David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Die Morrow-Goldman-Fraktion

Die politischen Differenzen mit der IKD, deren Perspektiven von Shachtmans Gruppe unterstützt wurden, fanden auch innerhalb der Vierten Internationale in Form einer Tendenz unter der Führung von Felix Morrow und Albert Goldman einen Widerhall. Die Perspektive, die in den »Drei Thesen« der IKD am klarsten formuliert war, widerspiegelte den Übergang breiter Schichten der Mittelklasse in das antikommunistische Lager des »demokratischen« Imperialismus.

Seit den dreißiger Jahren hatten Morrow und Goldman in der trotzkistischen Bewegung eine herausragende Rolle gespielt. Goldman war ein sozialistischer Anwalt, der Hervorragendes für die Partei geleistet hatte. Er stand vor der Dewey-Kommission 1937 in Coyoacán in Mexiko Leo Trotzki zur Seite und war der wichtigste Verteidiger der SWP beim Minneapolis-Prozess, in dem er mitangeklagt war. Er war ein talentierter Redner und Propagandist, stand jedoch stets auf dem rechten Flügel der Bewegung. Kritisierte er die SWP-Führung, legte er gewöhnlich das Hauptgewicht auf »organisatorische Fragen« – das typische Kennzeichen kleinbürgerlicher Elemente.

Morrow war ein gestandenerer Typ als Goldman. Aufgrund seiner brillanten journalistischen Fähigkeiten genoss er Ansehen in der Bewegung. Von seiner besten Seite zeigte er sich in seiner klassischen Analyse der spanischen Revolution, »Revolution und Konterrevolution in Spanien« – obwohl man der historischen Gerechtigkeit halber sagen muss, dass dieses Buch das Ergebnis einer kollektiven Arbeit war, an der sich eine ganze Reihe Parteiführer beteiligten. Trotzdem war Morrow ausgesprochen der Typus des kleinbürgerlichen New Yorker Intellektuellen und erinnerte in vielerlei Hinsicht sehr an Max Shachtman. Es war wohlbekannt, dass Morrow den dialektischen Materialismus ablehnte, und viele wunderten sich, als er in der Auseinandersetzung 1939–1940 die Mehrheit unter Cannon unterstützte.

Aber obwohl Morrow damals der Vierten Internationale treu blieb, konzentrierte er sich bei dem Kampf gegen die kleinbürgerliche Minderheit ausschließlich auf die politische Kernfrage des Streits – die verhexte »russische Frage«. Diese Beschränktheit war ein Ausdruck seines eigenen falschen theoretischen Standpunkts. In seinen Augen war Max Shachtman der wichtigste Kopf der kleinbürgerlichen Opposition, während Trotzki James Burnham, den philosophischen Führer des antimarxistischen Blocks, als deren Schlüsselfigur betrachtete.

Wohin Morrows Ablehnung der Dialektik führte und wie wenig Verlass auf politische Übereinstimmung ist, wenn sie ausschließlich auf »konkreten Fragen« beruht, zeigte sich schon 1943, als er allmählich begann, zu Shachtmans Positionen zurückzukehren. Ein wichtiger Aspekt dieses Degenerationsprozesses kam in seinen politischen Beziehungen zu Jean van Heijenoort zum Ausdruck, Trotzkis ehemaligem Sekretär, der sich während des Zweiten Weltkriegs in New York aufhielt und für die Verbindung zu den europäischen Sektionen verantwortlich war.

Als gehässiger und zynischer Subjektivist – Trotzki hatte ihn im November 1939 aus seinem Haus hinausgeworfen – sprach sich van Heijenoort mit Nachdruck gegen den dialektischen Materialismus aus und verwarf seinen Wert als Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen jeder Bewegung. Er argumentierte, dass es in der Natur keine dialektischen Prozesse gebe:

All die Aussagen der Dialektik sind im Bereich der Erkenntnistheorie sehr wertvoll, außerhalb davon aber werden sie zu leeren Abstraktionen.

