat« erweitert MacGregor seine Kritik an Marx und wirft ihm vor, er sei

mit einem wesentlichen Bestandteil des hegelschen Erbes falsch umgegangen. Er ersetzte Hegels Begriff des Privateigentums, der das Recht des Arbeiters auf das Arbeitsprodukt mit einschließt, durch den Begriff des Mehrwerts und durch die Negation des Privateigentums unter dem Kommunismus. Das hatte zur Folge, dass es Marx’ idealer Gesellschaft nicht nur an einem Staat fehlte, sondern auch an nahezu sämtlichen Institutionen der Zivilgesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen gewährleisten und die Willkürherrschaft einer herrschenden Elite verhindern.[8]

Die soziale und politische Stoßrichtung der Kritik, der MacGregor die gängige marxistische Auffassung über die Beziehung von Hegel und Marx unterzieht, tritt in einem weiteren Werk, »Hegel und Marx nach dem Fall des Kommunismus«, noch deutlicher hervor:

Der Begriff des Privateigentums bildet den Streitpunkt in der Beziehung zwischen Hegel und Marx … Hegel wollte die Institution des Privateigentums bewahren, während Marx auf seine Abschaffung drängte … Ich behaupte, dass Hegel mit Marx’ Kritik am kapitalistischen Eigentum übereingestimmt hätte. Doch anders als Hegel prüfte Marx nicht die positive Seite der Individualrechte; stattdessen befürwortete er die Abschaffung des Eigentums zugunsten des gemeinsamen Besitzes der Produktionsmittel.[9]

MacGregor sieht in Hegels politischer Theorie den Ausgangspunkt für eine brauchbare Alternative zu Marx’ revolutionären sozialistischen Bestrebungen – die Wiederbelebung des liberalen Sozialstaats, in dem eine hochgesinnte, dem Gemeinwohl verpflichtete Bürokratie eine eklektische soziale Marktwirtschaft verwaltet.

Professor Warren Breckman argumentiert in »Marx, die Junghegelianer und die Ursprünge der radikalen Gesellschaftstheorie« ähnlich. Er behauptet, der Untergang der Sowjetunion und der ihr nahestehenden Regime in Osteuropa habe Marx’ kompromisslose Opposition gegen den Kapitalismus und die bürgerliche »Zivilgesellschaft« unter akademischen Gesellschaftswissenschaftlern diskreditiert. Er schreibt:

Große Einigkeit besteht darüber, dass Karl Marx’ vollständige Ablehnung des Begriffs der Zivilgesellschaft der Aufgabe nicht angemessen ist, die lebendige Demokratie in komplexen Gesellschaften zu erweitern. Neu ist hier die Übereinstimmung, nicht die Einsicht an sich. Die Mängel von Marx’ Kritik an der Zivilgesellschaft werden jetzt selbst von jenen offen eingestanden, die weiterhin Sympathien für bestimmte sozialistische Vorstellungen haben, an Elementen der marxistischen Kapitalismuskritik festhalten oder sich zumindest, wie Jacques Derrida, »bis zu einem gewissen Grad vom marxistischen Geist inspirieren lassen«.[10]

Breckman bemerkt weiter,

die derzeitige Debatte betrachtet es als selbstverständlich, über den Marxismus hinauszugehen, einer ihrer charakteristischen Züge besteht darin, in der Zeit vor Marx nach Inspiration und theoretischer Orientierung zu suchen.

Dieses postmarxistische Interesse an der vormarxistischen Gesellschaftstheorie hat den Wert und die Bedeutung Hegels, des Meisterdenkers, den der junge Marx triumphierend überwunden zu haben glaubte, erheblich gesteigert.[11]

Wären die politischen und wissenschaftlichen Motive weniger suspekt, wäre ein neu auflebendes Interesse an Hegel sicherlich zu begrüßen. Doch der Versuch, gestützt auf Hegel oder einen anderen bedeutenden Vertreter des klassischen deutschen Idealismus aus der Zeit vor 1840 eine gesellschaftliche und politische Theorie zu entwickeln und dabei die anschließende theoretische Leistung von Marx und Engels zu umgehen (oder zu verfälschen), bedeutet einen großen theoretischen und intellektuellen Rückschritt und kann nur reaktionären politischen Zwecken dienen, denn das Werk von Marx und Engels ging aus der gewaltigen sozialen und ökonomischen Umwälzung in Europa und wichtigen wissenschaftlichen Fortschritten hervor, die nach Hegels Tod im Jahr 1831 erfolgten.

Rockmore gibt Engels die Schuld

Wie die oben zitierten Werke schlägt auch Rockmore vor, die theoretischen Errungenschaften des Marxismus zu annullieren, um ein neues Programm für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel zu entwickeln. Er geht aber etwas anders an die Frage heran. Während die anderen Autoren Hegel aus dem Griff von Marx befreien wollen, meint Rockmore, es sei Marx, der aus der ideologischen Gefangenschaft des Marxismus befreit werden müsse! Der echte Marx war laut Rockmore ein devoter hegelianischer Idealist. Dass er beinahe allgemein als Materialist gelte, sei das Ergebnis einer grotesken Fälschung und Täuschung, für die kein anderer verantwortlich sei als Friedrich Engels. Dieser philosophische Einfaltspinsel, dem es an der nötigen Universitätsbildung für ernsthafte theoretische Arbeit fehle, habe alle hegelianischen Feinheiten aus dem Denken des wirklichen Marx beseitigt und ein ideologisches Monstrum namens Marxismus erschaffen!

Rockmore schreibt:

Der Marxismus, der von Engels stammt, basiert auf einer Darstellung der Beziehung zwischen Marx und Hegel, laut der Marx Hegel hinter sich gelassen hat. Meiner Ansicht nach ist diese marxistische Sicht auf Marx grundlegend falsch und verhindert ein besseres Verständnis von Marx’ Haltung, einschließlich seines Beitrags zur Philosophie. Meine These lautet, dass man Marx soweit möglich vom Marxismus – und damit von Engels, dem ersten Marxisten – befreien muss, um ihn zu »retten«.[12]

Rockmore behauptet nicht als erster, es habe Differenzen zwischen Marx und Engels gegeben. Das Gleiche erklärten zu unterschiedlichen Zeiten so verschiedene Autoren wie Stanisław Brzozowski, Georg Lukács, Lucio Colletti, Jean Hyppolite, George Lichtheim, Leszek Kolakowski, Vertreter der Frankfurter Schule und unzählige Postmodernisten. Die bloße Tatsache, dass Engels Marx um zwölf Jahre überlebte, bot Anlass zur Behauptung, der Überlebende habe seine Stellung als Verwalter von Marx’ literarischem Nachlass genutzt, um die Ansichten des ehemaligen Weggefährten durch seine eigenen zu ersetzen. Die angeblichen Differenzen zwischen Marx und Engels haben sich zu einer Art Mythos entwickelt. Nicht eine der Behauptungen der oben angeführten Autoren hält einer sorgfältigen Überprüfung stand, und Lukács korrigierte später selbst seine Haltung in dieser Frage.

Rockmores These ist nicht originell. Sein Werk sticht lediglich durch seine außergewöhnliche Schlampigkeit und theoretische Unaufrichtigkeit hervor. In dieser Hinsicht passt es in unsere Zeit. Ein typisches Beispiel für den zynischen Ton, der das ganze Buch durchzieht, ist seine »Antwort« auf die Annahme, aufgrund ihrer lebenslangen Zusammenarbeit hätten Marx und Engels auch eine gemeinsame philosophische und theoretische Anschauung geteilt.

Rockmore schreibt:

Ein Hauptgrund für die Ansicht, Marx und Engels seien die Urheber einer einheitlichen, gemeinsamen Lehre, ist ihre enge persönliche Verbundenheit. Das ist, als würde man sagen, dass Leute, die zusammen abhängen, auch gleich denken müssen.[13]

»Zusammen abhängen?« Dieser Ausdruck mag womöglich auf das Verhalten von Professor Rockmore und seinen Kumpanen an der Philosophiefakultät der Duquesne University zutreffen, zur Beschreibung der Beziehung zwischen Marx und Engels ist er nicht angemessen. Die enge geistige und politische Zusammenarbeit von Marx und Engels erstreckte sich über 39 Jahre, von 1844 bis zu Marx’ Tod im Jahre 1883. In dieser Zeit standen sie persönlich oder durch Briefe nahezu täglich miteinander in Verbindung. Ihr Briefwechsel füllt zehn Bände (à 500 bis 600 Seiten) der aktuellen Ausgabe der »Marx Engels Werke«. Anhand dieser Briefe kann der Leser die geistige Entwicklung und gegenseitige Beziehung zwischen diesen zwei außergewöhnlichen Männern über vier Jahrzehnte hinweg verfolgen. Die philosophische Übereinstimmung, moralische Verbundenheit und persönliche Freundschaft, die aus ihnen spricht, dürfte in der Geschichte ohne Beispiel sein. Gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, ob über theoretische, politische oder persönliche Angelegenheiten, so sind sie hier ausnahmslos dokumentiert.

