David North
Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken: Eine marxistische Kritik

Die politische und ideologische Irrfahrt von Alex Steiner

Brief von David North an Alex Steiner und Frank Brenner, Oktober 2008

1. Einführung

Im Frühjahr 2006 schrieb ich »Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein«,[1] eine Antwort auf die Angriffe von Alex Steiner und Frank Brenner auf das Internationale Komitee der Vierten Internationale. Steiner und Brenner sind zwei ehemalige Mitglieder der Workers League (Vorläuferin der Socialist Equality Party). Sie hatten die revolutionäre Bewegung in den 1970er-Jahren verlassen. Doch obwohl sie sich seit vielen Jahren im politischen Ruhestand befanden, empfanden sie keine Hemmungen, die theoretische Arbeit, die politischen Aktivitäten und die organisatorischen Praktiken der SEP und des IKVI in einem Dokument mit dem Titel »Objektivismus oder Marxismus«[2] zu verurteilen. Sie behaupteten, das Internationale Komitee lehne die Dialektik ab und führe keinen Kampf gegen den Pragmatismus.

Die Folgen dieser angeblichen Vernachlässigung der Dialektik äußerten sich darin, dass (1) das IKVI nicht verstehe, welche Bedeutung die Wiederbelebung des Utopismus für das Erwecken sozialistischen Bewusstseins habe, und dass es (2) die Probleme der Psychologie und der Sexualität ignoriere. Steiner und Brenner schreiben Letzteren eine maßgebliche Rolle bei der Prägung der politischen Motivation und Orientierung zu, die nach ihrem Dafürhalten im Wesentlichen irrational sind. Sie werfen dem IKVI vor, weil es den Schwerpunkt seiner Arbeit auf historische Erklärungen, politische Analysen und programmatische Klarheit lege, habe es sich nicht mit den psychologischen Hindernissen auseinandergesetzt, die dem Sozialismus im Wege stünden. Diese Hindernisse befänden sich in den »verdrängten Gefühlen des Unterbewussten«, die in der »erstarrten, nicht aufgearbeiteten Vergangenheit« eines Menschen fortbestünden.

Das Dokument von Steiner und Brenner stützt sich größtenteils auf Auffassungen, die der »kritischen Theorie« der Frankfurter Schule und ähnlichen ideologischen Strömungen nahestehen, die unter dem Sammelbegriff »westlicher« oder »humanistischer Marxismus« zusammengefasst werden. Der Einfluss der Frankfurter Schule, zu der insbesondere die Arbeiten von Max Horkheimer, Theodor Adorno, Karl Korsch, Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Erich Fromm und Wilhelm Reich zählen, erreichte seinen Höhepunkt zur Zeit der radikalen Studentenproteste der späten 1960er-Jahre. Nach dem Abflauen der Welle des kleinbürgerlichen Radikalismus festigte sich ihr Einfluss an den Hochschulen und Universitäten, wo viele ehemalige Radikale dauerhafte Anstellungen fanden. Aus ihren akademischen Festungen heraus führen die Anhänger der Frankfurter Schule seither einen unbeugsamen Krieg – nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen den Marxismus, und das mit beträchtlichem Erfolg. Mit seltenen Ausnahmen wurde an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Hochschulen während der vergangenen Jahrzehnte nichts mehr gelehrt, was dem Marxismus auch nur im Entferntesten ähnelt – selbst wenn man darunter nichts weiter als eine konsequente Anwendung des philosophischen Materialismus auf das Studium der Geschichte, der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Bewusstseins versteht.

Der hartnäckige Einfluss dieser geistigen Strömung beruht auf drei historischen Faktoren, die eng miteinander verbunden sind: Erstens den Niederlagen der Arbeiterklasse in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und der Vernichtung bedeutender Teile der sozialistischen Intelligenz und Arbeiterschaft, die die theoretischen Traditionen des klassischen Marxismus verkörperten, durch den Faschismus und den Stalinismus; zweitens der Stabilisierung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg; und drittens der Vorherrschaft der stalinistischen, sozialdemokratischen und reformistischen Partei- und Gewerkschaftsbürokratien über die Arbeiterklasse während des größten Teils dieses Zeitraums. Diese komplexe Verbindung objektiver und subjektiver historischer Faktoren verhinderte eine revolutionäre Neubelebung der Arbeiterklasse und schuf ein geistiges Klima, in dem Pessimismus und Demoralisierung gedeihen konnten und das sich gegen den Marxismus richtete.

Soweit ungünstige historische Umstände verhinderten, dass der Marxismus revolutionäre Massenkämpfe der Arbeiterklasse theoretisch anleiten konnte, war der Weg frei für seine Verdrehung und Verfälschung im Interesse von gesellschaftlichen Kräften, die der Arbeiterklasse fremd, ja feindlich gegenüberstanden. Dabei spielte die Frankfurter Schule eine wichtige Rolle. Sie verwandelte den Marxismus aus einer theoretischen und politischen Waffe des proletarischen Klassenkampfs, den Horkheimer, ­Adorno und Marcuse ablehnten, in eine gesellschaftlich undifferenzierte Form der Kulturkritik, die den politischen Pessimismus, die gesellschaftliche Entfremdung und die persönliche und psychologische Frustration von Teilen der Mittelklassen zum Ausdruck brachte.