… Die allgemeine Schlussfolgerung lautet: Die materialistische Dialektik gehört in den Bereich der Erkenntnistheorie. Sie handelt von der Entwicklung des Wissens. In diesem Bereich führt sie zu sehr wertvollen Ergebnissen. Wenn sie aber in die äußere Welt verpflanzt wird, führt sie nur zu außerordentlich verwaschenen Abstraktionen, die als Abbild oder Ersatz für präzise wissenschaftliche Gesetze keinen Wert haben und nicht zu gebrauchen sind. Und wenn man versucht, sie zu übertragen, läuft man immer Gefahr, in die alte Falle der Metaphysik zu geraten.[1]

Noch bevor die großen und unüberbrückbaren politischen Differenzen an den Tag traten, ging die SWP mit John G. Wright und George Novack an der Spitze in eine theoretische Offensive gegen van Heijenoorts Angriff auf die Dialektik und bewies, dass sie sich die Lehren aus Trotzkis Kampf gegen Burnhams Pragmatismus zu Herzen genommen hatte. Dies widerlegt Bandas abenteuerlichen und ignoranten Vorwurf, »die Dialektik inspirierte die VI schon lange nicht mehr. Vulgärer Empirismus war an ihre Stelle getreten.«

Gegen die oben zitierten Aussagen van Heijenoorts (der unter dem Namen Marc Loris schrieb) führte Wright folgende Argumente ins Feld:

Wenn diese Worte überhaupt einen Sinn ergeben, dann den, dass kein Physiker, kein Chemiker, kein Psychologe, kein Soziologe jemals in die Lage kommt, in der er »die Aussagen der Dialektik« benötigt oder gebrauchen kann. Nur die Erkenntnistheoretiker bilden da eine Ausnahme. Es fragt sich: weshalb? Es bleibt unerklärlich, was ein Erkenntnistheoretiker in dieser irdischen Welt mit einer Theorie anfangen soll, die sich nicht auf andere Wissenschaften übertragen lässt. Wir warten auf eine Erklärung, warum sich irgendein vernunftbegabtes Wesen über eine »Entwicklung des Wissens« den Kopf zerbrechen soll, das sich in Luft auflöst (oder, in Loris’ Worten, nur zu »außerordentlich verwaschenen Abstraktionen« führt, die »keinen Wert haben und nicht zu gebrauchen sind«), sobald es auf die »äußere Welt« übertragen wird. (Letzterer großartiger Ausdruck schließt übrigens nicht nur Himmel und Erde, sondern auch die menschliche Gesellschaft mit ein.) …

Gewiss kennt Genosse Loris die Ideen der von Hook gegründeten Schule von Radikalen, die mit dem Marxismus gebrochen und versucht hat, die Dialektik auf die Soziologie zu »beschränken«. Sie gab vor, den Marxismus damit von den Sünden Engels’, von den Resten des Hegelianismus usw. zu reinigen. Wir können uns nicht erklären, weshalb irgendjemand in unserer Bewegung mit diesen Herren wetteifern und die Dialektik noch weiter »beschränken« sollte.

Alle unsere großen Lehrer haben die Dialektik nicht in ein Einzelgebiet abgeschoben, weder in die Soziologie noch in die Erkenntnistheorie, sondern uns gelehrt, dass sie für alle Prozesse in der gesamten äußeren Welt gilt, einschließlich des Menschen und seines Denkens. Sie waren weit entfernt von der Auffassung, dass sich die Dialektik in leere Abstraktionen auflöse, sobald sie mit der objektiven Realität in Berührung kommt, sondern betonten im Gegenteil die Dringlichkeit und Fruchtbarkeit einer solchen »Übertragung«. Und darüber hinaus lehrten sie uns, dass die Natur selbst (die »äußere Welt«) die Dialektik im menschlichen Denken verankert.[2]

Die politischen Folgen von van Heijenoorts Ablehnung der Dialektik sollten sich bald zeigen. Er ging so schnell nach rechts, dass er sogar Morrow und Goldman überholte. Schließlich trafen sie sich alle im Lager des US-Imperialismus wieder. Dies bestätigte erneut Trotzkis Warnung an Burnham: »Jeder, der vertraut ist mit der Geschichte der Kämpfe von Tendenzen in Arbeiterparteien, weiß, dass das Desertieren ins Lager der bürgerlichen Reaktion nicht selten mit der Ablehnung der Dialektik begann.«[3]

