David North
Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert

Der Mythos vom »ganz gewöhnlichen Deutschen«: Eine Kritik von Daniel Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker«

Vortrag an der Michigan State University in East Lansing vom 17. April 1997.

Seit dem Zusammenbruch von Hitlers Drittem Reich ist wenig mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, und noch immer ringt die Menschheit mit der Bewältigung seiner Grausamkeit und Bestialität. Die Bilder des Massenmords, die sich im Frühjahr 1945 bei der Öffnung der nationalsozialistischen Vernichtungslager boten, werden für immer im Gedächtnis der Menschheit haften. Aber es reicht nicht aus, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau begangen wurden, niemals zu vergessen. Ebenso wichtig ist es, die Bedeutung dieser Verbrechen zu verstehen.

Hier stoßen wir auf ein großes Problem: Obwohl über den Holocaust sehr viel gesagt und geschrieben wurde, bleibt er merkwürdig unverstanden. Zwar wurden große Mengen empirischer Daten über den Holocaust gesammelt. Wir besitzen detaillierte Angaben darüber, wie die Nazis die »Endlösung«, den Mord an sechs Millionen europäischen Juden, organisierten und durchführten. Und trotzdem sind die Fragen, die für ein Verständnis des Holocaust wesentlich sind – nach seinen historischen Wurzeln, seinen politischen Ursachen und schließlich seiner Stellung in der Geschichte des 20. Jahrhunderts –, mit sehr wenigen Ausnahmen kaum behandelt worden, ein eigentlich unhaltbarer Zustand. Ausgerechnet auf die Grundfrage, die der Holocaust aufwirft, »Wie konnte es dazu kommen?«, erhält man nur mit großen Schwierigkeiten eine Antwort.

Oft wird das damit begründet, dass sich der Holocaust einer rationalen Erklärung schlicht entziehe, weil er derart schrecklich war. Wenn man, wie Adorno sagte, nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben konnte, dann durfte man wohl auch nicht mehr viel Vertrauen in die Fähigkeit von Historikern setzen, die Triebkräfte des gesellschaftlichen – oder, in diesem Falle, des gesellschaftsfeindlichen – menschlichen Handelns zu verstehen. Die historische Wissenschaft und die politische Theorie stehen einem solch unfassbaren Abgrund des Bösen angeblich hilflos gegenüber.

Holocaust und Verzweiflung

Für Vertreter einer solchen Auffassung lässt sich aus einer Untersuchung der wirtschaftlichen Grundlagen, der Klassenstruktur und der politischen Auseinandersetzungen, die die europäische und die deutsche Gesellschaft vor dem Aufstieg des Dritten Reichs kennzeichneten, nichts Wichtiges lernen. Mit einer solchen wissenschaftlichen, materialistischen Herangehensweise kann man bestenfalls einige Hintergrundinformationen über die zufälligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gewinnen, unter denen die Kräfte des Bösen, die tief in der menschlichen Seele oder Psyche wurzeln, unausweichlich die moralischen Fesseln der Zivilisation sprengen mussten.

In den 1950er Jahren erschien ein Roman, der für dieses trostlose Menschenbild stand. Die meisten von Euch kennen sicherlich »Herr der Fliegen« von William Golding, dem zufolge die Barbarei der natürliche Zustand der Menschheit ist. Man befreie eine Gruppe durchschnittlicher Schuljungen von den normalen Fesseln der Zivilisation, und sie verwandeln sich innerhalb weniger Wochen, oder noch schneller, in eine Horde mordlustiger Wilder. Dieses misanthropische Werk beruhte auf den Schlussfolgerungen, die Golding aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen hatte. »Wer diese Jahre durchgemacht hat«, schrieb er später, »ohne zu begreifen, dass der Mensch das Böse hervorbringt wie die Biene den Honig, muss entweder blind oder geistesgestört sein.«[1]

Die Popularität von »Herr der Fliegen« war ein Ergebnis der Verwirrung und des Entsetzens über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Solche Stimmungen wurden durch die politischen Verhältnisse nach dem Krieg verstärkt. Nach 1945 war es schwieriger als vorher, eine Diskussion über den Charakter des Dritten Reiches zu führen. Es passte, besonders in den Vereinigten Staaten, nicht ins reaktionäre politische Klima des Kalten Krieges, sich allzu gründlich mit dem Zusammenhang zwischen Faschismus und modernem Kapitalismus zu befassen.

In den 1930er Jahren verstanden politisch gebildete und klassenbewusste Menschen, dass die kapitalistische Gesellschaft in Europa mit dem Aufstieg des Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg auf die revolutionäre Gefahr reagierte, die ihr von der sozialistischen Massenbewegung der Arbeiter drohte. In Mussolinis Italien, Hitlers Deutschland und Francos Spanien wurde deutlich, dass der Faschismus die wütenden Mittelklassen, das Kleinbürgertum, im konterrevolutionären Interesse des Kapitalismus gegen die sozialistische Arbeiterbewegung mobilisiert. Wo der Faschismus an die Macht gelangte, existierte die Arbeiterklasse nicht länger als organisierte politische und gesellschaftliche Kraft.

In den 1930er Jahren wurde aber nicht nur die Beziehung zwischen Kapitalismus und Faschismus weithin verstanden. Die Sozialisten warnten auch immer wieder, dass die kapitalistische Weltwirtschaftskrise, die die Mittelklassen ruiniert und dem Faschismus in die Arme getrieben hatte, die Juden mit der physischen Vernichtung bedrohte.

So schrieb Leo Trotzki 1940:

Die Periode des schwindenden Außenhandels und verfallenden inneren Marktes ist gleichzeitig die Periode der monströsen Steigerung des Chauvinismus, insbesondere des Antisemitismus. In der Epoche seines Aufstiegs holte der Kapitalismus die Juden aus dem Ghetto und benutzte sie als Werkzeug seiner Handelsausbreitung. Heute versucht die verfaulende kapitalistische Gesellschaft, das jüdische Volk aus all ihren Poren herauszupressen; siebzehn von den zweitausend Millionen Erdbewohnern, d.h. weniger als ein Prozent, können auf unserem Planeten keinen Platz mehr finden!

Inmitten der ungeheuren Landflächen und den Wundern der Technik, die dem Menschen Himmel und Erde erschließen, hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planeten in ein widerwärtiges Gefängnis zu verwandeln.[2]

Mit den Grenzen, die die politischen Interessen der US-Regierung einer offenen Diskussion über die Ursache, die Klassengrundlage und die politischen Ziele des Faschismus setzten, entstand ein geistiges Vakuum, in das ahistorische und vollkommen unwissenschaftliche Auffassungen über den Faschismus, das Dritte Reich und den Holocaust eindringen konnten. Das hatte weitreichende Folgen für das öffentliche Bewusstsein. Aus seinem historischen und politischen Zusammenhang gerissen wurde der Holocaust unbegreiflich. Sensationsmache, moralische Plattheiten und existenzialistisches Händeringen prägten mehr und mehr das öffentliche Bewusstsein über den Holocaust.

Wenn es überhaupt eine Lehre aus dem Holocaust gab, dann die, dass der Mensch – wenn man ihm dazu auch nur halbwegs eine Chance gab – zu unaussprechlicher Brutalität fähig sei, und dass es Selbstbetrug sei, wenn man nach dem kaltblütigen Mord an sechs Millionen Menschen noch an den Fortschritt und die Verbesserungsfähigkeit des Menschen glaube. So wurde der Holocaust benutzt, um den Status quo der Nachkriegszeit zu rechtfertigen und den Kampf für eine bessere Welt zu diskreditieren.

Ich behaupte nicht, es seien in den vergangenen fünfzig Jahren keine wissenschaftlich wertvollen Werke erschienen. Mehrere Historiker haben hervorragende Arbeiten über verschiedene Aspekte der Naziherrschaft und des Holocaust veröffentlicht. Aber die Forschungsarbeiten solch herausragender Historiker erreichen das öffentliche Bewusstsein kaum. Ihre Werke werden, besonders in den USA, nur von spezialisierten Fachkollegen zur Kenntnis genommen.