Das Dokument Steiners und Brenners bot eine Gelegenheit, die Haltung der trotzkistischen Bewegung zur antimarxistischen Frankfurter Schule genau zu bestimmen. Steiners und Brenners Meinungsverschiedenheiten mit dem Internationalen Komitee, schrieb ich, »betreffen nicht vereinzelte Programmpunkte, sondern grundlegende Fragen der philosophischen Weltanschauung, auf die sich der Kampf für den Sozialismus gründet«. »Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein« ging der Frage nach, weshalb Steiner und Brenner derart feindselig auf die Ausarbeitung politischer Perspektiven reagierten, auf die die trotzkistische Bewegung traditionell immer großen Wert gelegt hat. Sie wiesen die Auffassung zurück, »dass solche, auf der Grundlage des historischen Materialismus erstellten Analysen und Kommentare grundlegend oder wichtig für die Entwicklung sozialistischen Bewusstseins seien«, und lehnten Perspektiven ab, »wie sie Marxisten verstehen, die bemüht sind, die revolutionäre Praxis auf eine möglichst korrekte und präzise Analyse der objektiven Welt zu stützen«. Sie verlangten, dass – wie ich es zusammenfasste – »sich das Internationale Komitee nicht vorrangig mit Politik und Geschichte beschäftigt, sondern mit Psychologie und Sex, wie sie insbesondere in den Werken Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses dargelegt werden«.

Der subjektive und idealistische Standpunkt von Steiner und Brenner war nicht mit den marxistischen Grundlagen zu vereinbaren, auf denen die Arbeit des IKVI beruht. Das IKVI wies ihren Versuch zurück, »den verwirrten und antimarxistischen Pseudoutopismus Wilhelm Reichs, Ernst Blochs und Herbert Marcuses in die Vierte Internationale einzuschleusen und damit die theoretischen und programmatischen Grundlagen und die Klassenorientierung der trotzkistischen Bewegung grundlegend zu verändern«.

Ich warnte, ihr Angriff auf den angeblichen »Objektivismus« des IKVI sei ein Versuch, philosophischen Irrationalismus und Subjektivismus zu rechtfertigen. Sie missbräuchten den Begriff »Objektivismus« als »Schimpfwort«, um »die Erforschung sozioökonomischer Prozesse« zu verurteilen, »die die Grundlage der revolutionären Praxis bilden«. Sie griffen damit jene an, die Wert auf »ein wissenschaftliches Verständnis der Gesetzmäßigkeiten des internationalen Kapitalismus, des weltweiten Klassenkampfs und der Formen ihrer Widerspiegelung im Bewusstsein der Massen« legen.

Ich lehnte Steiners und Brenners Eintreten für utopische Mythen, wie sie in kleinbürgerlich-radikalen Kreisen in Mode sind, mit der Begründung ab, »dass die Widersprüche des Kapitalismus den entscheidenden Anstoß für die Entwicklung revolutionären Bewusstseins geben«. Aufgabe der marxistischen Bewegung sei es nicht, die Arbeiter mit dem Trugbild einer illusorischen Utopie anzuspornen, sondern

unter fortgeschrittenen Arbeitern ein wissenschaftliches Verständnis der Geschichte als gesetzmäßiger Prozess, der kapitalistischen Produktionsweise und der darauf beruhenden gesellschaftlichen Beziehungen sowie des Wesens der gegenwärtigen Krise und ihrer welthistorischen Auswirkungen zu entwickeln. Es geht darum, den unbewussten historischen Prozess in eine bewusste politische Bewegung zu verwandeln, die Auswirkungen der Zuspitzung der kapitalistischen Weltkrise vorauszusehen und sich darauf vorzubereiten, die Logik der Ereignisse offenzulegen und die angemessene politische Antwort zu formulieren – strategisch und taktisch.

Diese Herangehensweise lehne ab, »wer in den objektiven, vom Kapitalismus selbst geschaffenen Verhältnissen keine Grundlage für den Sozialismus findet, wer von Niederlagen und Rückschlägen demoralisiert ist, wer weder das Wesen der kapitalistischen Krise begreift, noch das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse wahrnimmt«. Solche Leute sähen »das Problem der Veränderung des Bewusstseins im Wesentlichen auf ideelle, ja psychologische Weise. Da keine reale Grundlage für das sozialistische Bewusstsein existiert, muss die Möglichkeit seiner Entwicklung anderswo gesucht werden. Aus diesem Grund glaubt ihr, Genossen Brenner und Steiner, dass ›die Utopie entscheidend für eine Wiederbelebung der sozialistischen Kultur ist‹.«

In den letzten Teilen meiner Antwort ging ich den theoretischen Einflüssen nach, die sich – eingestanden oder uneingestanden – in Steiners und Brenners Dokument fanden. Ich machte insbesondere auf die Schlüsselwerke Hendrik de Mans (»Zur Psychologie des Sozialismus«), Wilhelm Reichs (»Die Massenpsychologie des Faschismus«) und Herbert Marcuses (»Triebstruktur und Gesellschaft«) aufmerksam. Am Schluss antwortete ich auf Steiners und Brenners Behauptung, »die wirklichen Probleme des Kampfs für sozialistisches Bewusstsein« lägen »jenseits des Horizonts der ›objektiven Umstände‹«: »Wir leben und kämpfen in einer Welt der ›objektiven Umstände‹. Sie sind ebenso Quell unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten wie ihrer letztendlichen Lösung.«