Ursprünglich schienen sich Morrows Differenzen auf das Tempo der revolutionären Entwicklung in Europa zu beschränken. Bevor er zusammen mit 17 weiteren SWP-Mitgliedern inhaftiert wurde, hatte er den »Drei Thesen« der IKD widersprochen und sie gewarnt, sie sollten ihre Position »bis zur letzten Schlussfolgerung durchdenken«. Als 1943 Mussolini gestürzt wurde, begrüßte Morrow dieses Ereignis als Vorbote der sozialistischen Revolution, die Trotzki vorausgesagt hatte. Als jedoch durch den Verrat der Stalinisten und das Eingreifen der alliierten imperialistischen Streitkräfte, mit denen die Stalinisten zusammenarbeiteten, der weitere Fortschritt der Revolution unterbunden wurde, zog Morrow fast augenblicklich die allerpessimistischsten Schlussfolgerungen.

Ein marxistischer Revolutionär zeichnet sich dadurch aus, dass er das Schlachtfeld als Letzter verlässt. So war Lenin noch 1907, als die Menschewiki und die Liberalen das Proletariat schon längst für geschlagen erklärt hatten, darum bemüht, die letzte Glut der Revolution von 1905 wieder zu entfachen. Morrow dagegen war schon 1944 endgültig davon überzeugt, dass in Westeuropa keinerlei Aussichten auf eine revolutionäre Beendigung des Kriegs bestünden und dass man den Sektionen der Vierten Internationale verbieten solle, revolutionäre sozialistische Parolen aus dem »Übergangsprogramm« in ihrer Agitation zu verwenden. Die europäischen Sektionen sollten sich lieber ausschließlich auf demokratische Parolen konzentrieren. Selbst die Forderung nach den »Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa« gehöre in die Mottenkiste.

Morrow hatte ursprünglich gewisse ultralinke Formulierungen in den Dokumenten der europäischen Trotzkisten kritisiert, in einigen Punkten durchaus nicht ohne Berechtigung. Er sagte, seine Kritik solle zu einem besseren Verständnis über das Tempo der Ereignisse beitragen.

Im weiteren Verlauf der Diskussion zeigte sich jedoch, dass Morrow schnell nach rechts ging. Sein Beharren auf demokratischen Forderungen verwandelte sich in eine offene Ablehnung der Perspektive der sozialistischen Revolution. Er forderte die Auflösung der europäischen Sektionen der Vierten Internationale in den bestehenden sozialdemokratischen Parteien. Die französischen Trotzkisten drängte er sogar, sich mit André Malraux zu arrangieren, der die Rolle von de Gaulles Henkersknecht spielte. Erfreut über jedes Anzeichen, dass sich die bürgerliche Herrschaft stabilisierte und die Stalinisten und Sozialdemokraten die Massenbewegung unter Kontrolle bekamen, ging er bei allen seinen Ratschlägen von der Überzeugung aus, es bestehe nicht die geringste Aussicht auf eine sozialistische Revolution.

Die subjektiv-idealistischen Grundlagen von Morrows Perspektive zeigten sich in folgender Erklärung:

Das Fehlen der revolutionären Partei – und sie fehlt tatsächlich – verändert die gesamte Lage so grundlegend, dass man nicht einfach sagen kann: »Alles, was fehlt, ist die revolutionäre Partei«, sondern – zumindest uns selbst gegenüber – sagen muss: »Das Fehlen einer revolutionären Partei ändert die Bedingungen, die sonst revolutionär wären, derart, dass man in seiner Agitation nur für die elementarsten Forderungen eintreten kann.«[4]

Das Europäische Sekretariat der Vierten Internationale stellte in seiner Antwort mit Nachdruck fest: »Es gab revolutionäre Situationen, gibt sie heute und wird sie auch in Zukunft geben, unabhängig davon, ob eine revolutionäre Partei zur Stelle ist oder nicht.«[5]

