David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Cannons »Amerikanische Thesen«

Wir wollen nun den nächsten Punkt untersuchen, den Banda gegen das Internationale Komitee der Vierten Internationale anführt. In seiner Hetzschrift heißt es:

Die bedeutsamste Revision in der Periode unmittelbar nach dem Krieg waren Cannons Amerikanische Thesen von 1946, eine Fortsetzung seiner Orientierung zur Landesverteidigung, verkleidet in scheinbar revolutionäre Phrasen. Sie verherrlichten die Sonderstellung Amerikas und schrieben die sozialistische Revolution in Europa unter dem Deckmantel eines besonderen amerikanischen Wegs zum Sozialismus ab. Damit lehnten sie auch die kollektive theoretische Zusammenarbeit zur Fortsetzung von Trotzkis Arbeit und zur Konkretisierung seiner historischen Prognose ab.

Auch an diesem Angriff sehen wir, wie erbärmlich dürftig Bandas Wissen über die Geschichte der trotzkistischen Bewegung ist. Er führt die »Amerikanischen Thesen« – so wurde das Perspektivdokument genannt, das die SWP auf ihrer Parteikonferenz 1946 verabschiedete – als Meilenstein im Verfall der SWP und der Vierten Internationale an. Aber jeder, der sich dieses Dokument ansieht, wird feststellen, dass sein Inhalt nicht im Geringsten Bandas Darstellung entspricht. Vermutlich hat Banda die »Amerikanischen Thesen« noch nicht einmal selbst gelesen.

Die »Amerikanischen Thesen« waren ein Ergebnis des Kampfs gegen die rechte Morrow-Goldman-Minderheit, die mit Unterstützung von Max Shachtman die sozialistische Revolution in Europa abgeschrieben hatte und jeden Gedanken daran, dass die amerikanische Arbeiterklasse den Kapitalismus in den USA stürzen könne, höhnisch von sich wies.

Ihre Forderung, die trotzkistische Bewegung solle ihre politische Arbeit darauf konzentrieren, bürgerlich-demokratische und reformistische Forderungen zu unterstützen, ergänzte sie durch einen immer hysterischeren Anti-Sowjetismus, den Jean van Heijenoort 1946 in einem Dokument mit dem Titel »Der Ausbruch des bürokratischen Imperialismus« zusammenfasste.

Jeder Kampf innerhalb der Partei ist eine Widerspiegelung des Klassenkampfs, und der Kampf gegen die Morrow-Goldman-Tendenz 1944–1946 bildete hierin keine Ausnahme. Wie 1939–1940, aber unter anderen und politisch weiterentwickelten Bedingungen, stießen die proletarischen Kräfte innerhalb der SWP unter Führung von Cannon mit einer rechten, kleinbürgerlichen Clique zusammen. Der Kampf zeigte die beträchtlichen politischen Fortschritte der SWP seit 1940. Sie hatte mit Erfolg die Proletarisierung durchgeführt, für die Trotzki eingetreten war, und hatte sich tiefer in der amerikanischen Arbeiterklasse verwurzelt.

Im Gegensatz zu 1940, als Shachtman auf die Unterstützung von nahezu der halben Partei zählen konnte, war die Morrow-Goldman-Tendenz weitgehend isoliert, und dies unter Bedingungen, wo die SWP weit größer war als während der Spaltung mit Shachtman. Zwischen der Inhaftierung der 18 SWP-Mitglieder im Januar 1944 und dem 12. Parteitag im November 1946 hatte die SWP mehr als 1 000 neue Mitglieder rekrutiert und Fraktionen in allen Gewerkschaften der Schlüsselindustrien aufgebaut.

Der Kampf gegen Morrow und Goldman ist gelegentlich als Nachwehen der Spaltung mit Shachtman bezeichnet worden. Aber die politischen Fragen, die Shachtman vom Trotzkismus und die kleinbürgerlichen Radikalen von der marxistischen proletarischen Vorhut trennten, waren jetzt schärfer umrissen. Dies war ein Ausdruck der Weiterentwicklung des Klassenkampfs in den USA und der qualitativ gewachsenen Rolle des amerikanischen Imperialismus in der Nachkriegsperiode. Die Goldman-Morrow-Tendenz widerspiegelte die Desertion breiter Schichten der kleinbürgerlichen Intelligenz aus der Arbeiterbewegung in das Lager des US-Imperialismus.