Ab September 2007 veröffentlichten Steiner und Brenner ihre Antwort auf »Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein«. Sie erschien als Serie über einen Zeitraum von drei Monaten und trug den Titel »Marxismus ohne Kopf oder Herz. Eine Antwort auf David North«.[3]

2. Steiner, Brenner und das Erbe des Marxismus

Steiner und Brenner beginnen ihr Dokument mit einer Schimpftirade gegen »Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein«. Es sei ein »grauenhaftes Werk«, »voller Fehlinterpretationen und Ausflüchte«, geschrieben in einem »bombastischen Stil«, der jedoch seinen »mageren Inhalt« nicht verbergen könne. Vor allem zeige es, »wie sehr die Führung des IKVI theoretisch heruntergekommen« sei. »Was North als ›Marxismus‹ bezeichnet, hat weder Kopf noch Herz – d. h. ihm fehlen die Dialektik und das Proletariat, die beiden Dinge, die den Marxismus erst zu einer revolutionären Lehre machen.«

In subjektivem und verbittertem Ton nennen Steiner und Brenner mich einen »Heuchler ersten Ranges« und greifen meine »Kleinlichkeit, Boshaftigkeit und Unehrlichkeit« an.

Eine solche Sprache kann nur jemanden beeindrucken, der einer grundsätzlichen politischen Auseinandersetzung ausweicht. Ich sehe keinen Grund, darauf zu antworten. Eine ihrer Anschuldigungen verdient jedoch Aufmerksamkeit. »In seinem jüngsten Dokument«, schreiben sie, »verteidigt North nicht mehr das Erbe des revolutionären Marxismus, sondern rechtfertigt stattdessen die Preisgabe entscheidender Teile dieses Erbes durch das IKVI.«

Das wirft eine wichtige Frage auf: Was genau verstehen Steiner und Brenner unter dem »Erbe des revolutionären Marxismus«? Seit einem Jahrzehnt äußern sie ihre wachsende Nichtübereinstimmung mit den theoretischen Grundlagen des Marxismus. Das begann 1997 mit Brenners Behauptung, der Marxismus verfüge über keine angemessene Psychologie. 1998 verkündete er, der Marxismus benötige eine neue »Gendertheorie«. 1999 teilte mir Steiner mit, er stimme nicht mit der Auffassung von Friedrich Engels (dem lebenslangen Mitstreiter von Karl Marx) überein, dass das Verhältnis zwischen Materialismus und Idealismus die Grundfrage der Philosophie sei. Etwas später, 2002, verlangten Steiner und Brenner, das Internationale Komitee müsse die Bedeutung des Utopismus für die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins in der heutigen Zeit anerkennen. 2003 beschuldigte Steiner Georgi Plechanow, den »Vater des russischen Marxismus«, er vertrete einen »vulgären Materialismus«. Dem folgte 2004 ein langer Angriff auf Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus«. 2005 trat die Kampagne von Steiner und Brenner in eine neue Phase ein: Sie beschuldigten das IKVI öffentlich des »Objektivismus« und griffen es an, weil es sich weigerte, die Erkenntnisse von »Freudomarxisten« wie Wilhelm Reich in seine theoretische Arbeit einfließen zu lassen.

In ihrem jüngsten Dokument entwickeln sie all diese Themen im Rahmen einer hemmungslosen Beschimpfung des Internationalen Komitees und von mir persönlich weiter. Wie in der Politik üblich, dienen die Beleidigungen dazu, die theoretischen und ideologischen Fragen zu verschleiern.

Das ist nötig, weil Steiner und Brenner wissen, dass sich die SEP und das IKVI auf eine theoretische Tradition stützen, die nichts mit der Frankfurter Schule zu tun hat. Das versetzt sie in eine schwierige Lage: Sie müssen für die Theoretiker werben, deren Ideen sie dem IKVI aufdrängen wollen, und sich gleichzeitig von ihnen distanzieren. Aus diesem Grund behaupten sie, ich hätte den Zusammenhang zwischen ihren Ansichten und denen der Frankfurter Schule konstruiert. Sie erklären:

Keine Verschwörungstheorie ist vollständig, wenn nicht einige bekannte Namen genannt werden, und so zieht North Reich, Marcuse und Bloch mit hinein … North geht es dabei nur um eins: uns in Sippenhaft zu nehmen, als wäre die bloße Nennung dieser Namen ein schlüssiger Beweis dafür, dass wir den Marxismus aufgegeben haben. Dass er das im Namen der Verteidigung des Marxismus als Wissenschaft tut, verleiht dem Ganzen einen Schuss bitterer Ironie.