Marx und Engels haben die prägenden philosophischen Werke des Marxismus gemeinsam verfasst, insbesondere »Die deutsche Ideologie«, die erste detaillierte Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung. Außerdem hat Marx sich schriftlich ausführlich über Engels’ Beitrag zur Entwicklung ihrer gemeinsamen theoretischen Weltanschauung geäußert. Rockmores Versuch, Engels als raffinierten Antihegelianer darzustellen, der vertuschen wollte, dass Marx dem deutschen Idealismus stets treu geblieben war, wird durch Marx’ eigene Worte im Vorwort zur »Kritik der Politischen Ökonomie« von 1859 widerlegt:

Friedrich Engels, mit dem ich seit dem Erscheinen seiner genialen Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien (in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«) einen steten schriftlichen Ideenaustausch unterhielt, war auf anderm Wege (vergleiche seine »Lage der arbeitenden Klasse in England«) mit mir zu demselben Resultat gelangt, und als er sich im Frühling 1845 ebenfalls in Brüssel niederließ, beschlossen wir, den Gegensatz unsrer Ansicht gegen die ideologische der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten, in der Tat mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen. Der Vorsatz ward ausgeführt in der Form einer Kritik der nachhegelschen Philosophie. Das Manuskript, zwei starke Oktavbände [»Die deutsche Ideologie«], war längst an seinem Verlagsort in Westphalen angelangt, als wir die Nachricht erhielten, dass veränderte Umstände den Druck nicht erlaubten. Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse um so williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten – Selbstverständigung. Von den zerstreuten Arbeiten, worin wir damals nach der einen oder andern Seite hin unsre Ansichten dem Publikum vorlegten, erwähne ich nur das von Engels und mir gemeinschaftlich verfasste »Manifest der Kommunistischen Partei« und einen von mir veröffentlichten »Discours sur le libre échange«. Die entscheidenden Punkte unsrer Ansicht wurden zuerst wissenschaftlich, wenn auch nur polemisch, angedeutet in meiner 1847 herausgegebenen und gegen Proudhon gerichteten Schrift »Misère de la philosophie etc.« …[14]

In nur einem Absatz benutzt Marx die Formulierungen: »mit mir zu demselben Resultat gelangt«, »unsrer Ansicht«, »mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen«, »unsern Hauptzweck – Selbstverständigung«, »unsre Ansichten« und »die entscheidenden Punkte unsrer Ansicht«. Das beweist eindeutig, wie sehr er und Engels in theoretischen Fragen übereinstimmten.

Obwohl sich Rockmore auf Marx’ Vorwort zur »Kritik« bezieht, zitiert er diese bedeutende Passage nicht. Wie wir zeigen werden, ist dies nicht die einzige Gelegenheit, bei der Rockmore Äußerungen von Marx, die seiner eigenen These zuwiderlaufen, ignoriert.

Rockmore über Engels’ mangelhafte Bildung

In seinem Eifer, Engels zu diskreditieren, behauptet Rockmore, Marx’ lebenslangem Mitarbeiter habe es einfach an der nötigen Bildung gefehlt, um Marx richtig zu verstehen. Engels sei lediglich ein »philosophischer Autodidakt« gewesen, der »sich nicht um philosophische Feinheiten scherte«.[15] Rockmore erinnert seine Leser daran, dass

Marx an der Universität Philosophie studierte und in diesem Fach seinen Doktor machte. Engels erreichte dagegen keinen Hochschulabschluss. Er studierte Philosophie nur sporadisch. Ihm fehlte einfach die erforderliche Schulung, ganz zu schweigen vom philosophischen Talent, um selbstständig hochwertige philosophische Arbeit zu leisten. Ihm fehlte auch die kultivierte Wertschätzung philosophischer Grundsätze und die philosophische Erfindungsgabe von Marx. Als Philosoph war er bestenfalls ein talentierter Amateur mit Interesse am Thema.[16]

Was für eine widerliche Mischung aus professoraler Arroganz und aufgeblasener Selbstgefälligkeit! Professor Rockmore legt offenbar großen Wert auf akademische Titel, anhand der Geschichte des philosophischen Denkens dürfte es aber nicht leicht sein, einen Zusammenhang zwischen der Befähigung zu ernsthafter philosophischer Tätigkeit und einem Doktortitel oder gar einer Festanstellung an der Philosophiefakultät einer Universität nachzuweisen. Wollte man die Philosophen nach Rockmores Maßstab in ernsthafte und nicht ernsthafte unterteilen, müssten etliche bekannte Namen aus der Geistesgeschichte des Abendlands gestrichen werden – unter anderem der von Spinoza und Descartes. Wie wir der ausgezeichneten neuen Biographie von Desmond M. Clarke über den Begründer des kartesischen Rationalismus entnehmen können, war »Descartes’ formale Bildung eng scholastisch und diente sicherlich nicht als Basis für die grundlegende Neugestaltung des menschlichen Wissens, die er schließlich vornahm«.[17] Und während Rockmore den Begriff »Autodidakt« abwertend meint, fallen viele der größten Denker und Autoren der Geschichte in diese Kategorie.

Rockmores Darstellung von Engels’ geistiger Bildung, ganz zu schweigen vom Ausmaß seines Wissens insbesondere im Bereich der Philosophie, ist ohnehin grundfalsch. Bereits als Engels das Elberfelder Gymnasium abschloss, hatte er einen Grad der Bildung erworben, den, wenn ich eine Vermutung wagen darf, Professor Rockmore unter seinen Doktoranden sehr selten antrifft. Laut seinem Schulzeugnis vom September 1837 (als er noch nicht ganz 17 Jahre alt war), hatte er im Lateinischen folgende Fertigkeit erreicht: »Das Verständnis der betreffenden Schriftsteller, prosaischer wie poetischer Diktion, namentlich des Livius und Cicero, des Virgilius und Horatius, wird ihm nicht schwer, so dass er mit Leichtigkeit in den Zusammenhang größerer Ganze einzugehen, den Gedankengang mit Klarheit aufzufassen und mit Gewandtheit das Vorliegende in die Muttersprache zu übertragen versteht.« In Bezug auf das Griechische heißt es im Zeugnis, Engels habe sich »eine genügende Kenntnis der Formenlehre und der syntaktischen Regeln, insbesondere aber eine gute Fertigkeit und Gewandtheit im Übersetzen der leichteren griechischen Prosaiker, wie des Homer und Euripides erworben, und wusste den Gedankengang in einem platonischen Dialog mit Geschick aufzufassen und wiederzugeben«. Der Verfasser des Zeugnisses drückte ebenfalls seine Hochachtung für Engels’ Leistungen im Bereich der Mathematik, Physik und »Philosophischen Propädeutik« aus.[18]

Bedenkt man, dass Rockmores Buch auf der Behauptung beruht, Engels sei wegen mangelnder Bildung oder Begabungen nicht zu ernsthafter philosophischer Arbeit fähig gewesen, ist es empörend, dass er mit keinem Wort auf den Vorfall in Engels’ früher Laufbahn eingeht, der ihn noch vor seinem ersten Zusammentreffen mit Marx zu einer herausragenden Gestalt des deutschen Geisteslebens machte – seine Widerlegung von Friedrich Schelling. Als Schelling 1841 nach Berlin gerufen wurde, um den Einfluss des Hegelianismus unter radikal-demokratischen Studenten einzudämmen, sorgte das Eintreffen des in die Jahre gekommenen Philosophen in der preußischen Hauptstadt für einen Eklat. Seine Vorlesungen galten als großes philosophisches Ereignis und zogen ein breites Publikum an, zu dem auch der junge Kierkegaard, Bakunin und Engels zählten. Schelling, der in seiner Jugend mit Hegel ein Zimmer geteilt und zeitweise zu seinen engsten Freunden gezählt hatte, wies Hegels objektiv-idealistisches System zurück und wandte sich dem philosophischen Subjektivismus und Irrationalismus zu. Außerdem war Schellings früher Ruhm von Hegel überschattet worden, als dieser zur beherrschenden Gestalt der deutschen Philosophie heranwuchs. Doch nach Hegels Tod im Jahre 1831 sorgten sich die preußischen Behörden zunehmend über die revolutionären Schlüsse, die die Studenten aus dem Werk des verstorbenen Philosophen zogen. Schelling wurde die Aufgabe erteilt, der Ausbreitung der radikalen hegelianischen Seuche Einhalt zu gebieten.