Es ist bezeichnend für den niedrigen Stand des politischen und historischen Bewusstseins, dass man in zeitgenössischen historischen Forschungsarbeiten höchst selten Hinweise auf Leo Trotzkis Schriften zum Nationalsozialismus aus den Jahren 1930 bis 1934 findet, obwohl kein anderer seiner Zeitgenossen die Gefahr und das Zerstörungspotential des deutschen Faschismus so klar verstand.

Goldhagen und die Deutschen

Die größte Aufmerksamkeit finden Werke, die die plumpesten Vorurteile und Missverständnisse nicht in Frage stellen oder sogar bestärken. In diese Kategorie fällt Daniel Goldhagens erfolgreiches, aber erbärmliches Werk »Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust«.

Das Hauptthema von Goldhagens Buch lässt sich leicht zusammenfassen: Die Ursache des Holocaust liegt in der Geistesverfassung und den Überzeugungen der Deutschen. Ein großes nationales Kollektiv, das deutsche Volk, verübte, motiviert von einer rein deutschen antisemitischen Ideologie, den Holocaust als deutsches Unterfangen. Die systematische Ermordung der Juden wurde zum nationalen Zeitvertreib, an dem sich alle Deutschen, denen man Gelegenheit dazu bot, begeistert beteiligten.

Deutsche töteten Juden, weil sie als Deutsche von einem unkontrollierbaren germanischen Antisemitismus besessen waren. Der Hass auf die Juden war die Grundlage der allgemein akzeptierten Weltanschauung des deutschen Volkes.

Die Politik des Regimes war demgegenüber zweitrangig. Goldhagen betont mit Nachdruck, man dürfe die Mörder nicht mit »unangemessenen und vernebelnden Etikettierungen« wie »Nazis« und »SS-Männer« versehen. Er scheint zu glauben, der einzige kausale Zusammenhang zwischen der Vernichtung der Juden und dem Dritten Reich bestehe darin, dass es den Deutschen erlaubte, sich im Einklang mit ihren deutschen Überzeugungen ohne Hemmungen als Deutsche zu betätigen. Er schreibt:

Der in vergleichbaren Fällen übliche Wortgebrauch und die Genauigkeit der Beschreibung erlauben es nicht nur, sondern verlangen geradezu, hier von »Deutschen« zu sprechen. Die Täter waren deutscher Nationalität und handelten im Namen Deutschlands und seines höchst populären Führers Adolf Hitler.[3]

Um nicht von den beeindruckenden Einsichten Goldhagens abzulenken, werde ich mich hier nicht damit aufhalten, dass Hitler Österreicher war, dass seine Rassentheorien ein Plagiat der Schriften des französischen Grafen Gobineau aus dem 19. Jahrhundert waren, dass sein politisches Vorbild Mussolini ein Italiener war, dass sein Chefideologe Alfred Rosenberg aus einer baltischen Provinz des zaristischen Russlands stammte oder dass sein engster Kampfgefährte Rudolf Heß in Ägypten geboren war.

Anstatt uns mit solch unangenehmen Widersprüchen aufzuhalten, wollen wir uns direkt mit Goldhagens Schlussfolgerung befassen,

die lautet, dass der Antisemitismus viele Tausende »ge­wöhn­licher« Deutscher veranlasste, Juden grausam zu ermorden, und dass auch Millionen anderer Deutscher nicht anders gehandelt hätten, wären sie in die entsprechenden Positionen gelangt. Nicht wirtschaftliche Not, nicht die Zwangsmittel eines totalitären Staates, nicht sozialpsychologisch wirksamer Druck, nicht unveränderliche psychische Neigungen, sondern die Vorstellungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten über Juden vorherrschten, brachten ganz normale Deutsche dazu, unbewaffnete, hilflose jüdische Männer, Frauen und Kinder zu Tausenden systematisch und ohne Erbarmen zu töten.[4]

In einer Art plumper Karikatur der kantschen Philosophie stellt Goldhagen die Sache so dar, als sei der Antisemitismus »a priori« im Erkenntnisapparat der Deutschen verankert gewesen. »Die antisemitischen Überzeugungen«, schreibt er, »waren in Deutschland im Grunde genommen unangefochten.«[5]

Ich werde später untersuchen, wie weit Goldhagens Argumente auf Tatsachen beruhen. Zunächst einige Anmerkungen zu seiner Denk- und Analysemethode.

Das üblichste Merkmal des vulgären Denkens besteht in der Neigung, eine komplexe und vielschichtige Realität mithilfe von zu weit gefassten, schwammigen und eindimensionalen Definitionen zu vereinfachen. Das wissenschaftliche Denken bemüht sich, die unterschiedlichen und gegensätzlichen Elemente, aus denen jede Erscheinung besteht, zu identifizieren und in ihrer Wechselwirkung zu untersuchen. Es versucht, Begriffe zu entwickeln, die die Komplexität, d.h. den widersprüchlichen Charakter, der Wirklichkeit, die sich im Denken des Wissenschaftlers widerspiegelt, exakt zum Ausdruck bringen.

Das vulgäre Denken hingegen setzt sich mit hohlen Verallgemeinerungen über die wesentlichen inneren Widersprüche hinweg, aus denen sich die vorgeblich analysierte Erscheinung zusammensetzt. In der Philosophie bezeichnet man eine solche Verallgemeinerung als abstrakte Identität, d.h. als Identität, die jeden inneren Gegensatz ausschließt. Sie ist im schlechten Sinne des Wortes abstrakt, weil sie die Realität im Denken unzulänglich wiedergibt. Die materielle Welt besteht nicht aus solchen in sich undifferenzierten Erscheinungen.

Jede »Identität« beinhaltet einen Unterschied. Hier liegt der Grundfehler des vulgären Denkens: Es operiert mit einseitigen Begriffen der niedrigsten Ordnung, mit abstrakten Identitäten, die kein wissenschaftliches und wirklichkeitsgetreues Abbild der Realität zulassen.

»Ganz gewöhnliche Deutsche«

Der methodische Mangel von Professor Goldhagens Buch zeigt sich bereits im Titel: »Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust«. Beginnen wir damit. Was ist ein »ganz gewöhnlicher Deutscher«? Wer nach einem Lehrbeispiel für »abstrakte Identität« sucht, findet es hier. Es handelt sich um eine derart umfassende Kategorie, dass praktisch jeder darunter fallen kann, außer, so ist anzunehmen, Deutsche jüdischer Abstammung. Denn was macht einen bestimmten Deutschen zu einem »ganz gewöhnlichen«? Ist es eine stattliche Leibesfülle und eine Vorliebe für Knackwurst und Sauerbraten? Sind es blonde Haare, blaue Augen und eine Neigung zum textilfreien Sonnenbaden? Ist es ein Talent zum abstrusen Philosophieren und eine Schwäche für 300 Pfund schwere Wagner-Sopranistinnen? Ein Begriff, der auf solch dummen und willkürlichen Klischees beruht, kann keinen wissenschaftlichen Wert für die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit beanspruchen.

Sobald wir versuchen, ernsthaftere soziologische Merkmale in unsere Definition einzubeziehen, erweist sich der Begriff des »Gewöhnlichen« offensichtlich als wertlos. Die deutsche Gesellschaft hatte im Jahr 1933 eine komplexe Klassenstruktur. War der »ganz gewöhnliche Deutsche« zum Zeitpunkt von Hitlers Machtantritt ein Fabrikarbeiter, ein bankrotter Ladeninhaber, ein demoralisierter Angehöriger des Lumpenproletariats, ein hochverschuldeter Bauer, ein landbesitzender ostpreußischer Junker oder ein Industriemagnat?