Morrows Perspektive war eine Form des Opportunismus, wie sie in der Vierten Internationale immer wieder auftauchen sollte. Ausgehend von einer impressionistischen Einschätzung der unmittelbaren politischen Konjunktur kam Morrow zu einer politischen Linie, mit der er versprach, die trotzkistische Bewegung den Massen zugänglicher zu machen. In Wirklichkeit bedeutete sie die Auflösung ihres historisch entwickelten revolutionären Programms. Selbst gesetzt den Fall, dass das Bewusstsein des Proletariats tatsächlich von kleinbürgerlich-demokratischen Gefühlen beherrscht war, war es ein Verrat am Marxismus, deswegen revolutionäre sozialistische Parolen durch »beliebtere« demokratische ersetzen zu wollen. Marxisten erstreben die Überwindung von »politischer Isolation« nicht durch die Verwandlung ihrer proletarischen sozialistischen Partei in eine kleinbürgerlich-demokratische. Vielmehr kämpfen sie wie Lenin und Trotzki im Jahr 1917 gegen die vorherrschenden Stimmungen, erziehen die Arbeiterklasse und heben ihr politisches Bewusstsein.

Morrow war das Sprachrohr für alle Pessimisten und Skeptiker, die den Eindruck hatten, Trotzki habe sie »betrogen«, er habe ihnen »versprochen«, dass der Zweite Weltkrieg mit der sozialistischen Revolution in Westeuropa und dem Sturz des Stalinismus in der UdSSR enden werde. In Wirklichkeit hatte ihnen Trotzki überhaupt nichts versprochen. Noch kurz vor seinem Tod hatte er erklärt:

Jede historische Vorhersage ist grundsätzlich bedingt, und je konkreter sie ist, umso bedingter ist sie. Eine Prognose ist kein Schuldschein, der an einem bestimmten Tag eingelöst werden kann. Eine Prognose skizziert nur bestimmte Entwicklungstendenzen. Aber zusammen mit diesen Entwicklungstendenzen wirkt eine unterschiedliche Abfolge von Kräften und Tendenzen, die in einem bestimmten Augenblick vorzuherrschen beginnen. Diejenigen, die exakte Voraussagen konkreter Ereignisse haben wollen, sollten einen Astrologen konsultieren. Die marxistische Prognose hilft nur bei der Orientierung.[6]

Das europäische Sekretariat, damals geführt von Pablo, wies Morrow und seine Anhänger zurück. Trotz aller unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Ereignisse nach Trotzkis Tod, so betonten sie, habe sich seine Voraussage, der Krieg werde revolutionäre Folgen haben, im Weltmaßstab bestätigt, und zwar durch revolutionäre Massenkämpfe in Jugoslawien und in ganz Asien.

Nur ein oberflächlicher und feiger kleinbürgerlicher Geist kann eine Widerlegung unserer revolutionären Perspektiven darin erblicken, dass weder der Krieg noch das Kriegsende zu einer sozialistischen Revolution in Europa geführt haben, dass es in Deutschland keine Revolution gegeben hat und dass die traditionellen Organisationen, allen voran die Stalinisten, erneut mächtig aufgestiegen sind. Die Vierte Internationale weiß, dass jede dieser Tatsachen eine Niederlage für das revolutionäre Proletariat bedeutet, vergisst aber keine Sekunde, dass die Todeskrise des Kapitalismus, die Zerstörung seines Gleichgewichts und die Zuspitzung aller seiner grundlegenden Widersprüche weit gewichtigere Tatsachen sind, und auf diesen beruht unsere revolutionäre Perspektive und unsere unermesslich gesteigerten Möglichkeiten, die revolutionäre Partei aufzubauen …

Wir erleben jetzt eine weltweite Krise, die alle vergangenen übertrifft, und einen weltweiten revolutionären Aufschwung, der sich zwar in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich schnell entwickelt, dessen Brennpunkte sich aber zunehmend gegenseitig beeinflussen und so eine lange revolutionäre Perspektive bestimmen.[7]