Bei der Verteidigung des Rufs und des Erbes des Hegelianismus spielte niemand anderes als Engels die führende Rolle. Drei Werke, die er zur Jahreswende 1841/42 schrieb – »Schelling über Hegel«, »Schelling und die Offenbarung« und »Schelling, der Philosoph in Christo« – wurden von der linkshegelianischen Jugend als durchschlagende Widerlegung Schellings vom hegelianischen Standpunkt aus gefeiert. Dass Rockmore diese Texte ignoriert, die seine Behauptung, dass »Engels sich weder mit Philosophie noch mit Hegel auskannte«[19], ad absurdum führen, ist theoretisch nicht zu verteidigen.

Engels, der »Positivist«

Rockmore erklärt wiederholt, Engels sei »Positivist« und als solcher der Überzeugung gewesen, die Philosophie sei völlig von der Naturwissenschaft abgelöst worden und habe jede geistige Bedeutung verloren. Laut Rockmore behandelte er »Hegel ständig so, als ob seine Philosophie vorwissenschaftlicher Unsinn sei«.[20] Man hat den Eindruck, Rockmore fühle sich im vorherrschenden Klima der antimarxistischen Reaktion von allen traditionellen wissenschaftlichen Normen befreit. Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, ob sie durch schriftliche Dokumente und historische Aufzeichnungen belegt werden kann, ist nicht von Bedeutung. Er bemüht sich nicht um Klarheit und theoretische Präzision, sondern um die Bestätigung eines vorgefassten ideologischen Programms.

Man könnte mit Leichtigkeit dutzende Seiten mit Zitaten von Engels füllen, in denen er das Genie von Hegel lobt, den er als »universellsten Kopf seiner Zeit« bezeichnete.[21] Engels’ Hochachtung für Hegel kommt besonders deutlich in seiner brillanten Schrift »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« zum Ausdruck. Hier bezeichnet Engels Hegel als »olympischen Zeus«, der imstande sei

einen Reichtum des Gedankens zu entwickeln, der noch heute in Erstaunen setzt. Phänomenologie des Geistes (die man eine Parallele der Embryologie und der Paläontologie des Geistes nennen könnte, eine Entwicklung des individuellen Bewusstseins durch seine verschiedenen Stufen, gefasst als abgekürzte Reproduktion der Stufen, die das Bewusstsein der Menschen geschichtlich durchgemacht), Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes, und diese letztere wieder in ihren einzelnen geschichtlichen Unterformen ausgearbeitet: Philosophie der Geschichte, des Rechts, der Religion, Geschichte der Philosophie, Ästhetik usw. – auf allen diesen verschiedenen geschichtlichen Gebieten arbeitet Hegel daran, den durchgehenden Faden der Entwicklung aufzufinden und nachzuweisen; und da er nicht nur ein schöpferisches Genie war, sondern auch ein Mann von enzyklopädischer Gelehrsamkeit, so tritt er überall epochemachend auf. Es versteht sich von selbst, dass kraft der Notwendigkeiten des »Systems« er hier oft genug zu jenen gewaltsamen Konstruktionen seine Zuflucht nehmen muss, von denen seine zwerghaften Anfeinder bis heute ein so entsetzliches Geschrei machen. Aber diese Konstruktionen sind nur der Rahmen und das Baugerüst seines Werks; hält man sich hierbei nicht unnötig auf, dringt man tiefer ein in den gewaltigen Bau, so findet man ungezählte Schätze, die auch heute noch ihren vollen Wert behaupten.[22]

Wie kann Rockmore angesichts dieser und zahlloser anderer Passagen aus Engels’ Feder behaupten, Engels habe Hegels Werk als »vorwissenschaftlichen Unsinn« abgetan? Rockmore geht offenbar davon aus, dass weder seine Verleger noch die akademische Welt, in der er an seiner Karriere bastelt, an diesen groben Fälschungen Anstoß nehmen. Bei Werken über den Marxismus sind scheinbar alle Ansprüche an wissenschaftliche Genauigkeit aufgehoben. Das vorherrschende Motto lautet: »Alles ist erlaubt!«

Engels über das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft

Rockmores Behauptung, Engels sei als Positivist der Überzeugung gewesen, die Entwicklung der Naturwissenschaft habe die Philosophie überflüssig gemacht, ist nicht weniger falsch. Engels schrieb genau das Gegenteil. Er warnte immer wieder, dass selbst die Arbeit der brillantesten Naturwissenschaftler an ihre Schranken stoße, wenn sie nicht mit der Geschichte des begrifflichen Denkens vertraut seien, die in der Geschichte der Philosophie zum Ausdruck komme. Die »Kunst« des begrifflichen Denkens, die grundlegend für die richtige Interpretation empirischer Forschungsergebnisse sei, betonte Engels, könne man sich nur durch ein sorgfältiges Studium der Philosophiegeschichte aneignen. In einer bedeutsamen Passage schrieb er:

Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, dass die Notwendigkeit, ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach seinem inneren Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbar geworden ist. Ebenso unabweisbar wird es, die einzelnen Erkenntnisgebiete unter sich in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Damit aber begibt sich die Naturwissenschaft auf das theoretische Gebiet, und hier versagen die Methoden der Empirie, hier kann nur das theoretische Denken helfen. Das theoretische Denken ist aber nur der Anlage nach eine angeborene Eigenschaft. Diese Anlage muss entwickelt, ausgebildet werden, und für diese Ausbildung gibt es bis jetzt kein anderes Mittel als das Studium der bisherigen Philosophie.[23]

Ich möchte noch eine weitere Passage zitieren, in der Engels zur Bedeutung der Philosophie genau das Gegenteil von dem schreibt, was ihm Rockmore unterstellt:

Die Naturforscher glauben sich von der Philosophie zu befreien, indem sie sie ignorieren oder über sie schimpfen. Da sie aber ohne Denken nicht vorankommen und zum Denken Denkbestimmungen nötig haben, diese Kategorien aber unbesehen aus dem von den Resten längst vergangener Philosophien beherrschten gemeinen Bewusstsein der sog. Gebildeten oder aus dem bisschen auf der Universität zwangsmäßig gehörter Philosophie (was nicht nur fragmentarisch, sondern auch ein Wirrwarr der Ansichten von Leuten der verschiedensten und meist schlechtesten Schulen ist) oder aus unkritischer und unsystematischer Lektüre philosophischer Schriften aller Art nehmen, so stehn sie nicht minder in der Knechtschaft der Philosophie, meist aber leider der schlechtesten, und die, die am meisten auf die Philosophie schimpfen, sind Sklaven grade der schlechtesten vulgarisierten Reste der schlechtesten Philosophien.[24]

Mittlerweile muss sich der Leser fragen: Wie kann Rockmore trotz der umfangreichen schriftlichen Zeugnisse von Engels Behauptungen aufstellen, die so offenkundig falsch sind? Die Antwort lautet: »Willkommen in der Welt des professionellen akademischen Antimarxismus, in der alles erlaubt ist!«

Der Zweck von Rockmores Angriff auf Engels wird deutlich, sobald er auf Marx zu sprechen kommt. Nachdem er behauptet hat, der philosophisch ungebildete Engels habe den »Marxismus« erschaffen, indem er die Vorstellungen seines lebenslangen Weggefährten und Freundes gefälscht und verzerrt habe, kann Rockmore einen »neuen« Marx vorstellen – einen Marx ohne die materialistische »Erzählung« (um den postmodernen Jargon zu gebrauchen), die Engels angeblich nach Marx’ Tod erfunden hat. Dieser wirkliche Marx hatte, entgegen den Behauptungen Engels’ und mehrerer Generationen »Marxisten«, keine grundlegenden Differenzen zu den philosophischen Anschauungen Hegels. Laut Rockmore ist es

wichtig, über den politisch motivierten, marxistischen Anspruch hinauszugehen, man müsse zwischen Marx und Hegel, zwischen Marx und Philosophie oder zwischen Philosophie und Wissenschaft unterscheiden; denn nur so kann man erkennen, dass Marx letztlich nicht nur ein Philosoph oder ein deutscher Philosoph, sondern ein deutscher Hegelianer und damit ein deutscher idealistischer Philosoph ist.[25]