Anschließend widerlegen sie meine »Verschwörungstheorie«, indem sie wiederholt betonen, das Internationale Komitee begehe einen schweren Fehler, indem es nicht aus den Werken von Reich, Marcuse, Bloch und Adorno lerne:

Man muss Bloch nicht verteidigen oder über seine Fehler, insbesondere seine Unterstützung des Stalinismus, hinwegsehen, um zu verstehen, dass sein Werk trotzdem Wertvolles enthalten kann.

… Wir waren niemals Anhänger von Reich und haben nichts geschrieben, was etwas anderes belegt. Wir anerkennen zwar, dass die Freudomarxisten einen wichtigen Beitrag geleistet haben, aber ihr Erbe ist, wie so vieles andere im Geistesleben des 20. Jahrhunderts, widersprüchlich. Wie wir im vorangegangenen Kapitel bemerkt haben, bewerten Marxisten ein solches Werk kritisch und nutzen, was darin noch lebendig ist. Dies ist unsere Einstellung zu Reich.

… Trotz allem haben Reichs Einsichten immer noch einen beträchtlichen politischen Wert.

… Wiederum muss man bei der Auswahl von Reichs Ideen vorsichtig vorgehen (so lag er mit den Ansichten, Polizisten müssten als Arbeiter betrachtet werden und man müsse mit Nazis diskutieren, völlig daneben), und vieles im alltäglichen Leben hat sich seither verändert. Doch einige seiner Gedanken über Jugendliche haben einen bleibenden Wert. In dieser Hinsicht zeigte er vorbildlich, was es politisch bedeutet, »sich in andere Leute hineinzuversetzen«.

… Der Versuch, das Werk von Adorno, Marcuse und Ernst Bloch abzutun, weil sie sich politisch verwerflich verhielten, ist ein Appell an intellektuelle und kulturelle Rückständigkeit … Steiner sagte, diese Figuren hätten möglicherweise wertvolle Erkenntnisse gehabt, die wir zu unserem Nachteil ignorieren. Das soll nicht heißen, dass ihr Werk über alle Kritik erhaben ist und dass es darin nichts gibt, das ihre Politik beeinflusst hat und umgekehrt. Aber Marxisten sind verpflichtet, ein derart heterogenes Werk sorgfältig durchzugehen und es sich kritisch anzueignen, und nicht, es zu ignorieren oder als wertlos abzutun, bevor sie es überhaupt gelesen haben, weil der Autor politisch verwerflich war.

Soviel zu meiner »Verschwörungstheorie«! Nicht ich, sondern sie nutzen jede Gelegenheit, um Marcuse, Reich, Bloch usw. »mit hineinzuziehen«. Nach den oben zitierten Absätzen muss man fragen: Was hat all das mit der Verteidigung des »Erbes des Marxismus« zu tun? Steiner und Brenner vertreten einen theoretischen Eklektizismus, der nichts mit den philosophischen Grundlagen der trotzkistischen Bewegung gemein hat. Schon die Form ihrer Argumente – »Können wir nichts daraus lernen …?«, »Müssen wir alles ablehnen …?«, »Gibt es darin nichts von Interesse …?« – ist typisch für jenes »einerseits, andererseits«, das Marx stets scharf kritisiert hat.

In »Das Elend der Philosophie« schrieb Marx:

Für Herrn Proudhon hat jede ökonomische Kategorie zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Er betrachtet die Kategorien, wie der Spießbürger die großen Männer der Geschichte betrachtet: Napoleon ist ein großer Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes getan.

Die gute Seite und die schlechte Seite, der Vorteil und der Nachteil zusammengenommen bilden für Herrn Proudhon den Widerspruch in jeder ökonomischen Kategorie.

Zu lösendes Problem: Die gute Seite bewahren und die schlechte beseitigen.[4]

Steiner und Brenner halten mir entgegen, die Arbeiten der Frankfurter Schule seien nicht »wertlos«. Aber mit diesem Wort habe ich ihre Schriften nicht beschrieben. Die Frage ist nicht, ob die Schriften der Frankfurter Schule »wertlos« sind, sondern ob sie eine Alternative zum Marxismus und eine Entwicklung darstellen, die über ihn hinausgehen. An keiner Stelle bemühen sich Steiner und Brenner, die Konzeptionen der Frankfurter Schule systematisch darzustellen, ihre historischen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Wurzeln zu untersuchen und den objektiven inneren Zusammenhang zwischen den Werken ihrer führenden Vertreter offenzulegen. Trotz ihrer rhetorischen Beschwörung der »Dialektik« bieten sie keine historische und dialektisch-materialistische Analyse der Frankfurter Schule. Eine solche hätte eine Untersuchung ihres Ursprungs, ihrer Entwicklung, ihrer Widersprüche sowie der Klasseninteressen erfordert, die sie ideologisch zum Ausdruck bringt. Stattdessen erfährt der Leser, dass Reich oder Marcuse viel Dummes geschrieben haben, aber eben auch einiges Gute. Reich endete vielleicht als Antikommunist, doch dieses letzte Kapitel seines Lebens habe nichts mit den vorangegangenen zu tun.