Seit ihrer Entlassung aus der Haft war Morrows und Goldmans Rechtsentwicklung verbunden mit ihrer Forderung, die SWP solle sich mit Shachtmans Workers Party wiedervereinigen. Schon das zeigte, dass Goldman und Morrow ein grundlegendes Prinzip verwarfen, für das sie 1939–1940 gegen Shachtman gekämpft hatten, nämlich die Verteidigung der UdSSR. Allerdings versuchten sie, die Sache so darzustellen, als seien die Differenzen zwischen der SWP und der Workers Party übertrieben worden und rechtfertigten nicht die Trennung in zwei verschiedene Organisationen. Die SWP antwortete mit einer ausführlichen Analyse der unversöhnlichen Differenzen zwischen den Trotzkisten und Shachtmans Anhängern. Sie trug den Titel: »Revolutionärer Marxismus oder kleinbürgerlicher Revisionismus?« Die SWP nannte darin

folgende unverrückbare programmatische Kriterien, die die revolutionäre Strömung von allen Formen und Spielarten des Opportunismus abgrenzen:

1. Einschätzung der Sowjetunion und Haltung zu ihrer Verteidigung (Ablehnung aller Theorien über eine neue bürokratische Klasse und aller daraus abgeleiteter Theorien). Und folgend aus diesem Punkt: Einschätzung der stalinistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern und Haltung gegenüber diesen Parteien (Ablehnung aller Theorien, die leugnen, dass es Arbeiterparteien sind).

2. Einschätzung des Charakters unserer Epoche, Haltung zur europäischen Revolution und zu den Aufgaben der Avantgarde (Ablehnung aller Spielarten des Revisionismus in Form der »Rückschrittler«-Theorien und ihren Ableitungen).

3. Haltung gegenüber der bolschewistischen Parteikonzeption (Ablehnung aller menschewistischen Auffassungen über »allumfassende« Parteien oder Internationalen).[8]

Die SWP zeichnete die Entwicklung der Workers Party seit der Spaltung von 1940 nach und schloss, dass

die Workers Party mit den wesentlichen Punkten unseres Programms gebrochen hat, zu allen großen politischen Fragen eine opportunistische Position bezieht und einen unaufhörlichen Kampf führt gegen unsere Organisation, unsere Auffassungen, unsere Methoden und unsere Führung. Was die drei grundlegenden internationalen Kriterien angeht, durch die sich die Marxisten von den Opportunisten unterscheiden, so haben sich Shachtman und seine Anhänger als die beständigsten Frontkämpfer des Opportunismus und Revisionismus erwiesen.

Welche Tendenz Shachtman und Co. vertreten, kann also aufgrund einer solchen Untersuchung mit wissenschaftlicher Genauigkeit festgestellt werden. Die Workers Party ist eine kleinbürgerliche, zentristische, eingefleischte Sekte, die sich immer rascher vom Marxismus entfernt und der Sozialdemokratie annähert.[9]

Diese Bewertung Shachtmans, die sich im Verlauf der Geschichte als überaus großzügig erwies, trug dazu bei, den politischen Kampf gegen die Morrow-Goldman-Tendenz zu verschärfen. Dass diese Gruppe samt ihrer internationalen Anhängerschar ihrem Klassencharakter nach eine kleinbürgerliche Tendenz war, die unter dem Druck der imperialistischen Demokratie kapitulierte, wurde in ihrer Reaktion auf zwei Fragen jäh entlarvt.

Die erste war die Frage des Volksentscheids über die bürgerliche Verfassung der Vierten Republik in Frankreich. Banda äußert eigens zu dieser Frage: »Die Unfähigkeit des IS (Internationalen Sekretariats) und des IEK (Internationalen Exekutivkomitees), sich den großen Fragen der Nachkriegsperiode zuzuwenden, wurde durch eine schamlose Kriecherei vor der bürgerlichen Demokratie in Westeuropa ergänzt, wie z. B. durch Mandels Unterstützung für den Volksentscheid 1946 in Frankreich …«

Wie üblich liegt Banda verkehrt. In Wirklichkeit bezogen das IS und das IEK (mit Unterstützung der SWP-Führung) Stellung gegen den Volksentscheid, und kein anderer als Mandel schrieb einige der wichtigsten Resolutionen gegen den Opportunismus der Mehrheit in der französischen PCI, die dafür eintrat, mit Ja zu stimmen.

