David North
Gerry Healy und sein Platz in der Geschichte der Vierten Internationale

Die „Dialektik“ des Opportunismus

Im Jahr 1975 eröffnete die Workers Revolutionary Party die „Schule für marxistische Ausbildung“ („College of Marxist Education“) in Derbyshire. In den nächsten zehn Jahren sollte sie zum Schauplatz unzähliger Vorträge werden, in denen Healy, der offiziell für die Ausbildung der Kader zuständig war, seine Auffassung des dialektischen Materialismus darlegte. Als Grundlage dienten ihm hauptsächlich Lenins Philosophische Hefte (Band 38 der Gesammelten Werke) und Materialismus und Empiriokritizismus (Band 14 der Gesammelten Werke). Etwas später ergänzte er sein Repertoire durch Marx' Ökonomisch-Philosophische Manuskripte von 1844. Nur ganz selten nahm Healy auf die Schriften Leo Trotzkis Bezug.

Healys Vortragstechnik bestand zunächst aus ausführlichen einleitenden Bemerkungen, die sich für gewöhnlich mit Problemen aus der Arbeit der WRP befassten. Bis dahin folgte ihm das Publikum mit lebhaftem Interesse. Unweigerlich wandte er sich dann der Tafel zu und begann, Schaubilder zu zeichnen, die angeblich die Stadien des Erkenntnisprozesses, ausgedrückt in den Kategorien der Hegelschen Dialektik, darstellen sollten. Es dauerte nicht lange, bis das gesamte Publikum restlos verwirrt war und nicht mehr folgen konnte, wo der „Schein“ endete und die „Erscheinung“ begann, oder wo das „Endliche“ zum „Unendlichen“ wurde oder sich „Etwas“ in sein „Anderes“ verwandelte. Die Sache wurde dadurch nicht besser, dass Healy niemals das gleiche Schaubild zweimal zeichnete und man nie mit Bestimmtheit vorhersagen konnte, ob die „Wirklichkeit“ vor der „Existenz“ auftauchen würde oder anders herum. Es konnte Healys Schülern beim besten Willen nicht gelingen, sich seine Dialektik durch all ihre Stadien hindurch zu merken; weil sie von einem Tag auf den anderen immer neue Pfade einschlug.

Während die mystische Darstellung Healys Vorträge oft unverständlich machte, wäre es falsch zu sagen, dass sie einfach keinen Sinn hatten. Healys theoretische Auffassungen bestanden aus einer eklektischen Mischung verschiedener Strömungen der bürgerlichen subjektiv-idealistischen Philosophie des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Healy gab den Marxismus auf, der die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins als einen historischen Prozess untersucht. Seine Fixierung auf die gedankliche Tätigkeit des Individuums führte dabei zu Ähnlichkeiten mit der zeitgenössischen bürgerlichen „Phänomenologie“, genauer gesagt: zu einer Karikatur auf diese. Im Verlauf seiner Vorträge würden unvermittelt Elemente aus den Auffassungen bürgerlicher Denker auftauchen, und zwar so unterschiedlicher wie William James, Edmund Husserl, Alexius Mienong und sogar Maurice Merleau-Ponty. Healy war sich darüber selbstredend nicht bewusst. Während des Abstiegs in den Revisionismus sind sich die wenigsten über die bürgerlichen intellektuellen Strömungen bewusst, die den Weg ihrer theoretischen Degeneration vorzeichnen. Was Healy für seine eigenen „Entdeckungen“ in der Erkenntnistheorie hielt, war nur ein vereinfachtes und eklektisches Wiederkäuen von Auffassungen, die in den vergangenen Jahrzehnten von den Berufsphilosophen der bürgerlichen Akademien in sehr viel ausgefeilterer und systematischerer Form aufbereitet worden waren.

Worin bestand also die Bedeutung von Healys Vorträgen und Schaubildern? „Das ist die Art und Weise, wie ich denke“, würde er seinen Schülern mit Nachdruck sagen. Und diese Bemerkung war wirklich der Schlüssel zu Healys theoretischen Vorstellungen. Die „Praxis der Erkenntnis“ gab vor zu zeigen, wie die Sinneswahrnehmungen eines Individuums – nämlich Gerry Healys – nach einem Prozess dialektischer Verwandlungen schließlich als theoretische Ideen hervortraten, die in die Praxis umgesetzt werden konnten. Mit den Schaubildern versuchte Healy, unter Einsatz einer schlecht verdauten hegelianischen Terminologie zu rekonstruieren, wie er selbst instinktiv auf die Wahrnehmungen seiner Sinnesorgane reagierte und intuitiv zu praktischen Schlussfolgerungen gelangte.