Die SWP führte einen unerbittlichen Kampf gegen diese Tendenz, und schon dies zeigt, auf welche Klassenkräfte sich ihre Führung stützte. Aber mit der Frage, welche Klasseninteressen Cannon und die SWP in ihrem Kampf gegen Morrow und Goldman verteidigten, will sich Banda nicht befassen. Die Antwort auf diese Frage wird sehr klar, wenn man die weitere Entwicklung der Führer dieser Tendenz verfolgt.

Morrow hatte 1948, als der Kalte Krieg entstand und die antikommunistische Säuberungswelle in der Arbeiterbewegung in vollem Gange war, vollkommen mit der revolutionären Politik gebrochen. Er ging in das Verlagsgeschäft und wurde allem Anschein nach Millionär. Beim Ausbruch des Korea-Kriegs 1950 unterstützte er den amerikanischen Imperialismus. Goldman brach nach einem kurzen Zwischenspiel in der Workers Party ebenfalls gänzlich mit der sozialistischen Bewegung. Er unterstützte die Intervention des US-Imperialismus gegen Korea und lieferte später dem Federal Bureau of Investigation (FBI) Informationen. Auch van Heijenoort verließ die sozialistische Bewegung und wurde zum glühenden Antikommunisten. Aus Gründen, die er niemals offenlegte, führte er weiterhin sorgfältig Buch über seine alten Kontakte innerhalb der trotzkistischen Bewegung. 1982 wurde er im Rahmen eines Prozesses, in dem Agenten in der Führung der SWP entlarvt werden sollten, von den Anwälten Alan Gelfands als Zeuge vernommen. Als van Heijenoort gefragt wurde, ob er als Informant für die Regierung gearbeitet habe, verweigerte er die Aussage.

Die »Amerikanischen Thesen« waren der Höhepunkt des Kampfs gegen diese rechte und degenerierende Tendenz, die sich genau wie Henry Luce und die Truman-Regierung einbildete, der Zweite Weltkrieg habe das »Amerikanische Jahrhundert« eröffnet – was Cannon zu der Bemerkung veranlasste: »Manche Jahrhunderte sind kürzer als andere.«

Die »Amerikanischen Thesen« verherrlichten nicht die »Ausnahmestellung Amerikas«, wie Banda behauptet, sondern richteten sich umgekehrt gegen all diejenigen, die sich auf eine solche Ausnahmestellung beriefen, um die Unmöglichkeit der sozialistischen Revolution zu beweisen. In einem Bericht vor dem Politischen Komitee der SWP betonte Cannon vor der Veröffentlichung der »Thesen«, dass wirklicher Internationalismus unvereinbar sei mit einer skeptischen Haltung zur sozialistischen Revolution in den USA selbst. Auf die Entwicklung der amerikanischen radikalen Bewegung zurückblickend erklärte er, dass der Internationalismus bisher hauptsächlich vom Standpunkt der internationalen Solidarität mit Kämpfen in anderen Ländern her aufgefasst worden sei, und nicht als Weltperspektive, in der die Entwicklung des Klassenkampfs in den USA als Bestandteil der Weltrevolution verstanden werde. Diese nationalistische Anschauung, sagte er weiter, sei vor allem von Jay Lovestone und seinen Anhängern vertreten worden, deren Theorie »über eine ›Ausnahmestellung Amerikas‹ … im Wesentlichen auf die These hinauslief, dass Amerika für eine ganze Epoche von der revolutionären Entwicklung ausgeschlossen sein werde«.[1]

Cannon bemerkte, dass der Wall-Street-Krach von 1929 und die Große Depression das Augenmerk nicht nur der Arbeiter, sondern auch von Intellektuellen aus der Mittelklasse auf die revolutionären Möglichkeiten in den USA gelenkt hatten. Durch das Kriegsende und die wirtschaftliche Wiederbelebung waren sie jedoch zu einer Rückkehr zu ihren alten Ansichten veranlasst worden, was sich am klarsten in den Perspektiven der Shachtman-Gruppe und der Minderheit in der SWP ausdrückte.