Wenn man diese Mitglieder unterschiedlicher Gesellschaftsschichten alle als »gewöhnliche Deutsche« zusammenwirft, bedeutet dies, dass der Begriff des »Gewöhnlichen« die inneren Gegensätze und Konflikte der deutschen Gesellschaft von 1933 nicht wiedergibt. Goldhagen bietet seinen Lesern keine wissenschaftliche Untersuchung der deutschen Gesellschaft, so wie sie 1933 tatsächlich war, sondern – so unangenehm es zu sagen ist – ein idealisiertes Bild einer homogenen Gesellschaft, das unkritisch den Nazi-Mythos des geeinten, durch Blut und Rasse definierten deutschen Volkes bestätigt.

Weil er den Begriff des »ganz gewöhnlichen Deutschen« zur Grundlage seiner gesamten Analyse gemacht hat, sieht sich Goldhagen gezwungen, jeden und alles aus seinem Buch zu verbannen, das sein Klischee erschüttern könnte. Er stellt dem Nazi-Phantom des »ewigen Juden«, des unerbittlichen Feindes des deutschen Volkes, das Phantom des »ewigen Deutschen«, des unerbittlichen und unwandelbaren Feindes des jüdischen Volkes, entgegen.

Weil er eine Nation ohne innere Differenzierung postuliert, mit Ausnahme der Scheidung in Deutsche und Juden, muss Goldhagen auch eine Nation ohne wirkliche Geschichte postulieren. Man findet kaum einen Hinweis auf die Ereignisse und die Persönlichkeiten, die in den hundert Jahren vor Hitlers Machtübernahme die Entwicklung in Deutschland geprägt haben.

Die sozialistische Bewegung taucht in Goldhagens Buch so gut wie gar nicht auf. Man findet auf 553 Seiten keinen einzigen Hinweis auf Karl Marx, Friedlich Engels, Ferdinand Lassalle, August Bebel oder Wilhelm Liebknecht, kein Wort über die Sozialistengesetze Bismarcks, die von 1878 bis 1890 in Kraft waren. Die Sozialdemokratische Partei, die erste Massenpartei der Geschichte, die im Jahr 1912 die größte Fraktion im Reichstag stellte, wird nur im Vorübergehen erwähnt. Man findet keinen Hinweis auf die Revolution von 1918 oder auf den Spartakusaufstand.

Diese Auslassungen sind kein Versehen. Goldhagen kann sich nicht mit der deutschen sozialistischen Bewegung befassen, weil ihre historische Existenz seine gesamte Theorie widerlegt. Man kann aber den Charakter und die Bedeutung des modernen Antisemitismus nicht verstehen, wenn man nicht das Aufkommen der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung studiert.

Politischer Antisemitismus

Feindschaft gegen Juden ist keine moderne Erscheinung, und sie ist nicht auf Deutschland beschränkt. Aber erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Antisemitismus nicht nur in Deutschland, sondern in mehreren europäischen Ländern zu einer ausgeprägten politischen Bewegung. Es ist unbestreitbar, dass dies auf komplexe gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen war, die mit der Entwicklung des modernen Industriekapitalismus zusammenhingen.

Die wichtigste dieser Veränderungen war die Herausbildung einer neuen, mächtigen Gesellschaftsklasse, des Industrieproletariats. Bereits Anfang der 1870er Jahre, und mit Sicherheit nach der Pariser Kommune von 1871, galten die Arbeitermassen, die immer stärker unter den Einfluss sozialistischer Ideen gerieten, als potenzielle revolutionäre Bedrohung kapitalistischer Interessen.

Die privilegierten Klassen – die Bourgeoisie und die noch über bedeutenden Einfluss verfügenden Landbesitzer – reagierten auf diese Gefahr mit dem Versuch, eine Massenbasis zur Verteidigung der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Diese Massenbasis sollte paradoxerweise aus Elementen der Mittelklasse hervorgehen, deren gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung durch die moderne industrielle Entwicklung untergraben wurde.

In Deutschland kündigte sich 1873 mit einem spektakulären Börsenkrach, der die Ersparnisse von Investoren aus der Mittelklasse besonders hart traf, eine schwere Depression an. Rasch entstand eine breite Stimmung gegen Bismarcks Freihandels- und Laisser-faire-Politik. Der unglückliche Umstand, dass auch eine beträchtliche Zahl jüdischer Spekulanten in die Skandale rund um den Börsenkrach verwickelt war, bot der Wut der desorientierten Mittelklassen eine Zielscheibe. Die Gleichsetzung des Juden mit den Übeln des modernen Kapitalismus gewann so eine neue politische Bedeutung.

Die Empfänglichkeit der kleinbürgerlichen Massen für solche Parolen wurde natürlich auch durch althergebrachte religiöse Vorurteile bestärkt. Aber erst die vom Kapitalismus geschaffenen Umstände lenkten diese alten Vorurteile in äußerst reaktionäre Bahnen und verliehen ihnen ihre furchtbare Zerstörungskraft.

Antisemitische Autoren wie Otto Glagau, Rudolf Meyer und Wilhelm Marr, die die Juden als Verkörperung der kapitalistischen Raubgier darstellten, fanden unter verzweifelten Teilen des deutschen Mittelstandes – Kleinhändlern, Handwerkern, Arbeitslosen und verunsicherten Fachkräften – ein beträchtliches Publikum.

Die Bemühungen, die verworrenen antikapitalistischen Gefühle des deutschen Mittelstands gegen die Juden zu lenken, wurden durch den Umstand erleichtert, dass sich die soziale Stellung der deutschen Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts deutlich verbessert hatte. »Spätestens in den 1870er Jahren«, schreibt der Historiker Robert Wistrich, »erschienen die Juden in einer Gesellschaft, die noch nicht völlig verbürgerlicht war, als Bourgeois schlechthin und in einer Nation, die noch nicht völlig modernisiert war, als innovative Modernisierer.«[6]

Wistrich führt Zahlen an, laut denen 22 Prozent aller Angestellten in den Banken und an der Börse im Jahre 1882 Juden waren. Zu einer Zeit, in der die Juden kaum mehr als ein Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachten, stellten sie einen Anteil von 43,25 Prozent bei den Eigentümern und Direktoren von Bank- und Kreditunternehmen. Einige der größten Banken Deutschlands wurden von Juden kontrolliert, beispielsweise Bleichröder in Berlin, Warburg in Hamburg, Oppenheim in Köln und Rothschild in Frankfurt. In den frühen 1900er Jahren stellte der bekannte Ökonom Werner Sombart fest, dass 25 Prozent der Vorstandsmitglieder in den zehn wichtigsten deutschen Industriebranchen Juden waren.

Ein weiteres Kennzeichen des Erfolgs des deutschen Judentums war seine herausragende Stellung in den Fachberufen: 1882 waren 11,7 Prozent aller Ärzte, 8,6 Prozent der Journalisten und 7,9 Prozent aller Rechtsanwälte Juden. Wie diese Angaben schließen lassen, besuchten jüdische Jugendliche in großer Zahl weiterführende Schulen.

Dieser Erfolg lieferte weiteren Stoff für antisemitische Appelle an den deutschen Mittelstand, der missgünstig auf die jüdische Konkurrenz blickte.