Wir sollen also glauben, die »Marxisten« hätten, ehe Rockmore die Bühne betrat, Marx’ Festhalten am Idealismus geleugnet und verschleiert. Sie hätten Marx materialistische und antihegelianische Auffassungen zugeschrieben, weil sie in philosophischen Fragen inkompetent waren. »Engels kannte sich weder mit der Philosophie noch mit Hegel aus«, schreibt Rockmore. »Nach Engels gab es kaum Marxisten, einschließlich Lenin, die versierte Kenner Hegels waren … Die Verunglimpfung Hegels durch Marxisten stand einer Würdigung seiner Bedeutung für Marx’ Auffassung lange Zeit im Weg.«[26]

Die Behauptung, »kaum Marxisten, einschließlich Lenin«, hätten Hegel sorgfältig studiert, ist eine weitere offensichtliche Unwahrheit. Wieder verlässt sich Rockmore auf die Zustimmung einer zynischen und gleichgültigen Akademikerzunft. Er geht davon aus, dass er zumindest in dem akademischen Milieu, in dem er verkehrt, ungestraft Dinge schreiben kann, die jeder faktischen Grundlage entbehren. Hat sich Rockmore jemals die Mühe gemacht, die Schriften von G.W. Plechanow zu sichten, dem »Vater des russischen Marxismus«? Selbst wer Plechanows philosophische Auffassungen ablehnt, kann nicht guten Gewissens bestreiten, dass er mit Hegels Schriften umfassend vertraut war. Ist Rockmore nicht mit Lenins »Konspekt zu Hegels ›Wissenschaft der Logik‹« vertraut? Lenin verfasste seine »Philosophischen Hefte«, die seine umfangreichen Anmerkungen zu Hegels »Logik« enthalten, 1914–1915. Ihre spätere Veröffentlichung trug maßgeblich zum Verständnis der umfassenden theoretischen Grundlage bei, auf der Lenins politische Arbeit beruhte. Rockmore scheint nicht zu wissen, dass Lenins »Konspekt« zu einer beachtlichen Wiederbelebung des theoretischen Interesses marxistischer Wissenschaftler an Hegel beitrug. Das gilt auch für Lukács, den Rockmore nach eigenem Bekunden bewundert. Was ist mit den Schriften Trotzkis, der die dialektische Methode meisterhaft beherrschte?[27] Oder den Werken von frühen sowjetischen Theoretikern wie Deborin und Axelrod? Wir könnten auch die Werke späterer sowjetischer Philosophen wie Michail Lifschitz und E.W. Iljenkow erwähnen, die wichtige Beiträge zum Verständnis der Beziehung zwischen Hegel und Marx verfassten – trotz der repressiven Bedingungen unter der Herrschaft einer privilegierten Bürokratie, die (während und nach Stalins Herrschaft) jede ernsthafte theoretische Arbeit bekämpfte.

War Marx ein Idealist?

Wir haben bereits gesehen, dass Rockmores Bemühen, Engels als Positivisten darzustellen, der der Philosophie jede Bedeutung abspricht, vor allem an Engels’ eigenen Worten scheitert. Genauso findet man die Widerlegung von Rockmores Behauptung, Marx sei ein deutscher Idealist gewesen, in Marx’ eigenen Schriften. Die Art und Weise, in der Rockmore um Marx’ Werk herumschleicht und nur spärlich und höchst selektiv daraus zitiert, legt nahe, dass er selbst merkt, auf welch brüchiger Grundlage seine These beruht. Gleich am Anfang muss er zugeben, Marx sei »zum Teil selbst verantwortlich« für die weit verbreitete Auffassung, er habe mit Hegel gebrochen. Er habe in einer oft zitierten Passage im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals »vage« angedeutet, sein eigener Standpunkt sei das Ergebnis einer Umkehrung des Hegelschen. Seit Engels hätten Generationen von Marxisten Marx’ Standpunkt als Umkehrung des Hegelschen verstanden.

In Wirklichkeit ist die Passage, auf die sich Rockmore bezieht, weder vage noch unklar. Marx schrieb im Januar 1873:

Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.[28]

Weder im deutschen Original noch in der englischen Übersetzung findet sich etwas Vages, Verstecktes oder Verwirrtes. Marx sagt unmissverständlich, dass sich seine Methode grundlegend von der Hegelschen unterscheide, dass sie »ihr direktes Gegenteil« sei. Und warum? Weil Hegels Dialektik die eines Idealisten ist, für den die reale Welt lediglich ein Abbild des Denkens darstellt, während für Marx die Formen des Denkens die reale materielle Welt im menschlichen Denken widerspiegeln. Besonders hervorgehoben sei hier Marx’ Formulierung »das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle«. Trotzdem erklärt Rockmore, »es reicht für unsere Zwecke darauf hinzuweisen, dass es in Marx’ Schriften keine Grundlage für die Widerspiegelungstheorie der Erkenntnis gibt, die später von einer langen Reihe von Marxisten übernommen wurde«.[29] Wie gesagt, alles ist erlaubt.

Rockmores Schwierigkeiten mit Marx’ Schriften reißen nicht ab. Über Marx’ »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« schreibt er: »Der Text, der von Marx nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war, zeichnet sich durch Wiederholungen aus und ist qualvoll zu lesen.«[30] Das ist er zweifellos – für Rockmore. Der Grund für sein Unbehagen liegt darin, dass sich der Inhalt von Marx’ »Kritik« nicht mit seinem Bemühen vereinbaren lässt, Marx als hegelianischen Idealisten darzustellen. Die »Kritik« markiert den Beginn der theoretischen Arbeit (an der Engels einen bedeutenden Anteil hatte), die den idealistischen Rahmen von Hegels philosophischem System sprengte, seine dialektische Methode entmystifizierte und die Grundlagen für die Entwicklung einer wirklich materialistischen Ontologie schuf, die auf der historischen Untersuchung des Menschen als gesellschaftlichem Wesen fußt. Die entscheidende Errungenschaft von Marx’ »Kritik«, für die das frühere Werk von Ludwig Feuerbach (den Rockmore praktisch nicht erwähnt) einen wichtigen philosophischen Anstoß gab, bestand in dem Nachweis, dass Hegels spekulativer Idealismus als Mittel der historischen und gesellschaftlichen Analyse ungeeignet sei. Für Hegel waren die logischen Kategorien, die er als objektive Momente der dialektischen Wiederherstellung der Absoluten Idee auffasste, die tiefere, innere Grundlage der materiellen Wirklichkeit. Er leitete die Formen des Seins aus dem dialektischen Prozess des abstrakten logischen Denkens ab. Marx wies nach, dass Hegels Verfahren die wahre Beziehung zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit verkehrte und dadurch eine echte Erkenntnis der »bürgerlichen Gesellschaft« (wie Hegel die bestehende Gesellschaftsordnung nannte) verhinderte. Anstatt die materielle Ursache realer gesellschaftlicher Prozesse ausfindig zu machen, behandelt sie Hegel als abstrakte logische Beziehungen. Marx erklärt:

Der Übergang der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in den politischen Staat ist also der, dass der Geist jener Sphären, der an sich der Staatsgeist ist, sich nun auch als solcher zu sich verhält und als ihr Inneres sich wirklich ist. Der Übergang wird also nicht aus dem besondern Wesen der Familie etc. und dem besondern Wesen des Staats, sondern aus dem allgemeinen Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit hergeleitet. Es ist ganz derselbe Übergang, der in der Logik aus der Sphäre des Wesens in die Sphäre des Begriffs bewerkstelligt wird. Derselbe Übergang wird in der Naturphilosophie aus der unorganischen Natur in das Leben gemacht. Es sind immer dieselben Kategorien, die bald die Seele für diese, bald für jene Sphäre hergeben. Es kommt nur darauf an, für die einzelnen konkreten Bestimmungen die entsprechenden abstrakten aufzufinden.[31]

Als Beispiel zitiert Marx eine typische, verschachtelte und unklare Passage aus Hegels »Philosophie des Rechts«:

Die Notwendigkeit in der Idealität ist die Entwickelung der Idee innerhalb ihrer selbst; sie ist als subjektive Substantialität die politische Gesinnung, als objektive in Unterscheidung von jener der Organismus des Staats, der eigentlich politische Staat und seine Verfassung.[32]