Während des Sommers, als wir diese Gedanken diskutierten und einige von ihnen in Kalifornien ausformulierten … hatte ich Gelegenheit, sehr gründlich die Dokumente der Shachtman-Gruppe zu studieren und festzustellen, inwieweit sie sich mit der Frage der Perspektiven für die amerikanische Revolution befasst haben. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatten …

Wir haben stets an die amerikanische Revolution geglaubt und daraus – selbst wenn wir das nie verallgemeinert haben – unsere Auffassung der Partei abgeleitet: zum Beispiel einer revolutionären Kampfpartei, einer professionellen Führung, einer optimistischen Moral, harter Anforderungen an die Mitgliedschaft. Goldman, später Morrow und andere, griffen uns wegen dieser abgeleiteten Auffassungen an. Sie sind gegen eine homogene Partei. Sie sind gegen dieses dumme Gerede über Kampf. Sie sind gegen Disziplin. Morrow bezeichnete auf der letzten Vollversammlung unsere revolutionären Aufrufe als »Opium«. Wir betäubten die Partei mit Fantasien usw. Wenn man einen Augenblick darüber nachdenkt, dann ist diese Debatte über die Auffassung der Partei ziemlich steril, wenn sie von unserer Umgebung und unseren Perspektiven getrennt wird. Wenn der Sozialismus nur eine entfernte Hoffnung ist, ein moralisches Ideal, ein Endziel, auf das man hofft, wie Gutgläubige auf die moralische Erneuerung der Welt hoffen, wozu zum Teufel braucht man dann noch eine feste, disziplinierte Kampfpartei mit einer professionellen Führung? Sie wird zur Karikatur.[2]

Folgende Antwort Cannons auf die Skeptiker von der Shachtman-Morrow-Schule hat auch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt:

Meiner Meinung nach gibt es kein schlimmeres Urteil gegen eine Partei als mangelndes Vertrauen in ihre eigene Zukunft. Ich glaube nicht, dass jemals eine Partei eine Revolution führen kann, die nicht einmal den Ehrgeiz dazu hat. Das gilt für Shachtmans Gruppe und für Goldman und Morrow. Shachtmans Gruppe sagt ausdrücklich, dass weder ihre noch unsere Partei die Partei der kommenden Revolution ist. Irgendwo und irgendwie, aus irgendetwas, hoffen sie, wird eine solche Partei entstehen.

Für uns ist es selbstverständlich, dass unsere Partei die Revolution führen wird.[3]

Bandas Angriff auf die »Amerikanischen Thesen« beantwortet man am besten mit ausführlichen Zitaten aus eben diesem Dokument. Der Leser mag dann selbst beurteilen, ob Cannon »die Ausnahmestellung Amerikas« verherrlichte und »die sozialistische Revolution in Europa abschrieb«.

Das Dokument beginnt mit folgenden Absätzen:

I. Die Vereinigten Staaten, das mächtigste kapitalistische Land der Geschichte, ist ein Bestandteil des kapitalistischen Weltsystems und unterliegt denselben allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Es leidet an denselben unheilbaren Krankheiten und muss demselben Schicksal erliegen. Die überwältigende Vormachtstellung des amerikanischen Imperialismus nimmt ihn nicht vom Verfall des Weltkapitalismus aus, sondern führt im Gegenteil dazu, dass er noch tiefer, unentwindbarer und hoffnungsloser in ihn hineingezogen wird. Der US-Kapitalismus kann den revolutionären Konsequenzen der Fäulnis des Weltkapitalismus ebenso wenig entgehen wie die älteren kapitalistischen Mächte in Europa. Die Sackgasse, in die der Weltkapitalismus und mit ihm die USA gelangt sind, schließt eine neue organische Ära kapitalistischer Stabilisierung aus. Die weltweite Vormachtstellung des amerikanischen Imperialismus betont und verschärft heute die Todeskrise des Kapitalismus insgesamt.

II. Der amerikanische Imperialismus ging als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, und zwar nicht nur über seine deutschen und japanischen Rivalen, sondern auch über seine »demokratischen« Verbündeten, besonders Großbritannien … Wall Street hoffte auf den Beginn des sogenannten Amerikanischen Jahrhunderts.

In Wirklichkeit stößt die amerikanische herrschende Klasse bei ihrem Versuch, »die Welt zu organisieren«, auf noch unüberwindbarere Hindernisse als die deutsche Bourgeoisie bei ihren weitaus bescheideneren, wiederholt gescheiterten Versuchen, »Europa zu organisieren«.

Der rasante Aufstieg des US-Imperialismus zu weltweiter Vorherrschaft kommt zu spät. Der amerikanische Imperialismus stützt sich überdies immer mehr auf die Fundamente der Weltwirtschaft – in scharfem Gegensatz zur Situation vor dem Ersten Weltkrieg, als er vor allem auf dem Binnenmarkt ruhte, was zu seinen Erfolgen und seinem Gleichgewicht beitrug. Die Fundamente der heutigen Welt sind von unlösbaren Widersprüchen zerrissen: Sie leiden an chronischen Störungen und sind mit revolutionären Pulverfässern vermint.