Es steht außer Frage, dass Healys Fälschung der Dialektik bei der Degeneration der WRP eine große Rolle spielte. Aber es wäre einseitig und irreführend, wollte man behaupten, dass die Degeneration der Partei und Healys selbst einfach das Ergebnis einer schlechten philosophischen Methode gewesen sei. Die falsche Methode – deren exzentrische Seiten von Jahr zu Jahr absurder hervorstachen – war ein Ergebnis davon, dass die WRP-Führung die marxistische Politik fallen ließ, und diente ihr dabei als Waffe. Die Quelle der Vulgarisierung der Dialektik lag im Druck von Klassenkräften auf die WRP. Healys theoretische Auffassungen – die, wie wir bereits sahen, von Slaughter, Pilling, Smith und Kemp gefördert wurden – waren der Versuch, mit Hilfe pseudo-hegelianischer und pseudo-marxistischer Phraseologie eine Erkenntnis theoretische Grundlage für den ungezügelten Opportunismus zu konstruieren, der die Politik der WRP zunehmend bestimmte.

Der zentrale Grundsatz von Healys Phänomenologie lautete, dass das dialektische Denken im wesentlichen ein unbewusster, quasi organischer physiologischer Prozess sei. Jede Sinneswahrnehmung war eine Art Gedankenembryo, der sich dann durch die ihm inne wohnende Bewegung in strenger Übereinstimmung mit den Kategorien der Hegelschen Logik zu einer ausgereiften Idee für eine praktische Tätigkeit entwickelte. Das Individuum musste diesem Empfindungsstrom nur freien Lauf lassen, dann würde er schließlich seine dialektische Metamorphose in einen theoretischen Begriff vollziehen und das Subjekt zum Handeln treiben. Für Healy bestand der größte erkenntnistheoretische Fehler – und er bekämpfte ihn verbissen – darin, dass der Strom von Empfindungen, der durch das Wirken der äußeren Welt auf die rohen Sinnesorgane der Mitglieder hervorgerufen wurde, ungewollt durch das bestehende Wissen der Partei beeinflusst und somit vom rechten Weg abgebracht werden könnte. Insoweit das in der Vergangenheit gewonnene Wissen der Partei bei der Erkenntnis der objektiven Realität überhaupt eine Rolle spielen sollte, so höchstens als passive und unbewegliche Masse, die von dem Empfindungsstrom durchdrungen und dadurch – wieder unbewusst – in neues Wissen verwandelt wurde.

„Große Sorgfalt“, schrieb er in den frühen achtziger Jahren,

muss darauf verwendet werden, der äußeren Welt keine abstrakten Gedankeninterpretationen aufzuerlegen. Man muss zulassen, dass sich ihre unabhängigen Eigenschaften im Denken aufbauen, und darf diesen, noch verborgenen und unbekannten Eigenschaften, keine verfrühten abstrakten Gedanken aufzwingen...

Wenn wir unsere Sinne richtig ausbilden und benutzen wollen, dürfen wir der äußeren Welt keine Gedankenbilder aufzwingen. (Hegel-Marx-Lenin)

Wenn Healy gegen „abstrakte Gedankeninterpretationen“ und „Gedankenbilder“ zu Felde zog, meinte er damit in Wirklichkeit die theoretischen und politischen Auffassungen Leo Trotzkis. Mitgliedern, die auf Healys Schulungen die Werke von Trotzki und anderen großen Marxisten zitierten und versuchten, deren Lehren auf die heutigen Ereignisse anzuwenden, wurde gewöhnlich vorgeworfen, sie würden „leere Worthülsen“ verwenden und der „lebendigen Wirklichkeit tote Abstraktionen“ aufzwingen. Parteimitglieder, die davon sprachen, die dialektische Methode auf die Untersuchung der objektiven Realität „anzuwenden“, durften eine scharfe Zurechtweisung erwarten. Der Marxismus, betonte Healy, könne nicht „angewendet“, sondern nur aus der Natur „abstrahiert“ werden.

Diese verbalen Unterscheidungen waren nicht so willkürlich und obskur, wie sie erscheinen mögen. Healy verbarg seine Ziele hinter einem großspurigen philosophischen Jargon. Er versuchte, die Verwendung marxistischer Begriffe bei der Analyse sozialer Beziehungen und politischer Entwicklungen zu unterdrücken. Anstatt einer kritisch-revolutionären Haltung zur bestehenden gesellschaftlichen Wirklichkeit wurde den Mitgliedern nahegelegt, lediglich die „äußere Welt“ durch ihre Sinne aufzunehmen. In der Praxis führte das zu einer Anpassung an die bestehenden Formen des Klassenkampfs, wie er sich in Großbritannien und international unter der Vorherrschaft der politischen Agenten des Imperialismus, d.h. der Sozialdemokraten, Stalinisten und bürgerlichen Nationalisten spontan entwickelte.