In früheren Zeiten hatten sich antijüdische Stimmungen an der angeblichen Sonderstellung der Juden festgemacht, deren Religion und Bräuche sie von der allgemeinen Bevölkerung absonderten. Der neue politische Antisemitismus begehrte nun gegen die übermäßige Integration der Juden ins nationale Leben auf. Untermauert wurde dies mit pseudowissenschaftlichen Rassentheorien, die im späten 19. Jahrhundert große Mode waren. Demagogische Aufrufe zum Kampf gegen das jüdische Kapital gingen einher mit hysterischen Appellen, die germanische Rasse gegen die Gefahr der semitischen Vorherrschaft zu verteidigen. Wilhelm Marr erklärte den »Kampf zwischen ›Semitismus‹ und Germanentum zum unwiderruflichen ›welthistorischen Schicksal‹«.[7]

Der politische Antisemitismus war nicht auf Deutschland beschränkt. In Frankreich entwickelte sich ein analoges Phänomen. Seine Befürworter betrachteten den Antisemitismus als wirkungsvollstes Mittel, Massen von Menschen gegen das aufsteigende sozialistische Proletariat und gegen sämtliche Elemente der liberalen Demokratie zu mobilisieren. Auf der Grundlage des Antisemitismus sollte ein neuer nationaler Konsens geschmiedet werden, er sollte die Klassenspaltungen überwinden, die die kapitalistische Industrialisierung hervorgebracht hatte und auf denen die Anziehungskraft des Sozialismus beruhte. Der reaktionäre Theoretiker Morès sah im Antisemitismus ein Mittel zur Reintegration des Proletariats in den Körper der Nation. »Man muss das Proletariat niederhalten«, schrieb er. »Man muss diesen Leuten etwas geben, was sie verteidigen und erreichen können.« Dieses nationale Vorhaben sollte mittels der antijüdischen Revolution verwirklicht werden.[8]

Der Erzreaktionär Charles Maurras erklärte, man könne ohne Antisemitismus, der die Unterdrückung von Klassengegensätzen erleichtere, keine geschlossene nationale Einheit erreichen. »Alles erscheint unmöglich oder ungeheuer schwierig ohne das Gottesgeschenk des Antisemitismus. Durch ihn kommt alles in Ordnung, die Schwierigkeiten werden beseitigt und alles vereinfacht. Wäre man nicht Antisemit aus patriotischer Überzeugung, so würde man es aus einfachem Nützlichkeitsdenken.«[9]

Vor diesem ideologischen Hintergrund brach 1894 in Frankreich die Dreyfus-Affäre los. Der wohlhabende jüdische Offizier, fälschlicherweise der Spionage für Deutschland beschuldigt, wurde zum Brennpunkt hitziger antisemitischer Agitation. In mehr als 70 Städten und Ortschaften kam es zu antijüdischen Ausschreitungen. »Tod den Juden!«, schrie der Mob. Synagogen wurden angegriffen, Geschäfte jüdischer Besitzer verwüstet und Juden auf der Straße verprügelt.

Ebenso wie in Deutschland bezog die antisemitische Bewegung ihre Unterstützung vorwiegend aus der Mittelklasse, insbesondere von Ladeninhabern und anderen Kleingewerbetreibenden. In Professor Goldhagens Buch werden die Dreyfus-Affäre und die antisemitischen Bewegungen in Frankreich nicht erwähnt.

Eine zentrale Prämisse von »Hitlers willige Vollstrecker« lautet, der Antisemitismus sei durchgängig von allen Teilen der deutschen Gesellschaft gebilligt worden. Professor Goldhagen geht so weit zu behaupten, es gebe keine bedeutsamen oder glaubwürdigen dokumentarischen Belege, die auch nur auf die geringste Opposition zum Antisemitismus in Deutschland schließen ließen. Dass eine derartige Aussage in einem Buch erscheinen kann, das den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, verschlägt einem den Atem.

Der Kampf der Sozialdemokratie gegen den Antisemitismus

Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie als revolutionäre Massenbewegung der Arbeiterklasse – d.h. von den 1870er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 – ist vom unnachgiebigen Kampf gegen den Antisemitismus geprägt. Die politische Arbeit in der Arbeiterklasse setzte eine unversöhnliche Haltung gegen jede Form antisemitischer Propaganda voraus. Neben demokratischen Grundsätzen und moralischen Erwägungen spielte dabei das Verständnis eine Rolle, dass die Verbindung von Antisemitismus mit antikapitalistischer Demagogie die Arbeiterklasse verwirren und den politischen Vertretern der Mittelklasse unterordnen sollte.

Adolf Stoecker gründete die offen antisemitische Christlich-Soziale Arbeiterpartei, um die Arbeiter mithilfe von Judenhetze der zwar illegalen, aber zunehmend einflussreichen Sozialdemokratie abspenstig zu machen. Die Sozialdemokratie reagierte mit einer beeindruckenden Aufklärungskampagne über den reaktionären Charakter des Antisemitismus. Im Wahlaufruf der SPD von 1881 hieß es, der Skandal der antisemitischen Ausschreitungen sei erst durch die Sozialistengesetze möglich geworden. Sie hätten sich nur deshalb nicht zu einer allgemeinen Judenhatz ausgeweitet, weil die Sozialdemokraten die Arbeiterklasse vor diesem schändlichen Treiben, das den niedrigsten Beweggründen entspringe, gewarnt hätten.[10]

Die Gegenoffensive der SPD übte einen starken politischen und moralischen Einfluss auf die Arbeiterklasse aus. Arbeiter stürmten antisemitische Versammlungen und schrien Stoecker nieder. Ein eindrucksvolles Symbol der Opposition der SPD gegen den Antisemitismus war ihr Reichstagskandidat für einen wichtigen Berliner Wahlkreis, der jüdische sozialistische Geschäftsmann Paul Singer. 1887 erhielt Singer bei den Wahlen mehr Stimmen als irgendein anderer Kandidat in der ganzen Stadt. Wistrich schreibt:

Opposition gegen den Antisemitismus war für die Arbeiterbewegung zur Ehrensache geworden … Die energische Kampagne der deutschen Sozialdemokraten gegen Adolf Stoeckers Berliner Bewegung machte die Arbeiterklasse weitgehend immun gegen den Antisemitismus. Sie tilgte nicht sämtliche antijüdischen Vorurteile in der Arbeiterbewegung, machte sie aber zu einer politischen Randerscheinung … Der Kampf gegen Stoecker war ein Kampf für die Sozialdemokratie, für die Rechte der Arbeiterklasse.[11]

Mit ihrem Kampf gegen den Antisemitismus gewann die SPD schließlich breite Unterstützung unter einem Teil der deutschen Bevölkerung, der ihre Aktivitäten jahrelang mit großer Zurückhaltung verfolgt hatte: der jüdischen Mittelklasse. Ungeachtet der wichtigen Rolle, die eine kleine, aber bedeutsame Schicht deutscher jüdischer Intellektueller seit den Anfangstagen der sozialistischen Bewegung gespielt hatte, hielt sich die überwiegende Mehrheit der jüdischen Mittelklasse und Bourgeoisie anfangs der Sozialdemokratie aus eigennützigen wirtschaftlichen Gründen fern. Eine weitere Ursache für die ablehnende Haltung vieler Juden gegenüber der SPD war ihr Bemühen, das möglicherweise innerer Unsicherheit entsprang, dem Regime Kaiser Wilhelms möglichst demonstrativ ihre Loyalität zu beweisen.

Zur Jahrhundertwende jedoch konnten die deutschen Juden nicht länger die Augen davor verschließen, dass die Sozialdemokratie als einzige Partei unzweideutig gegen den Antisemitismus Stellung bezog. Die SPD war sogar die einzige Partei, die Juden als Kandidaten für den Reichstag aufstellte. 1903 stimmte bei der Reichstagswahl erstmals ein bedeutsamer Teil der jüdischen Wähler für die SPD.

Auch dieses wichtige Element der politischen Geschichte Deutschlands vor 1933 findet bei Professor Goldhagen keine Erwähnung.

Der Antisemitismus im zaristischen Russland

Aufgrund des Kampfes der SPD ging der Einfluss antisemitischer Parteien von Mitte der 1890er Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs stark zurück. Zu den gewalttätigsten Ausbrüchen des Antisemitismus kam es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nicht in Deutschland und auch nicht in Frankreich, sondern in Russland.

Mit den blutigen Pogromen reagierte das zaristische Regime direkt auf die wachsende revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse. Die Regierung unterstützte die Bildung rechtsgerichteter paramilitärischer Banden, der sogenannten Schwarzhunderter, um die Arbeiterklasse zu terrorisieren.