Der amerikanische Kapitalismus, der bisher nur am Rande in den Todeskampf des Kapitalismus als Weltsystem einbezogen war, wird von nun an die vollen und direkten Auswirkungen aller Kräfte und Widersprüche zu spüren bekommen, die die alten kapitalistischen Länder in Europa entkräftet haben.

Die ökonomischen Voraussetzungen für die sozialistische Revolution sind in den USA zur vollständigen Reife entwickelt. Die politischen Voraussetzungen sind ebenfalls weitaus fortgeschrittener, als es oberflächlich erscheinen mag.[4]

Was die Behauptung angeht, Cannon habe »die sozialistische Revolution in Europa unter dem Deckmantel eines besonderen amerikanischen Wegs zum Sozialismus« abgeschrieben, so wird sie von dem Text des Dokuments selbst direkt widerlegt:

IX. Die revolutionäre Bewegung der amerikanischen Arbeiter ist ein organischer Bestandteil des revolutionären Weltprozesses. Die kommenden revolutionären Aufstände des europäischen Proletariats werden die revolutionäre Entwicklung in den USA ergänzen, verstärken und beschleunigen. Die Befreiungskämpfe der kolonialen Völker gegen den Imperialismus, deren Zeuge wir jetzt sind, werden sich ähnlich auswirken. Umgekehrt wird jeder Schlag, den das amerikanische Proletariat den Imperialisten im eigenen Land versetzt, die revolutionären Kämpfe in Europa und den Kolonien ergänzen, verstärken und beschleunigen. Jeder Rückschlag des Imperialismus irgendwo auf der Welt wird sich wiederum auf unser Land auswirken, und ein derartiger Ansporn und eine solche Macht wird von ihm ausgehen, dass sich die zeitlichen Abstände der Ereignisse zu Hause und im Ausland tendenziell verringern werden.[5]

Cannon legte großen Wert auf die zentrale Bedeutung der sozialistischen Revolution in den USA, eine Perspektive, die die SWP bis Mitte der fünfziger Jahre verteidigte, bevor sie politische Zugeständnisse an den Pablismus machte und schließlich die amerikanische Arbeiterklasse abschrieb. Aber 1946, in der Blütezeit der politischen Entwicklung der SWP als revolutionäre Partei, vertrat Cannon eine kühne und begeisternde Perspektive:

X. Amerikas Rolle in der Welt ist entscheidend. Sollten die europäischen und kolonialen Revolutionen, die jetzt auf der Tagesordnung stehen, dem Höhepunkt des Kampfs in den USA vorausgehen, dann wären sie auf der Stelle mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Errungenschaften gegen die militärischen und ökonomischen Angriffe des amerikanischen imperialistischen Monsters zu verteidigen. Die Fähigkeit der siegreichen aufständischen Völker auf der ganzen Welt, sich zu verteidigen, würde in großem Maße von der Stärke und Kampfkraft der revolutionären Arbeiterbewegung in Amerika abhängen. Die amerikanischen Arbeiter wären dann verpflichtet, ihnen zu Hilfe zu kommen, genau wie die westeuropäische Arbeiterklasse der Russischen Revolution zu Hilfe kam und sie rettete, indem sie einen allumfassenden militärischen Angriff der Imperialisten auf die junge Arbeiterrepublik verhinderte.[6]

Banda schleudert Cannon wiederholt den Vorwurf entgegen, er habe vor den »rückständigen« Arbeitern in den USA kapituliert. (Wenn Banda von den Arbeitern in egal welchem Land spricht, dann ist »rückständig« sowieso seine liebste und meistgebrauchte Bezeichnung.) Cannon ging in seinem kompromisslosen Kampf zur Verteidigung der proletarischen Orientierung der SWP auf diese Frage ein:

XII. Es wurde viel über die »Rückständigkeit« der amerikanischen Arbeiterklasse geredet, um eine pessimistische Perspektive zu rechtfertigen, die sozialistische Revolution in eine entfernte Zukunft zu verschieben und sich vom Kampf zurückzuziehen. Dies ist eine sehr oberflächliche Anschauung über die amerikanischen Arbeiter und ihre Zukunftsaussichten.