Jeder Versuch, die politischen Ereignisse zu analysieren oder gar ihre wahrscheinliche künftige Entwicklung vorherzusehen wurde wütend als „idealistische Spekulation“ und „propagandistische Bilder“ verdammt. Die „Vorwegnahme“ der „Bewegung der äußeren Welt“ hielt Healy für einen unverzeihlichen Fehler. Seine dementsprechenden Ausbrüche dienten dazu, die ins Kraut schießenden Bündnisse der WRP mit allen möglichen politischen Schurken zu rechtfertigen. Die neuen Freunde der WRP – Ken Livingstone, Ted Knight, Bill Sirs, Arthur Scargill und andere – wurden nicht länger als Vertreter ganz bestimmter politischer Tendenzen entlarvt, die klar definierbaren Klasseninteressen dienten. Statt dessen wurden ihre politischen Ausweichmanöver und offenen Verrätereien nachträglich als „Momente“ einer widersprüchlichen Entwicklung begründet, oder als Manifestationen des Konflikts zwischen der alten Form (opportunistischem Verrat) und dem hervordringenden Inhalt („revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse, wie sie in der Führung von Labour Party und Gewerkschaften widerspiegelt wird“). Über die objektive Logik ihrer Politik waren keine Schlussfolgerungen zugelassen. Sie sollten statt dessen „dialektisch“ betrachtet werden. d.h. als Individuen, deren „verborgene und unbekannte Eigenschaften“ sich auf eine nicht theoretisch vorhersehbare Art und Weise entwickeln könnten. Healys Vorrat an zynischen Spitzfindigkeiten, um den Opportunismus der WRP zu entschuldigen, war unerschöpflich!

In einem Brief an die Zellensekretäre der WRP vom 14. Juni 1980 erklärte Healy rund heraus, sein Ziel bestehe darin, „Genossen in dem auszubilden, was am besten als unbewusste Anwendung der dialektischen Methode bezeichnet werden kann, genau wie man viele Fähigkeiten hat und Dinge tut, ohne sich notwendigerweise darüber bewusst zu sein.“ Es könnte keine ausdrücklichere Zurückweisung des Marxismus geben. Viele lebensnotwendige Funktionen laufen unbewusst ab. Wir alle verdauen unsere Nahrung, aber deshalb sind wir nicht für Darmoperationen qualifiziert. Ein Arzt mit einem Skalpell in der Hand braucht mehr Wissen als die persönliche Bekanntschaft mit Magenbeschwerden. Er kann nur arbeiten, wenn er die biologische Wissenschaft bewusst studiert und gemeistert hat. Andere, aber nicht weniger wissenschaftliche Kenntnisse sind notwendig, wenn man revolutionäre Politik machen will. Man kann genau so wenig ein „unbewusster“ dialektischer Materialist wie ein „unbewusster“ Atomphysiker sein. Das „unbewusste“ Praktizieren des Marxismus hat nichts mit Marxismus, um so mehr aber mit seinem Gegenteil zu tun – mit pragmatischem Opportunismus.

Healys Begeisterung für die „unbewusste Dialektik“ zeigte erneut, wie weit er und die Workers Revolutionary Party sich von den Prinzipien entfernt hatten, die sie einst im Internationalen Komitee verteidigt hatten. Beinahe 20 Jahre zuvor hatte der Vorläufer der WRP, die Socialist Labour League, sich darüber lustig gemacht, wie die amerikanische Socialist Workers Party Castro als „unbewussten Marxisten“ anpries. Im Juni 1961 hatte die SLL spitz an die SWP geschrieben: „Weder wünschen noch erwarten wir die Verwandlung der bestehenden kleinbürgerlich-nationalistischen Führung in marxistische Kader, selbst wenn sie, wie Monsieur Jourdain, marxistische Phrasen spucken, ohne es selbst zu wissen.“ (Trotskyism Versus Revisionism, Bd. 3, S. 117)

In den achtziger Jahren befasste sich Healy nicht mehr mit dem systematischen und genauen Studium politischer Entwicklungen. Er las beinahe nichts mehr außer Lenins Konspekt zu Hegels ,Wissenschaft der Logik‘ (in den Philosophischen Heften) und die hölzernen Schriften zeitgenössischer sowjetischer Philosophie-Akademiker.[1]