Marx deckt dann die analytische Schwäche und Sophisterei auf, die sich hinter Hegels abstruser Ausdrucksweise verbirgt:

Subjekt ist hier »die Notwendigkeit in der Idealität«, die »Idee innerhalb ihrer selbst«, Prädikat – die politische Gesinnung und die politische Verfassung. Heißt zu deutsch: Die politische Gesinnung ist die subjektive, die politische Verfassung ist die objektive Substanz des Staats. Die logische Entwicklung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat ist also reiner Schein, denn es ist nicht entwickelt, wie die Familiengesinnung, die bürgerliche Gesinnung, die Institution der Familie und die sozialen Institutionen als solche sich zur politischen Gesinnung und politischen Verfassung verhalten und mit ihnen zusammenhängen.[33]

Hegel, schreibt Marx, interessiere nur

»die Idee« schlechthin, die »logische Idee« in jedem Element, sei es des Staates, sei es der Natur, wiederzufinden, und die wirklichen Subjekte, wie hier die »politische Verfassung«, werden zu ihren bloßen Namen, so dass nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden ist. Sie sind und bleiben unbegriffene, weil nicht in ihrem spezifischen Wesen begriffene Bestimmungen.[34]

Die grundlegende Schwäche von Hegels Methode bestehe in Folgendem:

Er entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken. Es handelt sich nicht darum, die bestimmte Idee der politischen Verfassung zu entwickeln, sondern es handelt sich darum, der politischen Verfassung ein Verhältnis zur abstrakten Idee zu geben, sie als ein Glied ihrer Lebensgeschichte (der Idee) zu rangieren, eine offenbare Mystifikation.[35]

Den grundlegenden Fehler von Hegels Herangehensweise fasst Marx so zusammen:

Nicht dass das Denken sich in politischen Bestimmungen verkörpert, sondern dass die vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik.[36]

Rockmore übergeht Marx’ umfangreiche Kritik an Hegels Methodik. Er weist kurz und vage darauf hin, dass Marx Hegel kritisiert habe, weil er den Staat aus der Logik ableite, anerkennt aber nicht die weitreichende Bedeutung dieser Kritik für die theoretische Entwicklung von Marx. Rockmore versucht sie sogar als Missverständnis abzutun: »Wir müssen uns fragen, ob Marx’ Kritik an Hegel Letzterem gerecht wird, oder ob sie vielmehr auf einer falschen Lesart Hegels beruht.«[37] Hier zeigt sich deutlich die intellektuelle Unaufrichtigkeit von Rockmores Vorhaben. Zum einen erklärt er Marx zum hegelschen Idealisten und die nachfolgende Entstehung eines antiidealistischen »Marxismus« zur Fälschung des materialistischen Usurpators Friedrich Engels. Zum anderen gibt der Professor, sobald er sich gezwungen sieht, Werke zu zitieren, in denen Marx Hegel auf materialistischer Grundlage kritisiert, seinen Lesern zu verstehen, dass Marx selbst schlicht nicht wusste, wovon er redete.

Ebenso ausweichend behandelt Rockmore die Arbeiten, die Marx (in enger Zusammenarbeit mit Engels) nach der »Kritik« verfasste und in denen er die hegelsche Dialektik materialistisch entmystifizierte und überarbeitete. Rockmore sagt buchstäblich nichts zu den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844, die Hegels Methode einer ausführlichen und detaillierten Analyse unterziehen. Marx überschrieb sogar ein Kapitel mit dem Titel »Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt«. Er begründete dies mit der Notwendigkeit, sein eigenes Werk von demjenigen Hegels und seiner Epigonen abzugrenzen. Er nahm sich bekannte Linkshegelianer wie Bruno Bauer vor, weil sie keine kritische Haltung gegenüber ihrem Lehrer einnahmen. Andererseits äußerte Marx seine Bewunderung für Feuerbach: »Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, überhaupt der wahre Überwinder der alten Philosophie ist.«[38] Warum hätte Marx Feuerbach derart gepriesen, wenn er sich selbst weiterhin als Hegelianer verstanden hätte?

Das nächste große Werk, das Marx gemeinsam mit Engels verfasste, »Die heilige Familie«, wird von Rockmore ebenfalls abgetan. Er schreibt:

Das Buch enthält viel trockene Polemik gegen Bauer und andere Linkshegelianer. Wenn er in Höchstform ist [d.h. wenn er mit Rockmore übereinstimmt], ist Marx ein scharfsinniger Schriftsteller, der aufmerksam und schnell auf unterschiedliche Nuancen der untersuchten Autoren reagiert und zu brillanten Einsichten fähig ist. Dieses Buch dagegen ist beinahe ausschließlich polemisch, eine Ansammlung vereinfachender Ansichten [d.h. von solchen, die denen Rockmores widersprechen], ihm fehlen die Nuancen der früheren und späteren Schriften von Marx, es verurteilt schneller, als es begreift, und ist voller schroffer Gegensätze.[39]

»Die Heilige Familie«

Mit »Nuancen« meint Rockmore Verschleierung, etwas, das sich in Marx’ theoretischem Werk nicht findet. Dessen Kritik an Hegels Standpunkt ist so klar formuliert, dass sie sich schwer verzerren und fehlinterpretieren lässt. Es ist praktisch unmöglich, die von Marx entwickelten Auffassungen in Übereinstimmung mit der idealistischen Spekulation Hegels zu bringen. »Die heilige Familie« markiert einen wichtigen Schritt vorwärts bei der Herausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung und der Identifizierung des Proletariats als revolutionärer Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft. Die materielle Praxis dieser Klasse, nicht die Eigenbewegung logischer Kategorien, sollte die Grundlage für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft bilden. Die wirkliche Basis der sozialen Revolution fand sich nicht im Denken einzelner Arbeiter, sondern im objektiven gesellschaftlichen Sein des Proletariats als Klasse. Die historischen Implikationen der Kritik, die Marx am deutschen spekulativen Idealismus übte, zeigen sich in folgender Erkenntnis von Marx und Engels:

Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.[40]

Es kann nicht überraschen, dass Rockmore diese wichtige Passage nicht zitiert, in der das Auftreten des Proletariats als neue revolutionäre Klasse einen bewussten theoretischen Ausdruck in den Schriften von Marx und Engels fand. Wahrscheinlich hielt er sie für zu »trocken«, zu arm an »Nuancen«, zu »polemisch« und zu »vereinfachend«, als dass sie einen Kommentar verdient hätte.

Ein weiterer wichtiger Abschnitt in »Die heilige Familie«, den Rockmore bewusst ignoriert, ist eine längere Darstellung der Entstehung des modernen Materialismus. Nachdem er verkündet hat, »der Materialismus tritt bei Engels deutlich als Lehre hervor, aber sicher weniger deutlich bei Marx«,[41] ist Rockmore offensichtlich nicht begeistert darüber, dass Marx in »Die heilige Familie« einen knappen, brillanten Überblick über die Entwicklung des modernen Materialismus seit dem 17. Jahrhundert und über seine Bedeutung für die Entwicklung des sozialistischen Denkens gibt:

Wie der kartesische Materialismus in die eigentliche Naturwissenschaft verläuft, so mündet die andre Richtung des französischen Materialismus direkt in den Sozialismus und Kommunismus.

Es bedarf keines großen Scharfsinnes, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflusse der äußern Umstände auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen. Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, dass er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, dass er sich als Mensch erfährt.[42]

Wegen seiner Geringschätzung der marxschen Kritik am hegelschen Idealismus ist Rockmore unfähig, die Grundlagen von Marx’ Theorie der kapitalistischen Gesellschaft und seine wichtigen Beiträge zur wissenschaftlichen politischen Ökonomie zu verstehen. Er schreibt:

Die zentrale Idee seiner [Marx’] eigenen Wirtschaftstheorie ist nicht seine Werttheorie, auch nicht seine Darstellung der Ware, sein Entfremdungsbegriff oder seine Ansicht zum Fetischcharakter der Ware. Es ist vielmehr die wichtige Einsicht, die auf Adam Smith zurückgeht und teilweise von Hegel entwickelt wurde, dass die moderne Gesellschaft ein Übergangsstadium ist, das sich aus den Bestrebungen von Individuen ergibt, ihre Bedürfnisse im ökonomischen Rahmen der kapitalistischen Welt zu befriedigen.[43]