Es stimmt, dass diese Klasse, in vielerlei Hinsicht die fortgeschrittenste und fortschrittlichste der Welt, noch nicht den Weg unabhängiger ­politischer Massenaktionen eingeschlagen hat. Aber diese Schwäche kann schnell überwunden werden. Unter dem Druck der objektiven Notwendigkeit werden nicht nur rückständige Völker, sondern auch rückständige Klassen in fortgeschrittenen Ländern gezwungen, große Distanzen in einem Sprung zu überwinden …

XV. Die hoffnungslosen Widersprüche des amerikanischen Imperialismus, unentrinnbar verbunden mit der Todeskrise des Weltkapitalismus, müssen zu einer gesellschaftlichen Krise von derart katastrophalen Ausmaßen führen, dass die proletarische Revolution auf der Tagesordnung stehen wird. Es ist eine realistische Annahme, dass die amerikanischen Arbeiter, die innerhalb eines einzigen Jahrzehnts gewerkschaftliches Bewusstsein und gewerkschaftliche Organisation erlangten, in dieser Krise eine weitere große Umwandlung ihrer Mentalität durchlaufen und politisches Bewusstsein und politische Organisation erlangen werden. Wenn im Laufe dieser bewegten Entwicklung eine Arbeitermassenpartei auf der Grundlage der Gewerkschaften gebildet wird, dann wird das keine Ablenkung in Richtung reformistischer Stagnation und Fruchtlosigkeit bedeuten, wie in England und anderswo während der Periode des kapitalistischen Aufstiegs. Alles deutet darauf hin, dass es vielmehr ein Vorstadium in der politischen Radikalisierung der amerikanischen Arbeiter sein wird, in dem sie auf die direkte Führung durch die revolutionäre Partei vorbereitet werden.[7]

Wer dieses Dokument aus anderen als den offensichtlich unaufrichtigen Gründen von Banda angreifen will, der wird zweifellos darauf hinweisen, wie kategorisch darin die letzte ökonomische Krise des amerikanischen Kapitalismus vorhergesagt wird: »Sobald der Binnenmarkt erneut gesättigt ist, besteht auf dem unausgewogenen Weltmarkt keine andere Absatzchance mehr …

Der Binnenmarkt muss nach einer ersten und künstlichen Wiederbelebung enger werden. Er kann sich nicht, wie in den zwanziger Jahren, ausdehnen.«[8]

Die Ereignisse nahmen einen anderen Lauf. Aber kann man Cannon vorwerfen, dass er nicht vorhersah, wie aufgrund des Verrats der Stalinisten und Sozialdemokraten am europäischen Proletariat zwischen 1944 und 1948 die kapitalistische Herrschaft wieder ein politisches Gleichgewicht erlangen konnte, das die Bedingungen für den Nachkriegsboom schuf? 1946 konnte der zukünftige Verlauf der Krise nicht genau vorhergesehen werden. Die vorangegangenen 17 Jahre waren von katastrophalen Wirtschaftskrisen geprägt gewesen. Darüber hinaus war die Betonung, die die SWP auf die Schranken des amerikanischen Binnenmarkts legte, durchaus nicht fehl am Platze. Wie Bretton Woods und eine ganze Reihe weiterer wichtiger Wirtschaftskonferenzen zeigten, war der amerikanische Imperialismus vor allem mit dem Problem beschäftigt, den Welthandel und internationale Absatzmärkte zugunsten amerikanischer Waren wiederherzustellen. Ohne den Marshallplan und die enorme Steigerung des Kapitalexports ins Ausland wären die USA Ende der vierziger Jahre zweifellos mit einer verheerenden Finanzkrise konfrontiert gewesen.

Cannons ökonomische Vorhersagen waren keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Das Problem, den Welthandel wiederherzustellen, ohne gleichzeitig den rücksichtslosen Handelskrieg und die Autarkie-Bestrebungen des vergangenen Jahrzehnts wiederzubeleben, beherrschte die Überlegungen der führenden Vertreter des US-Imperialismus. Harry Dexter White, der Architekt des IWF und der Weltbank, fasste die Probleme des Weltkapitalismus am Ende des Weltkriegs so zusammen:

Wir müssen so weit wie möglich wegkommen von der veralteten und fatalen Wirtschaftspolitik nach dem Motto »Jedes Land für sich und das letzte hole der Teufel«. Ebenso wie das Versagen beim Aufbau eines effektiven Völkerbunds im Zeitraum einer einzigen Generation zu zwei katastrophalen Weltkriegen geführt hat, wird das Fehlen einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den führenden Nationen im Verlauf des kommenden Jahrzehnts unweigerlich zu einem Wirtschaftskrieg führen, der seinerseits nur das Vorspiel und der Anlass zu einem militärischen Krieg von noch größeren Ausmaßen sein wird.[9]