Trotz seinem Fimmel mit Lenins Philosophischen Heften ignorierte er geflissentlich, dass Lenin, während er sich Auszüge aus Hegels Logik machte und eigene kritische Randbemerkungen notierte, gleichzeitig seinen bedeutendsten politischen Kampf gegen den Revisionismus führte und große politische Abhandlungen schrieb: Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale, Sozialismus und Krieg und Der Imperialismus.[2] Healy dagegen verfasste nun schier endlose Artikel über die „dialektische Erkenntnis“. Aber er schrieb praktisch nichts zur Frage politischer Perspektiven. Wenn er sich bei seltenen Gelegenheiten zu einer Analyse der politischen Situation gezwungen sah, wie zum Beispiel beim Ausbruch des Malwinenkriegs 1982, waren die Resultate verheerend.[3]

Weit entfernt, ein methodologisches Instrument zur Analyse der objektiven Wirklichkeit zu sein und die Partei zu orientieren, diente Healys „Dialektik“ als fraktioneller Knüppel. Ihr dreifacher Zweck bestand darin, die Politik zu vernebeln, den grotesken Opportunismus der Führung zu rechtfertigen und den Kader zu verwirren. Stets wurden Hegels Kategorien bemüht, um den Verrätereien der Gewerkschaftsbürokratie, mit denen Healy prinzipienlose Abkommen geschlossen hatte, einen Heiligenschein zu zaubern. Nachdem zum Beispiel der TUC und die NGA den Streik gegen den Stockport Messenger ausverkauft und die von der Tory-Regierung verhängte Strafe bezahlt hatten, entwarf Healy eine Resolution des Zentralkomitees, die zu beweisen versuchte, dass das Handeln der Bürokraten das unvermeidliche und notwendige Produkt der Erkenntnismomente sei.

Mittwoch, der 14. Dezember 1983 kennzeichnete die Negation des Scheins in die Erscheinung, als der Vorstand mit 29 zu 21 Stimmen entschied, die NGA fallen zu lassen und die Tory-Gewerkschaftsgesetze von 1980 anzuerkennen...

Die Erscheinung, die sich am 14. Dezember offenbarte, entwickelte sich durch eine Serie von Ereignissen hindurch weiter, die schließlich die NGA dazu zwangen, sich am 19. Januar 1984 dem Gericht zu fügen und die Geldstrafe zu zahlen. An diesem Punkt wurde die Erscheinung, als Einheit des Scheins und der Existenz zur Wirklichkeit. (Wie die WRP den Trotzkismus verraten hat, in Vierte Internationale, Jg. 13; Nr. 1; S. 83)

Um die Mitgliedschaft im Zustand heilloser Verwirrung zu halten, entwickelte Healy mit Hilfe Slaughters und der anderen Hohepriester in der WRP eine geweihte pseudo-philosophische Ausdrucksweise, die als offizielle Sprache in den politischen Debatten – bzw. dem, was dafür ausgegeben wurde – das normale Englisch ersetzte. Den Mitgliedern wurde weisgemacht, dass sie die von der Führung ausgegebene politische Linie nicht angreifen sollten, weil sie einfach nicht gescheit genug seien, sie zu verstehen. Welchen Reim sollte sich das durchschnittliche WRP-Mitglied beispielsweise auf folgende Erklärung machen, die Healys „Abteilung Zentralkomitee“ über die politische Arbeit der Partei zusammengeschustert hatte:

Die vier vom Sechsten Kongress angenommenen Resolutionen sind das vom Kongress ,Behauptete‘. Ausgedrückt in dialektisch-materialistischen Begriffen sind sie das ,ANDERE DES ERSTEN‘ (ANDERE DES SECHSTEN KONGRESSES)...

Von den Beschlüssen des Sechsten Kongresses (Behauptung) zur Einheitmit dem unmittelbaren Sein durch Widerspruch (dem Behaupteten). Das Vorhandensein des Positiven im Negativen (absolutes Wesen) wird die Erkenntnis der Veränderungen hervorbringen, die seit dem Kongress stattgefunden haben. Das bringt sowohl die Erscheinung als auch das absolute Wesen hervor, das in der Anti-These durch die Negation der Negation in unsere ,Erkenntnistheorie‘, bestehend aus ,logischen‘ und ,historischen‘ Analysen der Ereignisse, negiert wird.

Durch Wesen in Existenz wird eine Synthese gebildet, in der als Ergebnis der Analyse die Teile der Kongressresolutionen, die am dringendsten geworden sind, zusammen mit den ,Veränderungen‘ als ,Wesen‘ auftreten. Wir müssen diese selben ,Teile‘, die sich im Wesen verändert haben, einander deutlich gegenüber stellen, um das Wesen der Veränderungen, die stattgefunden haben, zu bestimmen.