Eine derart banale Aussage (dass die moderne Gesellschaft aus Individuen besteht, die sich um ihren Lebensunterhalt bemühen) würde man vielleicht in einer Schulstunde über Hauswirtschaftslehre erwarten. Rockmore gibt sie als »wichtige Einsicht« aus, die Marx aus der sorgfältigen Analyse der Schriften Hegels und Adam Smiths (dem er in seinen »Theorien über den Mehrwert« mehrere hundert Seiten widmete) gewonnen habe! Es gibt einen Zusammenhang zwischen dieser abgeschmackten Behauptung und Rockmores falscher Darstellung von Marx’ theoretischer Entwicklung. Rockmore lehnt alle wichtigen Aspekte der allgemeinen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft ab, die Marx ohne Kritik am spekulativen Idealismus und ohne materialistische Überarbeitung der hegelschen Dialektik nicht hätte entdecken und ausarbeiten können. Marx’ Hinwendung zur Ökonomie, die 1844 begann, ergab sich zwangsläufig aus seiner kritischen Haltung gegenüber Hegel, der die Welt aus der Bewegung logischer Begriffe ableitete. Um materialistisch zu erklären, was die wirkliche Grundlage der menschlichen Gesellschaft ist und wie sich diese notwendigerweise in bestimmten gesellschaftlichen Bewusstseinsformen widerspiegelt, musste die Philosophie ihre Aufmerksamkeit vom Himmel auf die Erde richten, weg von Gott in all seinen Erscheinungsformen (auch dem philosophischen Gott von Hegels Absoluter Idee) zum Menschen, weg von der abstrakten Betrachtung des reinen Denkens zur Untersuchung der Arbeit, der wirklichen Grundlage der Schaffung, Reproduktion und kulturellen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.

Um Marx trotz seiner umfassenden und unmissverständlichen Kritik als idealistischen Philosophen darzustellen, der eigentlich nicht mit Hegel gebrochen habe, jongliert Rockmore mit der Terminologie. Er schreibt: »Wenn wir unter ›Idealismus‹ verstehen, dass das Subjekt in gewisser Weise seine Welt und sich selbst hervorbringt, so war Marx zweifellos ein Idealist«.[44] Anders gesagt: Jeder, der akzeptiert, dass bewusste menschliche Wesen auf die Welt einwirken und dabei die Welt und sich selbst verändern, ist ein Idealist. Diese Definition umgeht die zentrale Frage, die Idealismus und Materialismus unterscheidet, und ermöglicht die Vermischung höchst unterschiedlicher und unvereinbarer philosophischer Anschauungen. Nach Rockmores Definition umfasst der Idealismus alle philosophischen Strömungen, die das Bewusstsein als aktive und schöpferische Kraft in der Geschichte ansehen.

Materie und Bewusstsein

Zwei wichtige, miteinander verbundene philosophische Fragen bleiben dabei unbeantwortet. Die erste betrifft die Beziehung zwischen Denken und Materie: Existiert die Materie unabhängig vom Bewusstsein, oder entsteht Bewusstsein unabhängig von der Materie? Geht die Materie dem Denken voraus, oder ist es umgekehrt? Ist die Existenz der materiellen Welt eine absolute Vorbedingung für Bewusstsein, oder kann Bewusstsein (oder Geist) auch ohne die materielle Welt oder unabhängig von ihr existieren? Ging die Entstehung des Universums dem Bewusstsein voraus oder gab es schon Bewusstsein, bevor das Universum entstand? Die zweite Frage, die sich aus der ersten ergibt, betrifft das Wesen und die Verlässlichkeit des Erkenntnisprozesses: Inwiefern kann der Geist wissen, was außerhalb von ihm existiert? Kann das Denken ein genaues Abbild der Wirklichkeit liefern?

Je nachdem, wie sie diese Fragen beantworten, werden Philosophen dem Lager des Idealismus oder des Materialismus zugeordnet. Wer dem Denken in der einen oder anderen Form Vorrang vor der Materie einräumt, ist Idealist. Wer diese Haltung ablehnt, der Materie Vorrang vor dem Bewusstsein gibt und darauf besteht, dass Bewusstsein erst aus der Entwicklung der Materie hervorging, ist Materialist.

Rockmores Definition des Idealismus ist ein Trick, der die entscheidenden philosophischen Fragen verschleiert. Er ist überdies nicht der Erste, der in der unbestreitbaren Tatsache, dass menschliche Wesen bewusst handeln, eine allgemeine Grundlage für den Idealismus entdeckt. So wies Engels darauf hin,

dass alles, was einen Menschen bewegt, den Durchgang durch seinen Kopf machen muss – sogar Essen und Trinken, das infolge von vermittelst des Kopfs empfundnem Hunger und Durst begonnen und infolge von ebenfalls vermittelst des Kopfs empfundner Sättigung beendigt wird. Die Einwirkungen der Außenwelt auf den Menschen drücken sich in seinem Kopf aus, spiegeln sich darin ab als Gefühle, Gedanken, Triebe, Willensbestimmungen, kurz, als »ideale Strömungen«, und werden in dieser Gestalt zu »idealen Mächten«. Wenn nun der Umstand, dass dieser Mensch überhaupt »idealen Strömungen« folgt und »idealen Mächten« einen Einfluss auf sich zugesteht – wenn dies ihn zum Idealisten macht, so ist jeder einigermaßen normal entwickelte Mensch ein geborner Idealist, und wie kann es da überhaupt noch Materialisten geben?[45]

Nicht die Anerkennung »idealer Mächte« oder ihr Einfluss auf Menschen ist der Streitpunkt zwischen Materialismus und Idealismus, sondern die Frage, wie der Ursprung und das Wesen dieser »idealen Mächte« zu verstehen sind. Liegt die Quelle des »Idealen« letztlich außerhalb des Geistes, in der objektiv existierenden materiellen Welt, oder nicht?

Rockmore versucht wiederholt, Marx’ Äußerungen zu dieser Frage falsch darzustellen, obwohl dieser unmissverständlich und durchgängig einen materialistischen Standpunkt vertritt. So schreibt er über die Methode, die Marx beim Verfassen des »Kapitals« anwandte, und zitiert dabei aus dem Nachwort zur zweiten deutschen Auflage. Marx erklärt dort: »… spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun«. Rockmore kommentiert dies mit den Worten:

Marx’ Formulierung kann leicht zu einem Missverständnis führen. Er vertritt offensichtlich nicht die Widerspiegelungstheorie der Erkenntnis, die Engels in den Marxismus einführte. Er sagt auch nicht, Wissen setze voraus, dass der Geist eine unabhängige Welt buchstäblich widerspiegle.[46]

Ideal und Wirklichkeit

Erneut nutzt Rockmore einen Trick, um zu bestreiten, dass Marx Materialist ist, und um dessen Ansichten in Gegensatz zu jenen von Engels zu setzen. Das Wort »buchstäblich« dient der Ablenkung und stiftet Verwirrung. Entscheidend ist die Frage, ob der Verstand eine unabhängige Welt widerspiegelt. Die ideellen Formen, in denen diese Widerspiegelung der materiellen Welt stattfindet, sind komplex und widersprüchlich. Die ideelle Reproduktion der Wirklichkeit im menschlichen Geist erfolgt vermittels eines historisch und gesellschaftlich bedingten Abstraktionsprozesses. In diesem spezifischen Sinne ist der Geist nicht nur ein »Spiegel«, der die vielschichtige Wirklichkeit durch unmittelbare Reflexion wiedergibt.[47] Das ändert aber nichts daran, dass die Bilder, Gedanken und Begriffe, die im menschlichen Geist entstehen, letztlich Abbilder einer objektiven Wirklichkeit sind, die außerhalb des erkennenden Subjektes existiert.

Das Marx-Zitat, das Rockmore anführt, steht im Nachwort zum Kapital kurz nach einem längeren Abschnitt, in dem ein zeitgenössischer Rezensent eines russischen Journals Marx’ philosophische Anschauung und analytische Methode beschreibt und den Marx zustimmend zitiert:

Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozess, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewusstsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewusstsein und Absichten bestimmen … Wenn das bewusste Element in der Kulturgeschichte eine so untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst, dass die Kritik, deren Gegenstand die Kultur selbst ist, weniger als irgendetwas andres, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewusstseins zur Grundlage haben kann. Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen.[48]

Rockmore hat es vorgezogen, diesen Abschnitt nicht zu zitieren.