Steiner und Brenner gehen einfach darüber hinweg, dass nicht ein führender Vertreter der Frankfurter Schule mit der Vierten Internationale sympathisierte oder ihr beitrat. Das ist kein Zufall. Die theoretische Arbeit der Frankfurter Schule beruhte auf einer reaktionären – irrationalistischen, idealistischen und individualistischen – philosophischen Tradition, die im Gegensatz zum klassischen Marxismus stand, auf den Trotzki seine politische und theoretische Arbeit stützte. Ihre Anschauungen waren weit stärker von den Schriften Schellings, Schopenhauers, Nietzsches und Heideg­gers geprägt, als von den Werken von Marx und Engels. Die politischen Ansichten, die in der Frankfurter Schule vorherrschten – ihre Zurückweisung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse, ihr historischer und kultureller Pessimismus, ihre impressionistische Reaktion auf politische Ereignisse – hatte nichts mit der aus einer dialektischen, historisch-materialistischen Analyse abgeleiteten Perspektive gemein, auf die sich die Arbeit der Vierten Internationale stützte.

Die führenden Vertreter der Frankfurter Schule verbrachten den größten Teil ihres erwachsenen Lebens in einem Zustand der politischen Verzweiflung. Die Meister der »kritischen Theorie« und der »negativen Dialektik« erwiesen sich als inkompetent und orientierungslos, wenn es um die Analyse politischer Fragen ging. Der Aufstieg des Faschismus und die Niederlagen der Arbeiterklasse in den 1930er-Jahren zerstörte das geringe Vertrauen, das sie vorher vielleicht noch in die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution gehabt hatten. Horkheimers und Adornos »Dialektik der Aufklärung«, die 1947 veröffentlicht wurde und als philosophisches Gründungsdokument der Frankfurter Schule gilt, verkündete das Scheitern aller Aussichten auf menschlichen Fortschritt.

Während der 1950er- und 1960er-Jahre zeigten sich die politisch reaktionären Implikationen dieser Weltsicht. Unter Leitung ihres langjährigen Direktors Max Horkheimer, der aus seinem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt war, spielte die Frankfurter Schule nach dem Fall des Nazi-Regimes eine führende Rolle dabei, das ideologische Fundament für den westdeutschen bürgerlichen Staat zu entwickeln. Zur selben Zeit stießen die Werke Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses, die die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft in der modernen kapitalistischen Gesellschaft abschrieben, auf Resonanz im Milieu der kleinbürgerlichen radikalen »Neuen Linken«. Mit diesem »Erbe«, dessen Vernachlässigung uns Steiner und Brenner vorwerfen, hatte die Vierte Internationale nie etwas zu tun, und sie konnte es auch nicht haben.

Steiner und Brenner berufen sich auf das »Erbe des Marxismus«, um ihren Angriff auf das Internationale Komitee zu rechtfertigen. Doch betrachtet man die wirkliche historische und theoretische Grundlage ihrer Kritik, dann steckt dahinter ein starkes Element des Selbstbetrugs und der offenen politischen Lüge. Als Individuen haben Steiner und Brenner natürlich ein Recht auf ihre eigene Meinung. Aber sie erklären nicht, weshalb sich das IKVI plötzlich theoretischen und politischen Standpunkten anschließen sollte, die es bisher immer abgelehnt hat. Sie verlangen Veränderungen im theoretischen und politischen Lehrplan des IKVI, für die es in der Geschichte der Vierten Internationale keine Grundlage gibt.

3. Zum Ursprung der Polemik von Steiner und Brenner

Steiner und Brenner haben ein politisches Narrativ entwickelt, das sie als Opfer eines bürokratischen Parteiapparats darstellt, der meinem Willen unterworfen ist und ihre Kritik an der angeblichen Preisgabe des Marxismus durch unsere Bewegung rücksichtslos unterdrückt. Die Weigerung der SEP, ihnen die »World Socialist Web Site« als Forum für ihre antimarxistischen Auffassungen zur Verfügung zu stellen, deuten sie als Kennzeichen einer aufkeimenden politischen Diktatur. Sie haben damit gerechnet, dass sie mit dieser Geschichte bei politisch Unerfahrenen auf Sympathie stoßen – besonders in den Vereinigten Staaten, wo der Sozialismus als Folge der jahrzehntelangen antikommunistischen Propaganda im öffentlichen Bewusstsein mit der Unterdrückung persönlicher Rechte in Verbindung gebracht wird. Natürlich können Steiner und Brenner die Tatsache nicht einfach ignorieren, dass sie die Bewegung vor dreißig Jahren verlassen haben, während nahezu ihres gesamten Erwachsenenlebens ihren privaten Interessen nachgegangen sind und die »WSWS« daher in keiner Weise verpflichtet ist, ihre Dokumente zu veröffentlichen. Sie versuchen dieses Problem zu umschiffen, indem sie einräumen:

Wir wollen die Bedeutung der Parteimitgliedschaft nicht kleinreden, doch North ignoriert diesbezüglich eine peinliche Tatsache, die wir in »Objektivismus oder Marxismus« angesprochen haben: Steiner beantragte 1998 die Wiederaufnahme in die Partei, doch die Parteiführung – und das heißt hauptsächlich North – hat nie auf diesen Antrag reagiert und nie erklärt, warum. Steiner hat diesen Antrag Jahre vor dem Aufkommen politischer Differenzen gestellt, zu einer Zeit, in der er Material zur »WSWS« beisteuerte. Kurz, es war North, der Steiner aus der Partei heraushielt und der jetzt Steiner zum Vorwurf macht, dass er kein Parteimitglied sei.