Der Verlauf des Kongresses erlaubt, dass die Analyse durch die Antithese der Negation der Negation, die die Synthese bildet, erstmals die Bedeutung des abstrakten Charakters der Resolutionen des Sechsten Kongresses klarer nachweist, der im Erfassen der Bewegung im dialektischen Denken noch deutlicher enthüllt wird. (ebd. S. 89)

Diese Sprüche erfüllten eine weitere wichtige Funktion: Sie erlaubten den WRP-Führern, jeder direkten Diskussion konkreter politischer Fragen untereinander auszuweichen und so den Ausbruch politischer Differenzen zu vermeiden, die zu einer Spaltung führen und die Opportunisten ihre Kontrolle über die Organisation und das Internationale Komitee hätte kosten können. Bevor eine politische Frage daher zur Diskussion gestellt werden konnte, musste sie erst einer Reihe philosophischer Abstraktionen unterzogen werden; d.h. die wirklichen politischen Ereignisse und Probleme mussten ihres wirklichen irdischen Inhalts beraubt und in unwirkliche logische Kategorien verwandelt werden.

Aber diese verbalen Kunstgriffe reichten nicht aus, um die immer tiefere politische Krise der Workers Revolutionary Party zu verbergen. Der äußere Schein der Einheit der Partei wurde dadurch aufrecht erhalten, dass immer mehr politische Autorität in den Händen Healys konzentriert wurde. Auf ihrem Vierten Kongress verabschiedete die WRP eine außerordentliche Resolution, in der Healy die absolute und unanfechtbare Kontrolle über die Organisation gegeben wurde. Er bekam alle Vollmachten, nicht nur einzelne Mitglieder, sondern ganze Komitees auszuschließen, ohne Rechenschaft abzulegen.

Auf dem Fünften Kongress im Februar 1981 brachte kein anderer als Cliff Slaughter den Antrag ein, diese Resolution zu erneuern. In Worten, an die er sicher lieber nicht erinnert werden möchte, trat Slaughter für diese eindeutig gegen die Statuten verstoßende Regelung ein. Er betonte, Healy brauche unbeschränkte Vollmachten, um den Kader in seiner dialektischen Methode auszubilden!

„Wir haben auf einem früheren Kongress eine Resolution verabschiedet“, erklärte Slaughter,

auf Grund der erwiesenen Unerlässlichkeit der Ausbildung in dieser Methode und angesichts dessen, was Genosse Healy über die Beziehung zwischen ihr – der Notwendigkeit dieser Methode – und der Disziplin erklärt hat. Diese Resolution wird also dem Kongress zur erneuten Bestätigung vorgelegt: dass mit dem Inkrafttreten dieser Resolution in die Hände von Genosse Healy die Disziplinarvollmacht über alle Komitees und alle Teile der Partei gelegt wird.

Nach einer langen Liste von Rednern, die alle die Resolution unterstützten, rief Slaughter zur Abstimmung auf, und Healys absolute Vollmachten wurden einstimmig gutgeheißen.[4]

So absurd diese Resolution heute scheinen mag, sie ergab sich logisch aus der Situation, die durch die lange opportunistische Verfaulung der Partei geschaffen worden war. Die Arbeit der WRP wurde nicht länger von einer marxistischen Perspektive angeleitet und war nicht mehr strategisch auf die Machteroberung der Arbeiterklasse orientiert. Die zentrale Führung wurde von politischen Differenzen zerrissen, die um so erbitterter wurden, als man sie nicht diskutierte. Was schließlich die politische Qualität des Parteikaders betrifft, so war sie drastisch gemindert worden durch jahrelange Massenrekrutierungskampagnen, in denen jeder zum Mitglied gemacht wurde, der sich herabließ, einen Mitgliedsausweis zu unterzeichnen und 10 Pence Eintritt zu zahlen. Um das Fehlen einer einheitlichen politischen Perspektive, die siedenden Differenzen in der Führung und die Desorientierung und Ignoranz der im höchsten Grade heterogenen Mitgliedschaft zu vertuschen, wurde Healys geschwächten Schultern ein imposanter Mantel unanfechtbarer Unfehlbarkeit umgehängt. Er sollte als gemeinsamer Orientierungspunkt einer Partei dienen, die kein anderes Mittel hatte, ihre Aktivitäten zu lenken.

Das instabile Gleichgewicht innerhalb der WRP wurde im Herbst 1982 unterbrochen, nachdem Healys Studien im dialektischen Materialismus veröffentlicht worden waren. Als direkter Teilnehmer an den Ereignissen, die diesem seltsamen, Mitleid erregenden Pamphlet folgten, sieht sich der Autor verpflichtet, seine persönlichen Erinnerungen anzuführen.