Der Historiker Orlando Figes schreibt:

Wie bei den faschistischen Bewegungen in Europa zwischen den Kriegen wurden sie vor allem von jenen verbitterten »Lumpen«-Elementen unterstützt, die als Folge von Modernisierung und Reformen ihr bisschen Status in der sozialen Hierarchie verloren hatten oder zu verlieren fürchteten: entwurzelte Bauern, die als Gelegenheitsarbeiter in die Stadt ziehen mussten, kleine Ladenbesitzer und Handwerker, die durch die Konkurrenz der Großunternehmer unter Druck gesetzt wurden, kleine Beamte und Polizisten, die sich in ihrer Macht durch die neuen demokratischen Institutionen bedroht sahen, und Kneipenpatrioten aller Art, die irritiert waren vom Anblick der »aufsteigenden« Arbeiter, Studenten und Juden, die die gottgegebene Macht des Zaren herausforderten.[12]

Das Regime von Zar Nikolaus II. reagierte 1905 auf die revolutionäre Bewegung mit der Entfesselung einer Terrorwelle, die vor allem auf die Juden abzielte. In den zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Zarenmanifestes vom Oktober 1905, das die Einrichtung demokratischer Institutionen versprach, kam es zu 690 Pogromen. 3000 Juden wurden in dieser Zeit ermordet. Ein Pogrom in Odessa kostete 800 Juden das Leben. 500 wurden verwundet und mehr als 100 000 aus ihren Häusern vertrieben. Bald stellte sich heraus, dass die Pogrome mit direkter Unterstützung der Regierung stattgefunden hatten. Eine zeitgenössische sozialistische Zeitung schilderte den politischen Mechanismus der Pogrome:

Das alte, bekannte Bild! Die Polizei bereitet von langer Hand den Pogrom vor. Die Polizei hetzt auf; in den Regierungsdruckereien werden Aufrufe zur Misshandlung von Juden gedruckt. Die Polizei bleibt zu Beginn des Pogroms untätig. Das Militär sieht den Heldentaten der Schwarzhunderter schweigend zu. Und dann – dann setzt die gleiche Polizei die Komödie eines Untersuchungs- und Gerichtsverfahrens gegen die Pogromhelden in Szene. Untersuchung und Gericht durch Beamte der alten Macht führen stets zum gleichen Resultat: die Sache wird verschleppt, Schuldige an den Pogromen gibt es nicht, manchmal werden sogar die misshandelten und zu Krüppeln geschlagenen Juden und Intellektuellen vor Gericht gezerrt, es vergehen Monate, und die alte, aber ewig neue Geschichte gerät in Vergessenheit – bis zum nächsten Pogrom.[13]

Autor dieses Artikels vom Juni 1906 war Lenin.

Um seine These von der Einzigartigkeit des deutschen Antisemitismus nicht dem störenden Einfluss historischer Tatsachen auszusetzen, unterlässt Goldhagen einfach jeden Hinweis auf die schlimmsten Ausbrüche antijüdischer Gewalt, die vor dem Dritten Reich in Europa stattfanden.

Nach dem Ersten Weltkrieg, der mit dem Ausbruch der Revolution in Deutschland und dem Zusammenbruch der Hohenzollern-Monarchie geendet hatte, wurde der Antisemitismus erneut zu einem wichtigen politischen Organisationsmittel. Die Wirksamkeit des Antisemitismus, der in der Propaganda der Nazis eine große Rolle spielte, stand in direktem Verhältnis zur Verzweiflung des Kleinbürgertums und zur politischen Fehl­orientierung der Arbeiterklasse.

Die Entwicklung nach der deutschen Niederlage im Krieg traumatisierte und ruinierte das Kleinbürgertum. Die Weimarer Republik, gegründet auf den Trümmern einer unterdrückten Revolution, taumelte von einer Krise in die nächste.

Trotzki schrieb:

Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter … In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.[14]

Hitlers Antisemitismus

Hitler artikulierte die Verzweiflung, die Ängste und die Traumata dieses Milieus, das fürchtete, in die Reihen des Proletariats hinabgestoßen zu werden. Selbst ein Abkömmling der unteren Mittelklasse, hatte er seine prägenden Jahre in Wien verbracht, wo die rechte Sensationspresse seine Weltanschauung formte und wo er seinen lebenslangen Hass auf die Arbeiterklasse und den Sozialismus entwickelte. Hitlers Antisemitismus war, wie der mit einer feinen Beobachtungsgabe ausgestattete deutsche antifaschistische Autor Konrad Heiden schrieb, ein Nebenprodukt seines verzehrenden Hasses auf die Arbeiterklasse.

Hitler, erklärt Heiden,

hasste den großen Bereich der menschlichen Existenz, der sich der regelmäßigen Produktion widmet; er hasste die Männer, die sich vom Produktionsprozess vereinnahmen und zerstören ließen. Sein ganzes Leben lang waren die Arbeiter für ihn ein Bild des Schreckens, eine erbärmliche, grauenhafte Masse … Alles, was er später als Redner sagte, um den Handarbeitern zu schmeicheln, war gelogen.[15]

Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis von Hitlers besessenem Judenhass. In »Mein Kampf« schilderte er, wie ihn sein Aufeinandertreffen mit der Arbeiterbewegung zum Antisemitismus bekehrte. Unter Arbeitern stieß Hitler zum ersten Mal auf Juden. Dann stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass viele Juden in der Arbeiterbewegung eine herausragende Rolle spielten. »Da ging ihm ein großes Licht auf«, schreibt Heiden. »Plötzlich wurde die ›Judenfrage‹ klar … Die Arbeiterbewegung stieß ihn nicht ab, weil sie von Juden geführt wurde, sondern die Juden stießen ihn ab, weil sie die Arbeiterbewegung führten.«[16]

Eines steht fest, schließt Heiden: »Nicht Rothschild der Kapitalist, sondern Karl Marx der Sozialist entfachte Adolf Hitlers Antisemitismus.«[17]

Professor Goldhagen hätte geistigen Nutzen aus einer sorgfältigen Lektüre der Hitler-Biographie Heidens ziehen können. Doch dann hätte er möglicherweise ein völlig anderes Werk verfasst, das finanziell vielleicht nicht ganz so einträglich gewesen wäre wie »Hitlers willige Vollstrecker«. Jeder muss sich eben im Leben entscheiden.

Der Antisemitismus war nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland fraglos stark. Dennoch hätte, ungeachtet der Behauptungen Goldhagens, der Hass auf die Juden für sich genommen nicht die politischen Voraussetzungen für Hitlers Aufstieg an die Macht schaffen können. Die Nazis wurden nicht von einer unaufhaltsamen Welle des Antisemitismus an die Macht getragen. Sorgfältige Studien der sozialen Grundlagen der Nazipartei haben festgestellt, dass die Anziehungskraft des Antisemitismus vor 1933 beschränkt war. Die Nazis stellten sogar fest, dass der Antisemitismus in bestimmten Gebieten Deutschlands ihrem Einfluss schadete, und wiesen ihre dortigen Führer an, sich mit antisemitischen Beschimpfungen zurückzuhalten oder sich in ihren Reden sogar jeglicher antisemitischer Äußerungen zu enthalten.

Anhand des Ausmaßes, das der Antisemitismus in Deutschland vor 1933 angenommen hatte, kann man den Sieg der Nazis auf jeden Fall nicht erklären. So abstoßend er gewesen sein mag, war der vorherrschende Antisemitismus nur ein Faktor – und bei weitem nicht der wichtigste – im politischen Leben Deutschlands. Ein politisches Regime, ob ein rechtes oder linkes, entsteht nicht einfach aus der Gesamtsumme aller Vorurteile und Hassgefühle der Bevölkerung. Es ist in letzter Analyse Ausdruck eines bestimmten, im Verlaufe gesellschaftlicher und politischer Kämpfe herausgebildeten Verhältnisses zwischen den Hauptklassen der Gesellschaft. Von entscheidender Bedeutung für den Ausgang dieser Kämpfe sind die politische Führung der widerstreitenden Klassen und das Programm, auf das sie sich stützen.