Stattdessen schließt Rockmore seine bruchstückhafte Analyse des Nachworts mit der Behauptung ab, Marx bestätige »das Offensichtliche, indem er sich zum Hegelianer erklärt …« In Wirklichkeit bezeichnet sich Marx nicht als Hegelianer, sondern wesentlich präziser und korrekter als »Schüler jenes großen Denkers«. Vorher hat er detailliert erklärt, was den materialistischen Schüler vom idealistischen Lehrer unterscheidet. Er schließt die Darlegung der Beziehung zwischen seiner Methode und der Hegelschen mit den Worten:

Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.[49]

Es sollte nun klar sein, dass Rockmore die philosophische Haltung, die Marx von 1843 bis zu seinem Tod im Jahre 1883 vertrat, falsch darstellt, wenn er behauptet, »Marx war zweifellos ein Idealist«[50] und »anders als der Marxismus ist Marx dem Idealismus verpflichtet«.[51] Um diesen Streitpunkt aber endgültig beizulegen, wollen wir noch einmal Marx selbst zu Wort kommen lassen. In einem Brief an seinen Freund Ludwig Kugelmann vom 6. März 1868 kritisiert Marx in scharfen Worten eine Rezension des »Kapitals«, die der junge Professor Eugen Dühring verfasst hatte (der später zum Gegenstand von Engels’ unsterblicher Polemik werden sollte). Marx beschwert sich über Dührings »Betrügereien« und schreibt:

Er weiß sehr wohl, dass meine Entwicklungsmethode nicht die Hegelsche ist, da ich Materialist, Hegel Idealist. Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form, und dies gerade unterscheidet meine Methode.[52]

Es ist kaum vorstellbar, dass Professor Rockmore während der Vorbereitung seines Buchs nicht auf diesen bekannten Brief gestoßen ist. Vermutlich hat er sich einfach entschlossen, ihn zu ignorieren. Somit können die Vorwürfe, die Marx gegen Dühring erhebt, direkt gegen Rockmore gerichtet werden.

Marx, der Reformist

Welchen Zweck verfolgt Rockmore mit dem krampfhaften Versuch, Marx von Engels und vom Marxismus zu trennen und ihn gleichzeitig zum hegelschen Idealisten zu erklären? Wir kommen der Antwort gegen Ende des Buches näher. Rockmore behauptet dort, er habe im dritten Band des Kapitals eine »sensationelle Passage« entdeckt, in der Marx seinen früheren Ansichten über die Notwendigkeit der sozialen Revolution abschwöre. »Laut Marx«, schreibt Rockmore, »besteht die Freiheit, die erst dort beginnt, wo der Zwang zur Arbeit aufhört, in der Kontrolle über den Wirtschaftsprozess zum Vorteil des Menschen. Auch wenn bestehende Bedürfnisse weiterhin durch den Wirtschaftsprozess, d.h. im Reich der Notwendigkeit, befriedigt werden müssen, liegt dahinter das, was Marx nun als Reich der Freiheit bezeichnet. Indem er die Verkürzung des Arbeitstages als Voraussetzung dafür vorschlägt, deutet er an, dass die wirkliche Freiheit als historisches Ziel in der Freizeit zu finden sei.«[53]

Rockmore führt dann ein längeres Zitat von Marx an:

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.[54]

Ich habe diesen Absatz in Gänze so wiedergegeben, wie Rockmore ihn auch in seinem Buch zitiert, so dass der Leser selbst beurteilen kann, ob Rockmores Schlussfolgerung mit dem zu rechtfertigen ist, was Marx tatsächlich geschrieben hat.

Viele Dinge ließen sich über diese bemerkenswerte Passage sagen. Das Offensichtlichste ist, dass Marx, nachdem er viele Jahre für den Kommunismus gekämpft hat, diesen hier als Vorbedingung für wirkliche menschliche Freiheit ebenso offensichtlich aufgibt. Voraussetzung der Freiheit ist nicht länger der Bruch mit der vorausgegangenen Gesellschaftsstufe, d.h. die Revolution, sondern eine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen, d.h. die Reform. Kurz gesagt, Marx ersetzt hier die Revolution durch die Reform.[55]

Ohne Zweifel ließen sich viele Dinge über diese Passage sagen, aber was Rockmore sagt, ist falsch. Um daraus eine Ablehnung der Revolution zugunsten der Reform herauszulesen, muss man buchstäblich jeden Satz in sein Gegenteil verkehren. »Die Freiheit«, erklärt Marx, kann erreicht werden, indem »der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden«. Das ist natürlich nur durch den Sturz des Kapitalismus möglich, einer Produktionsweise, in der die wirtschaftliche Anarchie in Form eines allmächtigen Marktes dominiert. Dann wird die Freiheit – aufgefasst als Entwicklung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen jenseits der Sphäre der Arbeit, die von der Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung und Reproduktion des Lebens diktiert wird – zunehmen. Die Freiheit entwickelt sich aus der Notwendigkeit – d.h. dem Erfordernis, alles aus der Natur zu gewinnen, was zum Leben und zur Reproduktion nötig ist – und bleibt darin verwurzelt. Was die Verkürzung des Arbeitstages betrifft, so dient sie als Maßstab für das allmähliche Überwiegen der Freiheit über die Notwendigkeit – sie ist aber für sich genommen nicht die Verwirklichung der Freiheit, schon gar nicht im Rahmen des Kapitalismus. Nichts in dieser Passage unterstützt die nächste Feststellung Rock­mores:

Der Marxismus hat die bloße Reform traditionell abgelehnt. Doch in dieser Passage scheint Marx die Hoffnung zu hegen, dass die moderne Industriegesellschaft und wirkliche menschliche Freiheit grundsätzlich miteinander vereinbar sind, wenn und nur wenn die Menschen die Kontrolle über den ökonomischen Prozess wiedererlangen, der der tatsächliche Herr in der kapitalistischen Gesellschaft ist.[56]

Aber unter dem Kapitalismus ist weder eine rationale Kontrolle über das Wirtschaftsleben möglich, noch kann das Profitstreben der Verwirklichung rein menschlicher Bedürfnisse untergeordnet werden.

Was Rockmore will – ein Marx ohne historischen Materialismus, ohne Engels, ohne Marxismus –, erweist sich am Ende als ein Marx ohne sozialistische Revolution, ein »Marx«, der nicht nur auf dem Kopf steht, sondern überdies gefesselt und geknebelt ist.

Epilog

Es ist erforderlich, dieser Rezension einen kurzen Epilog anzufügen. Nach »Marx nach dem Marxismus« erschien das Buch »Die philosophische Herausforderung des 11. September«, das Professor Rockmore als Herausgeber verzeichnet. In der Einleitung zu diesem Band, die von Rockmore und Joseph Margolis (Philosophieprofessor an der Temple University) gemeinsam verfasst wurde, lesen wir Folgendes:

Es fragt sich, ob wir uns im Einklang mit den vertrauten Begriffen und Kategorien aus unserer Tradition mit dem 11. September befassen können, und ob diese überhaupt für diese Aufgabe geeignet sind. Wir sind uns unserer analytischen Instrumente nicht mehr gewiss … Die politische Philosophie, wie wir sie kannten, scheint nun veraltet, scheint unfähig, uns in der Stunde der Not zu helfen.

Vermutlich gibt es diese Sackgasse auch in anderen Bereichen. Alle unsere fertigen begrifflichen Gewissheiten wurden durch den 11. September durcheinandergeworfen. Die Vorstellung, wir hätten die Welt mit unseren Theorien erfasst, ist von der Welt selbst matt gesetzt worden. Die Welt hat sich in einer Weise verändert, die für niemanden vorhersehbar war. Wir können die Ereignisse des 11. September nicht beurteilen, indem wir einfach die üblichen Werkzeuge anwenden. Sie widersetzen sich unserem Sinn von lesbarer Ordnung, und wir können nicht sagen, wann sich unsere Kategorien wieder anpassen werden.[57]

Man kann sich kaum eine peinlichere Selbstentlarvung vorstellen als dieses Bekenntnis der theoretischen Lähmung und des intellektuellen Bankrotts angesichts der Realität. Professor Rockmore möchte uns weismachen, dass die entführten Flugzeuge nicht nur das World Trade Center zum Einsturz brachten, sondern auch die Mittel der Erkenntnis und Analyse, die im Verlauf von 2500 Jahren philosophischen Denkens entwickelt wurden.

Rockmore erklärt uns nicht, was genau die Ereignisse vom 11. September so einzigartig unverständlich macht. Nach allem, was im 20. Jahrhundert passiert ist – den Schrecken zweier Weltkriege, dem Holocaust, den stalinistischen Säuberungen, dem Abwurf zweier Atombomben und zahllosen weiteren Akten der Barbarei, die zusammengenommen Hunderte Millionen Menschen das Leben kosteten –, wüsste man gerne, was genau den 11. September 2001 von allen vorausgegangenen Tragödien abhebt. Welche neuen und bis dahin unvorstellbaren Eigenschaften und Kennzeichen hatten die Ereignisse dieses Tages?