Ende Oktober 1982 reiste ich nach Großbritannien, um die WRP-Führung über meine Meinungsverschiedenheiten zu Healys theoretischer Arbeit und dem generellen opportunistischen Abdriften im IKVI und der WRP zu informieren. Sowohl Banda als auch Slaughter erklärten sich zunächst mit dieser Kritik einverstanden und stimmten zu, dass eine Diskussion über die Perspektiven und die theoretische Arbeit des Internationalen Komitees und der Workers Revolutionary Party dringend notwendig war. Während Slaughter seine Zustimmung sorgfältig in so unverbindliche Worte fasste, wie sie unter den gegebenen Bedingungen irgend möglich waren, sprach sich Banda mit einer Vehemenz gegen Healy aus, die ebenso erstaunlich wie beunruhigend war. Immerhin war es der Generalsekretär der WRP, augenscheinlich Healys Schützling und Nachfolger, der seinen lebenslangen Mentor in Ausdrücken verurteilte, die man normalerweise für seinen schlimmsten Feind reserviert.

Was Healy betrifft, so war er bass erstaunt über meine Darlegung von Differenzen und machte nicht den geringsten Versuch, die Fragen zu debattieren, die ich aufgebracht hatte. Mehr als meine Kritik selbst beunruhigte ihn allerdings die Tatsache, dass sie die Einheit der WRP-Führung auf einen Schlag durchbrochen hatte. In privaten Diskussionen warf mir Healy wutentbrannt vor, mich in die Angelegenheiten der WRP „einzumischen“ und seinen Kader „durcheinander zu bringen“ – als ob es irgendwie prinzipienlos und unberechtigt sei, wenn ein Vertreter der trotzkistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten seine Meinung zu der Arbeit der trotzkistischen Bewegung in Großbritannien äußert! In privaten Notizen, die er für ein Treffen seines Politischen Komitees am 20. Oktober 1982 vorbereitete, schrieb Healy ärgerlich: „D. North versucht in seinem Herantreten an die Genossen, theoretische Unentschiedenheit und Rückständigkeit auszunutzen.“ Vierzig Jahre zuvor war Healy ein politisches Bündnis mit den Führern der Socialist Workers Party eingegangen, um gegen das nationalistische Provinzlertum der alten Workers Internationalist League zu kämpfen. Er hatte die Beschuldigungen von Haston und anderen ertragen, „Cannons Agent“ in Großbritannien zu sein. Aber Healys eigener politischer Niedergang war 1982 so weit fortgeschritten, dass er zu dem selben Anti-Internationalismus zurückkehrte, den er in den vierziger Jahren bekämpft hatte.

Ein weiterer Zwischenfall war bezeichnend für das Ausmaß von Healys Degeneration. Als ich Healy gegenüber meine Besorgnis über das opportunistische Abgleiten der WRP zum Ausdruck brachte, versuchte ich ihn an seine eigenen Warnungen gegenüber der Socialist Workers Party und an den Kampf zu erinnern, den er in den sechziger Jahren gegen den Revisionismus geführt hatte. „Sch... auf die sechziger“, spuckte er erbittert aus. „Wichtig waren die siebziger Jahre. Da hatten wir die Tageszeitung.“ Diese Worte machten klar, dass Healy den Kämpfen den Rücken gekehrt hatte, die seinen wichtigsten Beitrag zur Vierten Internationale gebildet hatten. Das Wachstum des Apparats der WRP und ihre praktischen Erfolge bedeuteten Healy jetzt mehr als der lange Kampf für revolutionäre Prinzipien, der die organisatorischen Fortschritte ursprünglich ermöglicht hatte.

Wie bald klar werden sollte, war Healy nicht bereit, in der WRP und im Internationalen Komitee eine Diskussion über die politischen und theoretischen Fragen zuzulassen, welche die Workers League aufgebracht hatte. Zu Cannons Opposition gegen eine Diskussion über die Fragen, die von der Socialist Labour League aufgeworfen worden waren, hatte Healy im Jahr 1966 geschrieben: „Cannon wusste sehr genau, dass sein so genannter Kader auseinanderbrechen würde, wenn er eine Diskussion mit der SLL begänne.“ Und für dieses Ausweichen nannte Healy Cannon einen „Opportunisten und politischen Feigling“. (Trotskyism Versus Revisionism, Bd. 4, S. 290) Jetzt hätte man dieselben Worte auf Healy anwenden können.

Sobald ich Großbritannien verlassen hatte, bemühte sich Healy, das „Einvernehmen“ in der WRP-Führung wieder herzustellen. Ich kann nicht genau sagen, wie er das erreichte, aber offensichtlich gab es einen unsauberen Schacher zwischen Healy, Banda und Slaughter. Sie beschlossen, jede Diskussion über die politischen und theoretischen Differenzen zu unterdrücken, die im IKVI aufgekommen waren. Als ich zwei Monate später nach Großbritannien zurückkehrte, wo angeblich eine wirkliche Diskussion über die Perspektiven des Internationalen Komitees beginnen sollte, hatten Banda und Slaughter ihre vorherige Übereinstimmung mit meiner Kritik widerrufen und verkündeten lauthals, Healys Schriften zur Dialektik seien ein unvergänglicher Beitrag zur Philosophie!