Könnte man das Ausmaß des Antisemitismus in einem gegebenen Land quantitativ genau bestimmen, würde sich wahrscheinlich herausstellen, dass dieses Gift 1917 in Russland nicht weniger reichlich vorhanden war als 1933 in Deutschland. Trotzdem versetzte die politische Entschlossenheit und Klarheit der Bolschewiki die Arbeiterklasse in die Lage, bedeutende Teile des ländlichen und städtischen Kleinbürgertums unter ihren politischen Einfluss zu bringen, also eine Schicht der Gesellschaft, die nicht gerade für ihre Sympathien für die Juden bekannt war.

Die politischen Kämpfe von 1917 in Russland endeten nicht mit dem Sieg der Faschisten, sondern mit dem der Sozialisten.

Die Niederlage der deutschen Revolution

Der Sieg des Faschismus war keine direkte und unvermeidliche Folge des Antisemitismus, sondern das Ergebnis einer vom Klassenkampf geprägten politischen Entwicklung. Ausschlaggebend war dabei die Krise der sozialistischen Bewegung in Deutschland, die ihrerseits Bestandteil einer umfassenderen politischen Krise des internationalen Sozialismus war.

Hitlers Aufstieg war nicht unaufhaltsam und sein Sieg nicht unvermeidlich. Die Nazis konnten erst an die Macht gelangen, nachdem zwei Massenparteien, die sozialdemokratische und die kommunistische, über die gesamte Nachkriegsperiode hinweg ihren politischen Bankrott bewiesen hatten. Sie erwiesen sich als unfähig, den verzweifelten Massen einen Ausweg aus der kapitalistischen Katastrophe zu zeigen.

Im Rahmen dieses Vortrags ist nur ein kurzer Abriss der Krise der deutschen Arbeiterbewegung möglich.

Im August 1914 gab die Sozialdemokratie bei Kriegsausbruch ihre revolutionären Grundsätze auf und stimmte den Kriegskrediten für die deutsche Regierung zu. Dieser Verrat, das Ergebnis einer langjährigen opportunistischen Degeneration, bedeutete das Ende der SPD als revolutionärer Partei. Von diesem Zeitpunkt an wurde sie immer offener zu einer Säule der bürgerlichen Herrschaft. Die Ereignisse von 1918–1919 bestätigten, dass die SPD ins Lager der Bourgeoisie übergegangen war.

Die sozialdemokratische Regierung, die in der Novemberrevolution 1918 an die Macht gelangte, konzentrierte sich ausschließlich auf die politische und physische Entwaffnung der Arbeiterklasse sowie den Erhalt der kapitalistischen Herrschaft. Im Januar 1919 sorgte sie für die Niederschlagung des Spartakusaufstandes und billigte die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs.

Der Sieg der bolschewistischen Revolution gab den politischen Anstoß zur Gründung der Kommunistischen Partei. Doch die KPD litt von Anfang an an einer dauerhaften Führungskrise. In gewissem Sinne erholte sie sich nie vom Verlust Rosa Luxemburgs. Es gab keinen Führer von vergleichbarer Erfahrung und Fähigkeit, der Luxemburg hätte ersetzen können. Die Herausbildung einer revolutionären politischen Führung ist, wie die Erfahrung der bolschewistischen Partei gezeigt hatte, ein langer und schwieriger Prozess, der nicht Monate, sondern Jahre erfordert.

So war die KPD völlig unvorbereitet auf die revolutionäre Krise, die 1923 nach der französischen Besetzung des Ruhrgebiets ausbrach. Die damals einsetzende Hyperinflation ruinierte die Mittelklassen, untergrub die Autorität der reformistischen Sozialdemokratie und ließ die Unterstützung für die KPD stark anschwellen.

Alle Voraussetzungen für eine soziale Revolution waren in Deutschland gegeben, mit einer Ausnahme – einer politisch reifen und entschlossenen Führung. Als die Krise im Oktober 1923 ihren Höhepunkt erreichte, rechnete man allgemein mit einem Versuch der KPD, die Weimarer Regierung zu stürzen. Tatsächlich wurden Aufstandspläne ausgearbeitet, doch dann in letzter Minute von der nervösen und unentschlossenen KPD-Führung abgesagt. In Hamburg, wo die kommunistischen Arbeiter nicht über die Änderung der Pläne unterrichtet wurden, begann der Aufstand. Doch die isolierte Aktion konnte leicht niedergeschlagen werden. Die bürgerliche Regierung, die nur Tage zuvor ihren eigenen Sturz für nahezu unvermeidlich gehalten hatte, fing sich wieder. Die Krise ging vorüber, und die bürgerliche Herrschaft wurde gefestigt.

In den Folgejahren prägten der wachsende Einfluss der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion und die Unterdrückung der von Trotzki geführten Linken Opposition das politische Leben der KPD. Der Sieg des Stalinismus in der Sowjetunion sollte tragische Folgen für die Kommunistische Partei und die Arbeiterklasse Deutschlands haben.

Die kurze Periode der Stabilität und des Wohlstands, die der Niederlage der Arbeiterklasse 1923 folgte, endete 1929 mit dem Börsenkrach an der Wall Street und dem Beginn der weltweiten Depression. Die deutsche Industrie brach zusammen, Millionen verloren ihren Arbeitsplatz und die Mittelklasse wurde ruiniert. Unter diesen Bedingungen konnte die Nazipartei rasch Massenunterstützung gewinnen.

Hitlers Aufstieg zur Macht

Dennoch blieben die SPD und die KPD, die politischen Organisationen der Arbeiterklasse, mächtige Faktoren in der deutschen Politik. Hinter den beiden Parteien standen Millionen Arbeiter. Angesichts der Gefahr der faschistischen Konterrevolution stand die Arbeiterbewegung vor der dringenden Aufgabe, ihre Kräfte zu einem gemeinsamen Kampf gegen die Nazis zusammenzuschließen.

Die sozialdemokratischen Führer, die sich die Verteidigung des bürgerlichen Weimarer Regimes zur Aufgabe gemacht hatten, widersetzten sich jedoch jeder Zusammenarbeit mit der KPD, selbst wenn es nur darum ging, gemeinsam die Angriffe der Braunhemden abzuwehren. Die KPD hätte trotz der ablehnenden Haltung der Sozialdemokratie von den SPD-Führern verlangen müssen, dass sie, ungeachtet politischer Meinungsverschiedenheiten, einem gemeinsamen Vorgehen der beiden Parteien gegen die nationalsozialistische Gefahr zustimmen.

Auf Anweisung Stalins verfolgte die KPD jedoch einen politischen Kurs, der den Sozialdemokraten und den Faschisten in die Hände spielte. 1928, ein Jahr nach dem Ausschluss Trotzkis und der Linken Opposition aus der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale, hatten die Stalinisten unvermittelt den Anbruch der sogenannten Dritten Periode verkündet, die im Zeichen revolutionärer Entscheidungsschlachten stehen werde. Diese Politik ergänzte die Kollektivierung in der UdSSR und sollte sie rechtfertigen. Praktisch bedeutete die Dritte Periode, dass man die Sozialdemokratie als Anhängsel des Faschismus denunzierte. In Deutschland beharrten die Stalinisten darauf, dass eine Einheitsfront mit der Sozialdemokratie unzulässig sei, weil diese lediglich der linke Flügel des Faschismus sei. Die Sozialdemokraten beschimpften sie als »Sozialfaschisten«.

Diese kriminell verantwortungslose, geradezu wahnwitzige Politik hatte zur Folge, dass ein gemeinsamer Kampf der riesigen sozialistischen Arbeiterbewegung gegen den Faschismus praktisch unmöglich wurde.

In einem äußerst kurzen Abriss der politischen Ereignisse, die Hitlers Ernennung zum Kanzler im Januar 1933 vorausgingen, weist Goldhagen darauf hin, dass die NSDAP bei der Reichstagswahl im Juli 1932 beinahe 14 Millionen Stimmen erhielt, 37,4 Prozent. Diese Zahl ist kursiv gedruckt, um zu unterstreichen, wie überwältigend die Zustimmung für die Nazis war.