North gibt nicht einmal ansatzweise eine glaubwürdige Darstellung der Umstände, die zu dieser Polemik geführt haben.

In Wirklichkeit habe ich in »Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein« den Ursprung der Polemik dargestellt. Ich bin aber gerne bereit, diese Darstellung durch weitere Einzelheiten zu ergänzen. Dazu ist es allerdings nötig, auf die politische Biographie Alex Steiners einzugehen. Ich bezweifle, dass er diese Aufmerksamkeit zu schätzen weiß, schreiben doch Steiner und Brenner in einem anderen Teil ihres Dokuments: »Alex Steiner ist kein Führer einer revolutionären Bewegung; seine Aktivitäten als Individuum haben keine Bedeutung für diese Diskussion.« Wie bescheiden! Doch mit Verlaub, ich bin da anderer Meinung.

Es gibt dafür drei Gründe. Erstens ist ein öffentlicher politischer Angriff, einschließlich des Aufrufs an die Parteimitgliedschaft, die Führung auszuwechseln, kein Akt eines Individuums, sondern eines Anwärters auf die politische Führung. Ein solcher Angriff setzt die Bereitschaft seines Urhebers voraus, Führungsverantwortung zu übernehmen, sollte sich die Gelegenheit dazu ergeben, das heißt, sollte er aufgefordert werden, die poli­tischen Änderungen zu verwirklichen, für die er in seinem Dokument eintritt. Zweitens stammen die Teile über die theoretische und philosophische Linie in dem gemeinsam mit Brenner verfassten Dokument hauptsächlich von Steiner. Ein Blick auf seinen ideologischen und politischen Werdegang wird daher helfen, den Ursprung und die Bedeutung seiner Argumente zu verstehen. Und drittens gibt es viele von Steiner und Brenner nicht erwähnte schriftliche Dokumente, die dokumentieren, wie Steiner Meinungsverschiedenheiten mit der SEP entwickelte, bevor er sie öffentlich angriff.

Dazu gehört ein Briefwechsel über Steiners Antrag auf Parteimitgliedschaft im Jahr 1999 (nicht 1998!). Die Briefe, die er mir und der SEP damals schrieb, zeigen, dass es bereits zu jener Zeit bedeutende Meinungsverschiedenheiten zwischen Steiner und der Socialist Equality Party über Grundfragen der marxistischen Philosophie und über die Geschichte der Partei gab. Praktisch alle Differenzen, die Steiner und Brenner in ihren späteren Dokumenten aufbrachten, wurden in diesen Briefen bereits vorweggenommen. Diesen Briefwechsel haben Steiner und Brenner nicht in das mehrere hundert Seiten umfassende polemische Material aufgenommen, das sie auf ihrer Website veröffentlicht haben. Ebenso fehlen andere Briefe Steiners, die meine theoretische Arbeit völlig anders einschätzen als seine jüngsten, fraktionell motivierten Abhandlungen. Diese auffälligen Auslassungen zeugen von Doppelmoral und dem Fehlen politischer und theoretischer Grundsätze.

Bevor wir uns dem schriftlichen Material zuwenden, möchten wir den Leser aber noch auf einen eklatanten Widerspruch im Narrativ Steiners und Brenners aufmerksam machen. Im Laufe ihrer Darstellung der angeblichen theoretischen und politischen Degeneration der SEP behaupten sie, die Bewegung sei während der Jahre des dot.com-Booms den Blendungen des Kapitalismus erlegen. Sie schreiben: »Was in den Jahren zwischen 1993 und 1998 geschah, war ein Zurückweichen der Führung des Internationalen Komitees vor dem immensen Klassendruck der bürgerlichen Gesellschaft.«

Wenn das stimmt – wie erklärt Steiner dann, dass er 1999 einen Mitgliedsantrag stellte? Träfe seine Einschätzung des Niedergangs des IKVI zu, müsste man annehmen, dass ihn die Ausdünstungen der politischen Degeneration anzogen und er daran teilhaben wollte. Aber das war natürlich nicht der Grund. Wie wir sehen werden, hatte Steiner die SEP 1999, als er die Mitgliedschaft beantragte, und in seinem Briefwechsel von 1997 bis 2003 völlig anders eingeschätzt, als er dies nun in »Marxismus ohne Kopf und Herz« tut.

4. Alex Steiner und die Socialist Equality Party

Alex Steiner verließ die Workers League im Herbst 1978, kurz bevor sie ihr Hauptquartier von New York nach Detroit verlegte, ohne jede Begründung. Zuvor war er 1973 während einer politischen Krise, die im Rücktritt des Nationalen Sekretärs der Workers League, Tim Wohlforth, gipfelte, schon einmal ausgetreten. Im Sommer 1974 trat er der Partei dann wieder bei. Doch mit seinem zweiten Austritt im Jahr 1978 endete seine Laufbahn innerhalb der revolutionären Bewegung. In der letzten Diskussion, die er vor seinem Austritt mit mir führte, sagte Steiner: »Das Leben ist sehr bitter.« Ich habe oft an diese Worte gedacht, weil sie nicht nur die persönliche Niedergeschlagenheit eines Individuums, sondern den Pessimismus und die Demoralisierung eines breiteren Milieus kleinbürgerlich-radikaler Intellektueller zum Ausdruck brachten. Dennoch bedauerte ich Steiners Ausscheiden aus der Workers League. Besonders nach seinem Wiedereintritt im Jahr 1974 hatten wir zusammen an verschiedenen theoretischen Projekten gearbeitet. Seine intellektuellen Fähigkeiten wurden jedoch durch seine emotionale Unbeständigkeit, seine rasche Entmutigung durch Probleme und seine pessimistische Lebenseinstellung unterhöhlt.