Im Jahr 1984 unternahm die Workers League einen weiteren Versuch, eine Diskussion über die Perspektiven zu erzwingen. Im Januar schickte sie einen ausführlichen Brief an Banda, in dem sie ihre Bedenken umriss, und in einem politischen Bericht an das IKVI im Februar wurde diese Kritik sehr viel genauer ausgeführt. Healy, der mittlerweile jeder Diskussion über Fragen der Perspektiven sorgfältig aus dem Weg ging, nahm an dem IK-Treffen nicht teil. Aber er hatte Banda, Slaughter und Pilling beauftragt, die Workers League zu denunzieren und ihr eine sofortige Spaltung anzudrohen, wenn sie ihre Kritik nicht zurückzöge. Die Workers League erkannte, dass sie mit dem Beharren auf einer Diskussion der WRP einen Vorwand zur Spaltung des Internationalen Komitees bieten würde, und zwar unter Bedingungen, wo der Kader der Weltbewegung nichts über die vorgebrachte Kritik wusste. Daher beschloss sie widerstrebend, das Ultimatum der WRP nicht herauszufordern.[5]

Nach dem Treffen und der Rückkehr der Workers-League-Delegation in die Vereinigten Staaten schickte Healy Slaughter einen Brief, in dem er dem „lieben Cliff“ für seine „gute politische Arbeit“ dankte. Dieser Brief und Slaughters Antwort entlarven die WRP-Führung als verkommene Clique. Sie zeigen auch, wie die WRP-Führer versuchten, ihren niedrigen Verrat mit pseudo-marxistischen Phrasen zu adeln.

Healy setzte die Workers League mit der Reagan-Regierung gleich und brüstete sich, dass „wir vom Standpunkt der Entwicklung der dialektisch-materialistischen Methode stark genug sind, unsere wichtigsten und mächtigsten imperialistischen Gegner ideologisch aufzustöbern...

Unsere Gegner sahen metaphysisch die Gegensätze als sich gegenseitig ausschließende Gegensätze, und so stellten sie ihre Sektion als einen Teil der Weltpartei gegen die Weltpartei selbst. In ihren Köpfen wurden beide zu sich ausschließenden Gegensätzen. Um ihre metaphysische Illusion aufrecht zu erhalten, benutzten sie eine pragmatische Auswahl von Zitaten ohne jeden wirklichen Inhalt, um sie auf subjektive Weise gegen die politische Entwicklung des Internationalen Komitees zu benutzen.

Wir als dialektische Materialisten sehen Gegensätze in ihrer Einheit und wechselseitigen Durchdringung, wir begegneten der Herausforderung mit einem wahren Frontalangriff, indem wir die Argumente unserer Gegner konkret in den Bedingungen der Weltrevolution, wie sie heute bestehen, entlarvten... Aus diesem Grund verwandelten wir die Gegensätze mit allen erdenklichen Kniffen ineinander und erreichten eine neue Einheit von Gegensätzen auf einer neuen und höheren Ebene. Wir haben die Spaltung vermieden, die von den metaphysischen Pragmatikern auf die Tagesordnung gesetzt worden ist, und stellten statt dessen diese neue Einheit und Identität von Gegensätzen her, von der sie noch ein Teil sind. Wir freuen uns darauf, in dieser Art und Weise weiterzuarbeiten. Wiederum werden wir, wenn nötig, alle Kniffe einsetzen. (Vierte Internationale, Jg. 13 Nr. 1, S. 87)

Zwei Tage später, am 16. Februar 1984, antwortete Slaughter entzückt:

Lieber Gerry,

Danke für Deinen Brief vom 14. Februar. Ich glaube, dass das, was Du sagst, tiefer zum wesentlichen Inhalt dessen vordringt, was auf dem IK-Treffen am 11./12. Februar stattfand. Der Angriff der US-Sektion hat das Bedürfnis der Imperialisten zum Inhalt, das IK zu zerstören. Dass wir diesen Angriff zurückgeschlagen haben, bedeutet, dass die dialektisch-materialistische Ausbildung der Kader in der letzten Periode tatsächlich in Übereinstimmung mit den Erfordernissen war, die durch die sehr tief greifenden Prozesse revolutionärer Veränderung in der objektiven Welt geschaffen worden sind. Ohne die systematische Arbeit sowohl an Band 14 als auch an Band 38 hätte die objektive Notwendigkeit im Kern dieses inneren Zusammenhangs nicht so klar verstanden und so bewusst zum Inhalt unserer Antwort gemacht werden können.