Die Aussicht eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs und eines Kriegs erschien 1945–1946 nicht einmal der Bourgeoisie so weit hergeholt, wie Banda, der hinterher alles besser weiß, uns weismachen will. Zumindest ging Cannon nicht wie Morrow und Shachtman davon aus, dass sich der Kapitalismus unweigerlich und unabwendbar wieder stabilisieren werde. Wer Cannon vorhalten will, dass er vom revolutionären Potenzial der objektiven Situation ausging und nicht von der Möglichkeit einer Stabilisierung, die noch nicht stattgefunden hatte, muss auch ein hartes Urteil über zwei andere berüchtigte Krisenpropheten fällen, Karl Marx und Friedrich Engels. Was sollen wir davon halten, dass sie angesichts der Weltwirtschaftskrise 1857–1858 gewaltige revolutionäre Aufstände vorhersagten? Als sich bereits ein Aufschwung am Horizont abzeichnete, schrieb Engels:

Es wäre zu wünschen, dass erst diese »Besserung« zur chronischen Krise einträte, ehe ein zweiter und entscheidender Hauptschlag fällt … Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohltun wie ein Seebad, das merk’ ich jetzt schon. 1848 sagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam in a certain sense [in einem gewissen Sinne], diesmal aber kommt sie vollständig, jetzt geht es um den Kopf. Meine Militärstudien werden dadurch sofort praktischer …[10]

Die grundlegenden historischen Konzeptionen der »Amerikanischen Thesen« – »Insgesamt gesehen bestehen die wichtigsten Faktoren, die einst den amerikanischen Imperialismus nährten und stärkten, entweder nicht mehr oder verwandeln sich in ihr Gegenteil« – waren richtig, und aus diesem Grund gebührt den »Amerikanischen Thesen« ein Ehrenplatz in der dokumentarischen Geschichte der Vierten Internationale.

Banda bezeichnet sie als »die bedeutsamste Revision in der Periode unmittelbar nach dem Krieg«. Revision wovon, wenn wir fragen dürfen? Kein einziger Punkt in den »Amerikanischen Thesen« widerspricht der historischen Perspektive, die im Gründungsdokument der Vierten Internationale, dem »Übergangsprogramm«, niedergelegt ist.

Die unsinnige Behauptung, die »Amerikanischen Thesen« hätten die »kollektive theoretische Zusammenarbeit zur Fortsetzung von Trotzkis Arbeit und zur Konkretisierung seiner historischen Prognose« abgelehnt, beantwortete schon Cannon in seinem Bericht vor dem Politischen Komitee der SWP: Er betonte, dass sich das Dokument ausschließlich auf die theoretischen Konzeptionen über die Entwicklung des Klassenkampfs in den USA stütze, die Trotzki in seinen Schriften und bei zahlreichen Treffen mit den Führern der SWP ausgearbeitet hatte. Dazu gehörte auch Trotzkis hypothetische Annahme, dass unter bestimmten Bedingungen die sozialistische Revolution in den USA vor dem Sieg des Proletariats in Europa stattfinden könnte.

Die »Amerikanischen Thesen« waren ein Ergebnis des Kampfs gegen den Revisionismus, wie er sich während und unmittelbar nach dem Krieg innerhalb der Vierten Internationale entwickelte. Banda belegt keinen einzigen seiner Vorwürfe. Wenn er überhaupt ein Dokument anführt, dann stellt sich jedes Mal heraus, dass sein Inhalt genau das Gegenteil von dem ist, was er behauptet.


[1]

James P. Cannon, The Struggle for Socialism in the »American Century«: James P. Cannon Writings and Speeches 1945–47, Hrsg. Les Evans, New York 1977, S. 276.

[2]

Ebd., S. 278–279.

[3]

Ebd., S. 281.

[4]

Ebd., S. 256–257.

[5]

Ebd., S. 264.

[6]

Ebd.

[7]

Ebd., S. 268–270.

[8]

Ebd., S. 262–263.

[9]

E. A. Brett, The World Economy Since the War: The Politics of Uneven Development, New York 1985, S. 1.

[10]

Friedrich Engels, »Engels an Marx, 15. November 1857«, in: MEW, Bd. 29, Berlin 1970, S. 211–212.