Als 1985 das Auseinanderbrechen der britischen Workers Revolutionary Party eine öffentliche Krise im Internationalen Komitee auslöste, lud die Workers League Steiner und andere ehemalige Mitglieder zu einem Treffen in New York ein. Dort berichtete ich über die politischen und theoretischen Fragen, um die es in der Auseinandersetzung ging. Steiner äußerte seine Zustimmung zur Haltung der Workers League, zeigte aber kein Interesse an einem Wiedereintritt in die Partei. Er hatte eine berufliche Laufbahn eingeschlagen und einen komfortablen Lebensstil entwickelt, den er nicht aufgeben wollte. Dennoch sprach er den Wunsch aus, regelmäßiger mit der Partei in Kontakt zu bleiben.

Erst in den späten 1990er-Jahren deutete Steiner an, dass er über eine Rückkehr in die Politik nachdachte. Er bat mich öfter um ein Treffen, wenn ich in New York sei, und erklärte mündlich und manchmal auch schriftlich, sein Einverständnis mit der theoretischen Arbeit der Partei, insbesondere mit ihrem Kampf gegen den Einfluss der Postmoderne. So erhielt ich am 10. Juni 1997 den folgenden Brief von ihm:

Lieber Dave,

mit Vergnügen habe ich Deine jüngste Rede über den Holocaust[5] gelesen. Sie ist besonders aktuell, weil viele, die jegliche Gesetzmäßigkeit der Geschichte leugnen, den Holocaust als wichtigstes Beispiel anführen. Das gilt insbesondere für Autoren, die sich mit der Postmoderne identifizieren. Die europäischen Poststrukturalisten (Derrida, Lyotard) machen dabei gemeinsame Sache mit den amerikanischen Pragmatikern (Rorty), alles im Namen der »Befreiung« des Denkens von »Metaerzählungen«. Wie Habermas und andere nachgewiesen haben, geht ihr Angriff auf die Vernunft in direkter Linie auf Nietzsche und Heideg­ger zurück; ihr Ziel ist die Überwindung Hegels und Marx’.

Ich finde die Zusammenarbeit der heutigen Nihilisten mit den traditionellen Pragmatikern und Empirikern faszinierend. Ich kann dir aus persönlicher Erfahrung sagen, dass der Geist der Postmoderne in breiten Schichten von Mittelklasse-Intellektuellen Resonanz findet. Erst kürzlich habe ich einen Kurs zu diesem Zeug belegt, und ich war der einzige, der zu zeigen versuchte, dass der postmoderne Kaiser keine Kleider anhat.

In einem Nachtrag zu seinem Brief lobte Steiner einen weiteren Vortrag von mir. »Ich habe Deinen Artikel über die Aufklärung[6] in meinem Hegel-Kurs verteilt, als Beispiel für eine zeitgenössische Verteidigung der Aufklärung.« Steiners Zustimmung zu meinem Vortrag über die Aufklärung steht in völligem Gegensatz dazu, dass Steiner und Brenner meine Verteidigung der Aufklärung später angegriffen haben.

In seinem Brief aus dem Jahr 1997 bewertet Steiner theoretische Fragen genau umgekehrt, als er und Brenner dies in ihren heutigen Dokumenten tun. In dem zitierten Brief bezeichnet Steiner meinen Vortrag als »besonders aktuell«, weil er die vorherrschenden, einflussreichen Auffassungen der Postmoderne angreift. 2006, in »Objektivismus oder Marxismus«, tun Steiner und Brenner die Postmoderne dagegen als »eine im Verschwinden begriffene Modeerscheinung« ab, die kaum die Aufmerksamkeit von Marxisten verdiene. »Vor zwanzig Jahren«, verkünden sie, »wäre ein Angriff auf die Postmoderne von Bedeutung gewesen; heute dagegen ist es nur noch ein Herumreiten auf – zumindest beinahe – Vergangenem.«

Bemerkenswert an dem Brief von 1997 ist auch, dass Steiner hier mit seinem Hinweis auf Richard Rorty ausdrücklich eine Verbindung zwischen der Postmoderne und dem Pragmatismus herstellt. Trotzdem greifen mich Steiner und Brenner in »Objektivismus oder Marxismus« und in »Marxismus ohne Kopf oder Herz« heftig an, weil ich Wert auf die Beziehung zwischen diesen beiden Formen subjektiv-idealistischer und irrationalistischer Philosophie lege!