Auf einer Plenumssitzung des IEK im Juni 1946 erklärte die Mehrheit im IS und IEK ihren Standpunkt:

Der Volksentscheid vom 5. Mai bedeutete nicht, dass man gezwungen war, zwischen einer mehr und einer weniger reaktionären Form des bürgerlichen Staats zu wählen. Es ging nicht darum, sich zwischen einer bürgerlichen Monarchie und einer bürgerlichen Republik, oder zwischen einem Parlament mit einer oder zwei Kammern zu entscheiden. Im Volksentscheid vom 5. Mai wurde einfach gefragt, ob man einer bürgerlichen Verfassung zustimmte oder sie ablehnte.

Die revolutionäre Partei nutzt die Zeit der Agitation um die Verfassungsfrage, um demokratische Forderungen und Übergangsforderungen aufzustellen, und unterstützt die demokratischsten Vorschläge gegen die reaktionäreren. Aber dies heißt nicht, dass wir einer ganzen bürgerlichen Verfassung zustimmen, mag sie noch so demokratisch sein. Im vorliegenden Fall hatten wir nicht die Wahl zwischen verschiedenen Verfassungsentwürfen, sondern mussten die Verfassung als Ganze entweder annehmen oder ablehnen.

Mit »Ja« zu stimmen bedeutete, ob man wollte oder nicht, den bürgerlichen Staat, das kapitalistische Eigentum, die Landesverteidigung und die koloniale Unterdrückung abzusegnen. Es ist keine taktische, sondern eine prinzipielle Frage, eine bürgerliche Verfassung, wie immer sie auch gestaltet ist, unter allen Umständen abzulehnen. Es kann keinen taktischen Grund geben, diese prinzipielle Haltung gegenüber dem bürgerlichen Staat aufzugeben.[10]

Soweit zur »schamlosen Kriecherei vor der bürgerlichen Demokratie«! Den Standpunkt, den Banda angreift, vertraten in Wirklichkeit diejenigen in der Führung der PCI, die sich gegen die SWP und Mandel wandten und unter Morrows Einfluss zur Stimmabgabe mit »Ja« aufriefen – mit der opportunistischen Begründung, dass die einflussreichsten Schichten der französischen Bourgeoisie die Verfassung ablehnten, dass der Kampf für ihre Durchsetzung eine Form des Klassenkampfs sei und dass eine demokratische Verfassung so ziemlich das Beste sei, worauf das Proletariat unter den gegebenen Umständen hoffen könne.

1946 war Morrow so weit, seine frühere Kritik an der deutschen IKD zurückzuziehen. Er stimmte ihren Ansichten über die »nationale Frage« zu und begrüßte in einer Rede vor einer Vollversammlung der SWP im Mai 1946 enthusiastisch den Volksentscheid (genau wie Jock Haston, der Führer der Revolutionary Communist Party in England, der zu Morrows wichtigsten internationalen Verbündeten zählte).

Morrow schreckte nicht einmal vor der Erklärung zurück, er würde, wäre er in Frankreich, die Partei über die Frage des Volksentscheids spalten, worauf Cannon antwortete: »Lenin war bereit, um der Revolution willen zu spalten. Morrow, Goldman und Co. sind bereit, um einer Verfassung willen zu spalten, die das bürgerliche Eigentum sichert. Das ist erstens ein völliger Verrat am Marxismus und zweitens eine sehr klägliche Rechtfertigung für eine Spaltung.«[11]

Die zweite Frage war die Verteidigung der UdSSR. Morrow verkündete auf derselben Vollversammlung, die Vierte Internationale solle eingestehen, dass »alle Gründe, die wir für die Verteidigung der Sowjetunion anführten, nicht mehr bestehen«.[12]