Es ist jetzt ziemlich offensichtlich, dass Rockmore nach seinem Angriff auf den Marxismus auf die erste politische Herausforderung des 21. Jahrhunderts völlig unvorbereitet war. Er hat den Tod des »Marxismus« verkündet und erklärt, Marx’ Widerlegung des hegelschen Idealismus sei philosophisch illegitim. Es ist ihm aber offensichtlich nicht gelungen, eine andere zusammenhängende Theorie zu finden, die ihn zur Analyse und zum Verständnis der heutigen Realität befähigt.


[1]

Tom Rockmore, Marx After Marxism: The Philosophy of Karl Marx, Oxford 2002, S. XI (aus dem Englischen).

[2]

Errol Harris, The Spirit of Hegel, New Jersey 1993, S. 11 (aus dem Englischen).

[3]

Ebd., S. 47 (aus dem Englischen).

[4]

Paul Franco, Hegel’s Philosophy of Freedom, New Haven/London 1999, S. IX (aus dem Englischen).

[5]

Ebd., S. 77 (aus dem Englischen).

[6]

David MacGregor, The Communist Ideal in Hegel and Marx, Toronto 1984, S. 3f. (aus dem Englischen).

[7]

Ebd., S. 11 (aus dem Englischen).

[8]

David MacGregor, Hegel, Marx and the English State, Toronto/Buffalo/London 1992, S. 7 (aus dem Englischen).

[9]

David MacGregor, Hegel and Marx After the Fall of Communism, Cardiff 1998, S. 116f. (aus dem Englischen).

[10]

Warren Breckman, Marx, the Young Hegelians, and the Origins of Radical Social Theory, Cambridge 1999, S. 2 (aus dem Englischen).

[11]

Ebd., S. 3 (aus dem Englischen).

[12]

Marx After Marxism, S. 1 (aus dem Englischen).

[13]

Ebd., S. 8 (aus dem Englischen).

[14]

Karl Marx, »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, Vorwort, in: MEW, Bd. 13, S. 10.

[15]

Marx After Marxism, S. 9 (aus dem Englischen).

[16]

Ebd., S. 10 (aus dem Englischen).

[17]

Desmond M. Clarke, Descartes: A Biography, Cambridge 2006, S. 37 (aus dem Englischen).

[18]

Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) I/2, S. 480f.

[19]

Marx After Marxism, S. 162 (aus dem Englischen).

[20]

Ebd., S. 15 (aus dem Englischen).

[21]

Friedrich Engels, »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring)«, in: MEW, Bd. 20, S. 23.

[22]

Friedrich Engels, »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in: MEW, Bd. 21, S. 269f.

[23]

Friedrich Engels, »Dialektik der Natur«, in: MEW, Bd. 20, S. 330.

[24]

Ebd., S. 480.

[25]

Marx After Marxism, S. 161 (aus dem Englischen).

[26]

Ebd., S. 162 (aus dem Englischen).

[27]

In seiner polemischen Antwort auf Professor James Burnham, einen Pragmatiker und erbitterten Gegner Hegels (den er als »seit hundert Jahren toten Erz-Verwirrer des menschlichen Denkens« beschimpfte), zollte Trotzki dem großen deutschen Philosophen Tribut: »Hegel schrieb vor Darwin und vor Marx. Dank des machtvollen Anstoßes, den die Französische Revolution dem Denken gab, nahm Hegel die allgemeine Entwicklung der Wissenschaft vorweg. Aber weil es nur eine Vorwegnahme war, wenn auch die eines Genies, bekam sie von Hegel einen idealistischen Charakter. Hegel arbeitete mit ideologischen Schatten als endgültiger Wirklichkeit. Marx zeigte, dass die Bewegung dieser ideologischen Schatten nichts anderes als die Bewegung der materiellen Dinge widerspiegelte.« (Leo Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 61) Gegen Ende des Fraktionskampfes, der in den Jahren 1939–1940 innerhalb der trotzkistischen Bewegung ausbrach, wies Burnham die sozialistische Politik zurück und begann seine rasche politische Entwicklung hin zur extremen Rechten.

[28]

Karl Marx, »Das Kapital«, in: MEW, Bd. 23, S. 27.

[29]

Marx After Marxism, S. 6 (aus dem Englischen).

[30]

Ebd., S. 47 (aus dem Englischen).

[31]

Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: MEW, Bd. 1, S. 208f.

[32]

Ebd., S. 209.

[33]

Ebd.

[34]

Ebd., S. 211 (Hervorhebung hinzugefügt).

[35]

Ebd., S. 213.

[36]

Ebd., S. 216.

[37]

Marx After Marxism, S. 48 (aus dem Englischen).

[38]

Karl Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844)«, in: MEW, Bd. 40, S. 569.

[39]

Marx After Marxism, S. 75 (aus dem Englischen).

[40]

Friedrich Engels und Karl Marx, »Die heilige Familie«, in: MEW, Bd. 2, S. 38.

[41]

Marx After Marxism, S. 5 (aus dem Englischen).

[42]

Friedrich Engels und Karl Marx, »Die heilige Familie«, in: MEW, Bd. 2, S. 138.

[43]

Marx After Marxism, S. XVI (aus dem Englischen).

[44]

Ebd., S. 70 (aus dem Englischen).

[45]

Friedrich Engels, »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in: MEW, Bd. 21, S. 281f.

[46]

Marx After Marxism, S. 131 (aus dem Englischen).

[47]

Lenin schrieb in seinem »Konspekt zu Hegels ›Wissenschaft der Logik‹«: »Die Logik ist die Lehre von der Erkenntnis. Sie ist Erkenntnistheorie. Erkenntnis ist die Widerspiegelung der Natur durch den Menschen. Aber das ist keine einfache, keine unmittelbare, keine totale Widerspiegelung, sondern der Prozess einer Reihe von Abstraktionen, der Formierung, der Bildung von Begriffen, Gesetzen etc., welche Begriffe, Gesetze etc. (Denken, Wissenschaft = ›logische Idee‹) eben bedingt, annähernd die universelle Gesetzmäßigkeit der sich ewig bewegenden und entwickelnden Natur umfassen. Hier gibt es wirklich, objektiv drei Glieder: 1) die Natur; 2) die menschliche Erkenntnis = das Gehirn des Menschen (als höchstes Produkt eben jener Natur) und 3) die Form der Widerspiegelung der Natur in der menschlichen Erkenntnis, und diese Form sind eben die Begriffe, Gesetze, Kategorien etc. Der Mensch kann die Natur nicht als ganze, nicht vollständig, kann nicht ihre ›unmittelbare Totalität‹ erfassen = widerspiegeln = abbilden, er kann dem nur ewig näher kommen, indem er Abstraktionen, Begriffe, Gesetze, ein wissenschaftliches Weltbild usw. usf. schafft.« (Lenin, Werke, Bd. 38, S. 172).

Und an anderer Stelle bemerkt Lenin: »Erkenntnis ist die ewige, unendliche Annäherung des Denkens an das Objekt. Die Widerspiegelung der Natur im menschlichen Denken ist nicht ›tot‹, nicht ›abstrakt‹, nicht ohne Bewegung, nicht ohne Widersprüche, sondern im ewigen Prozess der Bewegung, des Entstehens der Widersprüche und ihrer Lösung aufzufassen.« (Ebd., S. 185).

[48]

Karl Marx, »Das Kapital«, in: MEW, Bd. 23, S. 26.

[49]

Ebd., S. 27.

[50]

Marx After Marxism, S. 70 (aus dem Englischen).

[51]

Ebd., S. 179 (aus dem Englischen).

[52]

»Marx an Ludwig Kugelmann, 6. März 1868«, in: MEW, Bd. 32, S. 538.

[53]

Marx After Marxism, S. 172f. (aus dem Englischen).

[54]

Ebd., S. 173, die Passage findet sich im Original in: MEW, Bd. 25, S. 828.

[55]

Ebd. (aus dem Englischen).

[56]

Ebd. (aus dem Englischen).

[57]

Tom Rockmore, Joseph Margolis and Armen T. Marsoobian (Hrsg.), The Philosophical Challenge of September 11, Malden MA, Oxford, Carlton Victoria 2005, S. 3.