Nicht nur das: wir müssen verstehen, dass, wie Dein Brief zum Schluss erklärt, die neu geschaffene Einheit und der Konflikt der Gegensätze kein vollendeter, in sich abgeschlossener Prozess ist, sondern sich ständig im inneren Zusammenhang mit der Weltrevolution neu entwickelt, von der er ein Teil ist. Darum gehen wir vorwärts und werden, wenn nötig, ,alle Kniffe einsetzen‘.

Mit brüderlichem Gruß, Cliff (ebd.)

Die Unterdrückung der Diskussion im Internationalen Komitee besiegelte den Untergang Healys und der Workers Revolutionary Party. Nur einen Monat später begann der Bergarbeiterstreik. Sheila Torrance räumt in ihrem Nachruf auf Healy ein, dass der Streik in der WRP „eine Periode tiefer Verwirrung“ hervorrief, aber sie gibt nicht zu, dass die politische Quelle dieser Verwirrung in der opportunistischen Degeneration der WRP lag und darin, dass Healy die politische Diskussion im Internationalen Komitee unterdrückte.

Die Politik der WRP im Bergarbeiterstreik zeichnete sich durch eine Mischung von Hysterie und kriecherischem Opportunismus aus. Healy war überzeugt, dass die parlamentarische Demokratie in Großbritannien praktisch zerstört worden sei und Thatcher eine persönliche, bonapartistische Diktatur errichtet habe. Im November 1984 rief Healy auf einer Versammlung der News Line aus: „Wenn die Bergarbeiter eine Niederlage erleiden, werden wir in Thatchers Großbritannien illegal sein.“ Aber während Healy darauf beharrte, dass Großbritannien an der Schwelle zum Faschismus stünde, widersetzte er sich jeder Kritik an Scargills Weigerung, den TUC und die Labour-Regierung zum Sturz der Tory-Regierung aufzufordern. Statt dessen überschüttete die News Line Scargill mit Lob, und Healy bestand sogar darauf, dass ein Bild des NUM-Führers im Hauptquartier der WRP aufgehängt wurde. Um das Maß vollzumachen, schrieb Healy einen persönlichen Brief an Scargill, in dem er anbot, ihm sämtliche Einrichtungen und Mittel der WRP zur Verfügung zu stellen!

Die Niederlage des Bergarbeiterstreiks brachte das verbliebene, labile Gleichgewicht der WRP endgültig zum Einbruch. Wenige Wochen nach dem Ende des Streiks brach in der Parteiführung ein blindwütiger Fraktionskampf aus, der innerhalb weniger Monate zum Zusammenbruch der WRP führte.


[1]

Healy war so beeindruckt von diesen sowjetischen Autoren, dass er oft lange Passagen aus ihren Schriften in seine eigenen Artikel einfügte, ohne sie als Zitat zu kennzeichnen oder ihre Quelle zu nennen.

[2]

In all diesen Werken widerspiegelt sich Lenins intensives Studium der Hegelschen Dialektik sehr stark – allerdings nicht in einer willkürlichen Verwendung des philosophischen Jargons, sondern in der Brillanz, mit der Lenin die dialektisch-materialistische Methode beim Studium politischer und ökonomischer Phänomene anwandte.

[3]

In einem polternden Brief an die Parteimitgliedschaft vom April 1982 nahm Healy keine Notiz davon, dass Argentinien ein vom Imperialismus unterdrücktes Land war. Er stellte den Krieg so dar, als sei er im Wesentlichen ein Konflikt zwischen zwei imperialistischen Mächten, den USA und Großbritannien. Die USA, verkündete er, arbeiteten insgeheim für den Sieg Argentiniens, und die Niederlage Großbritanniens stehe von vornherein fest. Healy bezog keine defätistische, sondern eher eine pazifistische Position. Er verurteilte den Labour-Abgeordneten Tony Benn, weil er auf den Ausbruch der Kampfhandlungen mit der Forderung nach dem Sturz Thatchers reagiert habe. Um einen Riesenskandal zu vermeiden, organisierte Banda, dass Healys Brief wieder eingezogen wurde, bevor ihn zu viele Mitglieder der WRP sahen.

[4]

Aus dem Protokoll des Kongresses geht hervor, dass Banda, Slaughter, Dave Temple und Dot Gibson zur Unterstützung der Resolution sprachen. Heute behaupten sie alle zynisch, unschuldige Opfer von Healys persönlicher Diktatur gewesen zu sein.

[5]

Obwohl die Workers League ausdrücklich ein vollständiges Treffen des Internationalen Komitees verlangt hatte, waren die Socialist Labour League in Australien und die Revolutionary Communist League in Sri Lanka nicht einmal darüber informiert worden.