Morrows Auftritt vor der Vollversammlung brachte den innerparteilichen Kampf bis kurz vor den Abschluss. Goldman trat kurz darauf aus der SWP aus und schloss sich Shachtmans Gruppe an. Morrow verblieb noch ein paar Monate, bis er Ende des Jahres vom Parteitag der SWP ausgeschlossen wurde. Aber auf der Vollversammlung hatte Morrow bereits deutlich gesagt, dass er mit keinem einzigen Punkt in Programm und Perspektiven mehr übereinstimmte. Cannon, so verkündete er, »hat mir früher Angst eingejagt«, jetzt aber fürchte er sich nicht mehr und stelle sich unerschrocken dem politischen Versagen der Vierten Internationale: »Die italienische Erfahrung zeigt, was aus unserer Vorhersage von 1940 wurde, der Krieg werde zu einer Welle proletarischer Revolutionen führen. Anstatt dass die Massen gemäß unseren Erwartungen den Faschismus stürzten, wurde der Faschismus von seinen imperialistischen Gegnern gestürzt, nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland und in den besetzten Gebieten von Europa.«[13]

Morrow verschwieg geflissentlich, dass die Rote Armee bei der Zerschlagung des Faschismus keine geringe Rolle gespielt hatte – er übersah dies unter anderem wegen seiner stalinophoben Auffassung, die sowjetischen Truppen seien nichts weiter als die Speerspitze der Konterrevolution. In seiner Antwort auf Morrow erklärte Cannon vor der Vollversammlung:

Jetzt müssen wir uns nicht mehr mit nebensächlichen und zufälligen Fragen herumschlagen. Wir können zu den grundlegenden Fragen kommen, von denen die Existenz unserer Bewegung abhängt. Hört Euch das an. Unsere Perspektive war falsch, nicht nur in Europa, sondern auch in Russland. Unsere Analyse war falsch … Wir alle teilten diese Perspektive und diese Analyse, und sie geht, wie Ihr wisst, hauptsächlich auf Trotzki zurück. Und wenn die grundlegende Analyse der Epoche und die daraus abgeleiteten Perspektiven falsch waren, dann taugt der Trotzkismus nichts, und etwas anderes, ein Ersatz muss her. Ist das nicht die Schlussfolgerung?

Die gesamte Analyse war falsch. Die Perspektiven waren falsch. Die ganze Bewegung, die von Trotzki ausgebildet und erzogen worden ist, stimmte damit überein. Sie stammten von Trotzki, und deshalb sollte er [Morrow] eigentlich sagen: Der Trotzkismus hat vor der Geschichte nicht bestanden. Und er würde es sagen, wenn er keine Angst hätte. Er verliert seine Skrupel und Ängste etappenweise – erst die Angst vor Cannon, und danach kommt Trotzki an die Reihe. Alle Opportunisten gehen etappenweise vor, und das wird der nächste Schritt sein. Es wird nicht lange dauern, und Du wirst auch die krankhafte Furcht vor dem Trotzkismus verlieren.[14]

Cannon hat Michael Banda nicht mehr kennengelernt, aber er hätte nur wenige Sätze aus seinen »27 Gründen« lesen müssen, um zu sehen, dass er zur selben politischen Gattung gehört wie Felix Morrow. Kein Wunder, dass Banda den Kampf gegen die Goldman-Morrow-Tendenz gern als »Alibi« und »Ablenkungsmanöver« abtun würde.

Eine letzte Bemerkung zum Kampf gegen Goldman und Morrow: Banda scheut sich, die Auswirkungen des Kampfs innerhalb der SWP auf die Entwicklung der trotzkistischen Bewegung in England zur Sprache zu bringen. Er weicht dieser Frage aus, indem er flugs verkündet, dass »die britische Sektion gar keine oder nur eine geringe Rolle spielte – sie wiederholte entweder wie Healy einfach Cannons Pragmatismus, oder sie schwankte heftig zwischen Trotzkismus und Staatskapitalismus (wie Haston, Grant und Cliff)«.

In Wirklichkeit spielte die britische Sektion im innerparteilichen Kampf der SWP eine bedeutende Rolle. Die Mehrheit der RCP unter Jock Haston griff wiederholt auf der Seite von Morrow und Goldman ein und war ihr wichtigstes Sprachrohr in Europa. Banda wirft Mandel eine Position vor, die er niemals vertreten hatte, erwähnt aber Hastons Politik nur kurz am Rande, obwohl dessen ungeschminkter Opportunismus in der Debatte über den Volksentscheid anschaulich zum Vorschein kam.