Die Stimmenzahl der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei nennt Goldhagen dagegen nicht. Die SPD erhielt 7,95 Millionen Stimmen (21,6 Prozent) und die KPD beinahe 5,3 Millionen (14,3 Prozent). Zusammen betrug die Stimmenzahl der beiden sozialistischen Parteien also mehr als 13,2 Millionen oder 35,9 Prozent. Das politische Leben Deutschlands war zwischen der sozialistischen Revolution und der faschistischen Konterrevolution polarisiert.

Bei der nächsten Wahl im November 1932, die Goldhagen nicht erwähnt, sank die Zahl der Stimmen für die NSDAP dramatisch um 2 Millionen. Insgesamt erhielten sie 11,73 Millionen Stimmen (33,1 Prozent). Die Stimmenzahl der SPD sank auf 7,24 Millionen (20,4 Prozent), während die der KPD auf 5,98 Millionen (16,9 Prozent) stieg. Die Stimmenzahl der beiden sozialistischen Parteien zusammen war nun um knapp 1,5 Millionen höher als die der Faschisten. Zusammen kamen die SPD und die KPD auf 37,3 Prozent.

Diese Wahl war für die Nazis eine politische Katastrophe. Sie zeigte deutlich, dass sie ihren Gipfelpunkt überschritten hatten und dass Hitlers politische Taktik, eine wirre Kombination aus Ultimaten und Schwankungen, die Nazis teuer zu stehen gekommen war. Der renommierte amerikanische Historiker Henry Ashby Turner schreibt in einer jüngeren Studie über das letzte Stadium ihres Aufstiegs zur Macht:

Die Wahl im November brachte Hitler und seiner Partei eine schwere Niederlage. Nach einer Serie dramatischer Stimmengewinne in den letzten drei Jahren geriet der Moloch des Nationalsozialismus ins Wanken. Viele Wähler, die noch im Juli auf eine rasche Machtübernahme und durchschlagende Maßnahmen gegen die Not in Deutschland gehofft hatten, hatten sich enttäuscht von Hitler abgewandt, als er mit seiner Forderung nach dem Amt des Reichskanzlers gescheitert war.[18]

Selbst rein vom Wahlergebnis her betrachtet war die sozialistische Arbeiterbewegung am Vorabend von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler stärker als die Faschisten. Das Potenzial der sozialistischen Arbeiterbewegung als gesellschaftliche Kraft, die eine entscheidende Stellung in der Industrie einnahm, war aber unermesslich viel größer. Wie Trotzki 1931 schrieb:

Auf der Waage der Wahlstatistik wiegen tausend faschistische Stimmen ebenso viel wie tausend kommunistische. Aber auf der Waage des revolutionären Kampfes stellen tausend Arbeiter eines Großunternehmens eine hundertmal größere Kraft dar als tausend Beamte und Büroangestellte samt ihren Frauen und Schwiegermüttern. Die Hauptmasse der Faschisten besteht aus menschlichem Staub.[19]

Und dennoch wurde die Arbeiterklasse durch die verantwortungslose und defätistische Politik ihrer Führung gelähmt. Die Sozialdemokratie klammerte sich an den faulenden Leichnam der Weimarer Republik und tröstete sich damit, dass die demokratische Verfassung den Arbeitern auch dann noch Schutz bieten werde, wenn Hitler an die Macht komme. Die KPD weigerte sich, ihre unheilvolle Taktik zu ändern, und verbarg ihre zunehmende Demoralisierung hinter einer Maske aus bombastischer Demagogie.

Im Januar 1933 fielen die Würfel. Endgültig überzeugt, dass die beiden Arbeiterparteien zu gelähmt waren, um ernsthaft Widerstand zu leisten, lud die deutsche Bourgeoisie Hitler ein, die Macht auf verfassungsmäßigem Weg zu übernehmen. Am 30. Januar 1933 trat Hitler die Kanzlerschaft an, ohne dass ein Schuss gefallen wäre.

Die Arbeiterklasse erlitt die schlimmste Niederlage ihrer Geschichte, und diese Niederlage ebnete der folgenden Katastrophe den Weg.

Gegen Ende seines Buches schreibt Goldhagen über die nationalsozialistische »Revolution«:

Außergewöhnlich war diese Revolution auch darin, dass sie im Innern – trotz aller Unterdrückung der politischen Linken in den ersten Jahren – ohne massiven Zwang und Gewalt durchgesetzt wurde … Und im großen und ganzen war es auch eine friedliche Revolution, die das deutsche Volk vor allem innenpolitisch zustimmend verfolgte und mittrug.[20]

Bevor ich diese Worte las, hatte ich dazu geneigt, Goldhagen als ziemlich traurige und etwas lächerliche Gestalt zu sehen, als jungen Mann, den die Beschäftigung mit dem Schicksal der europäischen Juden geistig und wohl auch emotional traumatisiert hatte. Aber in diesem Absatz zeigt er seine hässliche Seite: Sieht man von der Behandlung der Juden ab, war die Nazi-«Revolution« – das Wort »Konterrevolution« verwendet Goldhagen nicht – eher gutartig. Die »Unterdrückung der politischen Linken« setzt er zwischen Bindestriche und deutet damit an, dass er sie für belanglos hält.

Die Behauptung, die Machtübernahme der Nazis sei »eine friedliche Revolution« gewesen, »die das deutsche Volk … zustimmend verfolgte und mittrug«, ist eine abscheuliche Fälschung. Was Goldhagen als »Unterdrückung der politischen Linken« bezeichnet, war in Wirklichkeit die physische Zerschlagung von sozialistischen Massenparteien, die die Hoffnungen und Bestrebungen von Millionen Arbeitern und der besten Vertreter der deutschen Intelligenz nach einer gerechten und anständigen Welt verkörperten. Der deutsche Sozialismus war nicht nur eine politische Bewegung; er war, bei all seinen inneren Widersprüchen, Quelle und Ausdruck einer außerordentlichen Blüte des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur. Seine Zerstörung bedurfte der barbarischen Methoden der Nazis.

Die Bücherverbrennung, die Flucht von Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern aus Deutschland, die Errichtung des Konzentrationslagers Dachau und die Einkerkerung Tausender linker politischer Gegner, das Verbot sämtlicher Parteien mit Ausnahme der Nationalsozialisten, die Auflösung der Gewerkschaften – das waren die wichtigsten Errungenschaften der »friedlichen Revolution« des Nazi-Regimes in den ersten Monaten seines Bestehens.

Trotz des Terrors, den die Nazis entfesselten, gab es eine ständige und umfangreiche Opposition.

Der Historiker F.L. Carsten schreibt:

Doch eine starke Minderheit von Sozialdemokraten und Kommunisten war nicht zur Unterwerfung bereit und lehnte es ab, passiv hinzunehmen, was immer ihnen das neue Regime befehlen mochte. Der grausame Terror zur Zeit der »Machtergreifung« und die vielen Tausende von Verhaftungen in den ersten Monaten festigten sie in ihren Ansichten. Zahllose Arbeiter reagierten, indem sie sich kleinen illegalen Gruppen anschlossen, illegale Flugblätter und Schriften verteilten und der offiziellen Propaganda so gut sie konnten entgegenwirkten. 1933 und 1934 entstanden überall in Deutschland kleinere oder größere illegale Gruppen – und oft wurden sie ebenso schnell, wie sie entstanden waren, von der Gestapo »aufgerollt« … Nach einer zuverlässigen Schätzung wurden zwischen 1933 und 1935 etwa 75 000 Mitglieder [der KPD] verhaftet und mehrere tausend hingerichtet oder ermordet –, was etwa einem Viertel der Mitgliederzahl von 1932 entspricht.[21]

Der Nazi-Terror schüchterte Millionen Deutsche ein und zwang sie in die Knie. Große Teile der Arbeiterklasse, niedergeschlagen und demoralisiert durch den schändlichen Zusammenbruch ihrer Organisationen, verfielen in Apathie. Doch selbst angesichts der erbarmungslosen Brutalität der Nazis gab es unter Arbeitern noch bedeutsame aktive Opposition gegen das Regime.