Haston brachte sogar eine Resolution im IEK ein, die besagte, der Kampf für die Diktatur des Proletariats und die Feindschaft gegen die Herrschaft des bürgerlichen Staats sei lediglich ein »allgemeines Prinzip«, das dem »Stand der Klassenkräfte« angepasst werden könne. Zu der Frage der Verfassung argumentierte Haston, die Verteidigung des kapitalistischen Eigentums sei nur die äußere Form des Konflikts. Der wirkliche Inhalt, behauptete er, sei »ein Entscheidungskampf zwischen der bürgerlichen Reaktion und den Arbeiterparteien«.

Hier haben wir ein Beispiel für Hastons pragmatische Methode, die er in einer Antwort auf den Führer der RCP-Minderheit verherrlichte: »Gerade im Bereich der Taktik ist empirische Anpassung notwendig. Wenn Genosse Healy das begriffen hat, wird er ein größerer Marxist sein.«[15]

Haston wurde wegen dieser Erklärung scharf angegriffen, und zwar nicht etwa, weil sie aus dem Zusammenhang gerissen worden wäre. Seine Anpassung der »allgemeinen Prinzipien« an den »Stand der Klassenkräfte« – die Methode der »empirischen Anpassung« im Bereich der Taktik – war eine originalgetreue Kopie der Vorgehensweise von Shachtman, der das »allgemeine Prinzip« des Klassencharakters des Staats dem unterordnete, was er »die Realität der lebendigen Ereignisse« nannte. Nicht zufällig verlief Hastons politische Degeneration in denselben Bahnen wie die Shachtmans.

Healys Aufstieg in die Führung der trotzkistischen Bewegung in Großbritannien war das Ergebnis seines prinzipiellen Kampfs gegen Haston. Healys Verrat in den siebziger und achtziger Jahren setzt seine positiven Errungenschaften in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren nicht außer Kraft. Wir wenden uns heute gerade deshalb gegen Healy, weil wir den Ideen und Prinzipien treu bleiben, an die er einst glaubte und die er jetzt verworfen hat. Es ist allerdings ironisch, dass Healy durch seine politische Degeneration wahrhaft uneingeschränkt zu Hastons Position zurückkehrte, wonach die »empirische Anpassung« in Fragen der Taktik die Unterordnung »allgemeiner Prinzipien« unter den »Stand der Klassenkräfte« erfordert.

In der in diesem Kapitel behandelten Periode wandte sich Healy gegen Hastons Unterstützung für Morrows Haltung zur bürgerlichen Demokratie und zur Sowjetunion. Außerdem trat Healy korrekterweise für eine entristische Linie gegenüber der britischen Labour Party ein. Wenn Banda diese notwendige taktische Orientierung als »Verwandlung der Healy-Gruppe in ein Anhängsel der Bevan-Linken« hinstellt, dann käut er nur die alten Argumente wieder, die schon Haston vorgebracht hatte – der bald darauf die trotzkistische Bewegung verließ und zu einem ausgesprochenen Antikommunisten und Diener des äußersten rechten Flügels der TUC-Bürokratie wurde!


[1]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 5, Nr. 2, Juli 1943, S. 4–5.

[2]

Ebd., S. 21–22.

[3]

Leo Trotzki, »Offener Brief an Genosse Burnham«, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 88.

[4]

Fourth International, März 1946, S. 85.

[5]

Ebd., S. 86.

[6]

Leo Trotzki, »Bilanz der finnischen Ereignisse«, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 206.

[7]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 3, Februar 1946, S. 7–8.

[8]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 10, August 1946, S. 29.

[9]

Ebd.

[10]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 9, Juli 1946, S. 6.

[11]

James P. Cannon, The Struggle for Socialism in the »American Century«: James P. Cannon Writings and Speeches 1945–47, Hrsg. Les Evans, New York 1977, S. 243.

[12]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 8, Juli 1946, S. 28.

[13]

Ebd., S. 33.

[14]

Cannon, Struggle for Socialism, S. 226–227.

[15]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 1, Januar 1946, S. 4.