Carsten erklärt:

Wenn auch die große Mehrheit der Arbeiter ihren Frieden mit dem Regime machte, so bleibt doch die Tatsache, dass das Gros derer, die aus politischen Gründen verhaftet wurden, zur Arbeiterschaft gehörte. Von 21 823 Deutschen, die auf der »Steinwache« in Dortmund inhaftiert waren, war die übergroße Mehrheit Arbeiter. Von 629 Solingern, die zur politischen Opposition gehörten, waren 384 Arbeiter, und vermutlich kamen auch viele der 49 Hausfrauen aus der Arbeiterschaft (bei 92 fehlt eine Angabe). In Oberhausen an der Ruhr stieg die Zahl der Arbeiter unter den politisch Verfolgten auf über 80 Prozent. In Gegenden mit weniger Industrie würden die Zahlen niedriger gewesen sein, aber zweifellos stellte die Arbeiterschaft die Mehrheit derer, die für ihre politische Überzeugung litten. In den Jahren 1933 bis 1944 wurden in Essen 2162 und in Düsseldorf 1721 Leute, darunter 297 Frauen, wegen linker politischer Tätigkeit verhaftet. Während der Kriegsjahre wurden im Zuchthaus Brandenburg 1807 Menschen aus politischen Gründen hingerichtet, von denen 775 Arbeiter oder Handwerker waren. Sie konnten das Regime nicht stürzen, aber das war ohnehin eine unmögliche Aufgabe. Als das 1944 von militärischen und konservativen Gruppen versucht wurde, scheiterten sie völlig. Erst nach einem verlorenen Krieg, in dem Deutschland zerstört wurde, brach das Hitlerregime zusammen, und noch bei seinem Zusammenbruch riss es viele seiner Gegner mit in den Abgrund. Für die Diktatur war die zusammenhangslose Opposition nur ein Ärgernis, trotzdem wurde sie wie andere Minderheiten gnadenlos verfolgt.[22]

Tatsachen wie diese sucht man in »Hitlers willige Vollstrecker« vergebens. Goldhagen hinterlässt den Eindruck, dass ihn die Folgen des Faschismus für alle, die nicht Juden sind, nicht besonders berühren. Diese Gefühlskälte ergibt sich aus seiner engstirnigen und verbitterten Einstellung: Weil er den Holocaust als Verbrechen der »ganz gewöhnlichen« Deutschen an den Juden auffasst, interessiert ihn nicht besonders, was sich die Deutschen gegenseitig antaten. Jedenfalls erlaubt es ihm seine These nicht, die beträchtliche Opposition gegen Hitler unter Deutschen zur Kenntnis zu nehmen.

Dies ist nicht nur faktisch falsch. Die Ironie von Professor Goldhagens Auffassung liegt darin, dass sie es ihm unmöglich macht, die Ursache des Holocaust oder seine universelle, welthistorische Bedeutung zu verstehen.

Der Sozialismus und das Schicksal der Juden

Das Schicksal der Juden als historisch unterdrücktes Volk und das Schicksal der Arbeiterklasse waren auf unlösliche und tragische Weise miteinander verknüpft. Der Untergang der deutschen sozialistischen Bewegung ebnete der Vernichtung der europäischen Juden den Weg. Die demokratischen Rechte der Juden, ihr bloßes Recht auf Existenz, hingen von der politischen Stärke der Arbeiterklasse ab. Der Massenmord an den Juden begann nicht schon 1933. Bevor ein Verbrechen von diesen Ausmaßen organisiert und durchgeführt werden konnte, mussten die Nazis alles einschüchtern und vernichten, was in der deutschen Gesellschaft geistig lebendig, fortschrittlich und human war.

Der Holocaust war in letzter Analyse der Preis, den das jüdische Volk und die gesamte Menschheit dafür bezahlten, dass es der Arbeiterklasse nicht gelang, den Kapitalismus zu stürzen.

Diese Lehre darf man nicht vergessen. Wir leben in einer Welt, in der die Widersprüche des Kapitalismus erneut explosive Dimensionen annehmen. Massen von Menschen werden durch das irrsinnige Wirken des globalen Kapitalismus an den Rand geschoben oder ganz aus dem Produktionsprozess verdrängt. In praktisch jedem europäischen Land steht die Arbeitslosenrate inzwischen bei zehn Prozent oder höher. Ohne eine glaubwürdige Alternative zum gesellschaftlichen Wahnsinn des kapitalistischen Weltmarkts bleiben die desorientierten Opfer des Kapitalismus anfällig für die Sprüche rechtsgerichteter Demagogen.

Erst kürzlich berichtete die »New York Times« über das Wiederaufleben des Antisemitismus in Russland:

Enttäuscht über die schmerzhaften wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen, die dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion im Jahr 1991 folgten, und angespornt von Politikern, die sich ihrer Verbitterung willig bedienen, greifen viele Leute auf den traditionellen Sündenbock zurück: die Juden.[23]

Welchen Wert hat Goldhagens Buch, wenn es darum geht, solchen Gefahren entgegenzutreten?

Angesichts der Vertiefung der Wirtschaftskrise und zunehmenden gesellschaftlichen Verwerfungen gewinnen die politischen Lehren aus den 1930er Jahren wieder große Bedeutung für die heutige Zeit. Deshalb muss man den Ursprung und die wirklichen Ursachen des Holocaust untersuchen und verstehen.


[1]

Andrew Michael Roberts, The Novel: From Its Origins to the Present Day, London 1993, S. 173 (aus dem Englischen).

[2]

Leo Trotzki, »Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution«, in: Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 212f.

[3]

Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 19.

[4]

Ebd., S. 22.

[5]

Daniel Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996, S. 33 (aus dem Englischen; der Satz fehlt in der deutschen Ausgabe auf S. 51).

[6]

Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews: The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London und Toronto 1982, S. 56 (aus dem Englischen).

[7]

Zitiert in: Wistrich, ebd., S. 53 (aus dem Englischen).

[8]

Zitiert in: Zeev Sternhell, Neither Right Nor Left: Fascist Ideology in France, Princeton 1986, S. 45f. (aus dem Englischen).

[9]

Zitiert in: Zeev Sternhell, Mario Sznajder und Maia Asheri, Die Entstehung der faschistischen Ideologie, Hamburg 1999, S. 112.

[10]

Zitiert nach Wistrich, ebd., S. 94.

[11]

Ebd., S. 94–101 (aus dem Englischen).

[12]

Orlando Figes, Russland: Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, S. 213.

[13]

W.I. Lenin, »Die Reaktion beginnt den bewaffneten Kampf«, in: Werke, Bd. 10, S. 515.

[14]

Leo Trotzki, »Porträt des Nationalsozialismus«, in: Schriften über Deutschland, Bd. 2, Frankfurt 1971, S. 572.

[15]

Konrad Heiden, Der Fuehrer, Boston 1944, S. 58 (aus dem Englischen).

[16]

Ebd., S. 66 (aus dem Englischen).

[17]

Ebd. (aus dem Englischen).

[18]

Henry A. Turner, Hitlers Weg zur Macht, München 1997, S. 27.

[19]

Leo Trotzki, »Soll der Faschismus wirklich siegen?«, in: Schriften über Deutschland, Bd. 1, Frankfurt 1971, S. 159.

[20]

Hitlers willige Vollstrecker, S. 534.

[21]

Francis L. Carsten, Widerstand gegen Hitler: Die deutschen Arbeiter und die Nazis, Frankfurt und Leipzig 1996, S. 262f.

[22]

Ebd., S. 266; ergänzt nach der englischen Ausgabe: F.L. Carsten, The German Workers and the Nazis, Aldershot 1995, S. 180.