Sie schreiben: »Wenn North behauptet, dass ›die Postmoderne eine der Hauptströmungen der zeitgenössischen pragmatischen Philosophie darstellt‹, meint er in Wirklichkeit, dass er mit dem Angriff auf die Postmoderne den Pragmatismus erledigt hat und wir uns darüber keine Sorgen mehr zu machen brauchen.« Hier stellen Steiner und Brenner falsch dar, was ich geschrieben habe, um die Bedeutung der Verbindung zwischen Postmoderne und Pragmatismus kleinzureden, auf der Steiner selbst 1997 noch bestanden hatte. Tatsächlich habe ich in »Marxismus, Geschichte und Sozialistisches Bewusstsein« geschrieben:

Erstens habe ich mit keinem Wort behauptet oder auch nur angedeutet, die Postmoderne habe den Pragmatismus ersetzt. Sie ist vielmehr eine Spielart pragmatischen Denkens, und zwar eine, die die subjektiv-idealistischen, voluntaristischen und irrationalen Elemente des klassischen Pragmatismus, die bis auf James zurückgehen, zu ihrer extremsten und reaktionärsten Schlussfolgerung treibt. Wenn man, wie ihr das tut, nahe legt, die Postmoderne stelle eine grundlegend andere theoretische Denkschule dar, ist das ein großes Zugeständnis an den Pragmatismus. Ihr schützt ihn damit vor der intellektuellen Verlegenheit über die groben Ausschweifungen seines postmodernen Sprösslings.[7]

Im Oktober 1997 nahmen Steiner und Brenner an einem öffentlichen Treffen teil, das an den 20. Jahrestag der Ermordung eines jungen Führungsmitglieds der Workers League, Tom Henehan, erinnerte. Steiner, der Henehan gekannt und bewundert hatte, war sichtlich berührt von dem Treffen – wenn auch vielleicht mehr emotional als politisch. Am Ende der Versammlung gab mir Steiner zu verstehen, dass er an einer systematischeren Zusammenarbeit mit der SEP beim Verfassen von Artikeln über marxistische Theorie interessiert sei.

Im Februar 1998 begann das IKVI mit der Herausgabe der »World Socialist Web Site«. Während der folgenden Monate führten Steiner und ich mehrere Diskussionen über die Möglichkeit, auf der »WSWS« einen Philosophiebereich zu entwickeln. Nichts deutete darauf hin, dass Steiner die »WSWS« als Rückzug des IKVI zum »bloßen Journalismus« betrachtete. Im Gegenteil, er war begeistert über die Möglichkeiten, die sie für die Verbreitung marxistischer Theorie und Politik unter einer größeren Leserschaft bot.

Es gab jedoch Hinweise, dass die vielen Jahre, die Steiner außerhalb der Bewegung verbracht hatte, ihre Spuren in seinen theoretischen Auffassungen hinterlassen hatten. Im Herbst 1998 legte er mir einen Essay mit dem Titel »Entfremdung und Revolution«[8] vor, der die Auffassung der Entfremdung durch den jungen Marx in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844 ähnlich interpretierte, wie die Theoretiker der Frankfurter Schule und des »Westlichen Marxismus«. Steiners Essay unterschätzte deutlich, wie sehr Marx den materialistischen und wissenschaftlichen Charakter seiner Theorie in seinen folgenden Schriften (insbesondere in »Die heilige Familie«, »Die Deutsche Ideologie« und »Das Elend der Philosophie«) weiterentwickelt und vertieft hatte. Selbst nach mehreren Überarbeitungen war ich mit dem Essay nicht zufrieden und entschied, ihn nicht auf der »WSWS« zu veröffentlichen.

Die erneute Durchsicht von »Entfremdung und Revolution« im Lichte von Steiners anschließender Entwicklung zeigt, dass sich seine heutigen Ansichten darin bereits in embryonaler Form vorfinden. Der theoretische Rahmen des Essays ist aus Marcuses existenzialistischer und ahistorischer Auffassung des »Wesens des Menschen« abgeleitet, die Steiner unkritisch übernimmt. So findet sich in seinem Essay die Behauptung, das »Wesen des Menschen« werde »durch die gegenseitige Interaktion zwischen den Bedürfnissen und den Fähigkeiten des Menschen« bestimmt. Später behauptet er, »Marx’ Auffassung des Wesens des Menschen« sei »leider für alle Kommentatoren mit wenigen Ausnahmen eine unverstandene Black Box geblieben«. In diesem Zusammenhang bezieht sich Steiner auf die Arbeiten von Horkheimer, Adorno und »ganz besonders Marcuse«. Ebenso wie Marcuse reißt auch Steiner Marx’ »Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844« aus ihrem historischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhang.

Steiners Essay geht so weit, den Marxismus als Darlegung der teleologischen Entfaltung des »Wesens des Menschen« zu deuten. Das hat nicht das Geringste mit Marxismus zu tun, der jedwede Teleologie entschieden ablehnt. Als Marx seine Kritik des hegelschen Idealismus und der Anthropologie Feuerbachs vertiefte, sprach er nicht länger vom »Wesen des Menschen« oder von einer »menschlichen Natur«, die über und außerhalb der historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse stehen. So konstatierte er 1845 in den »Thesen über Feuerbach«: »…das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«[9] In ihren folgenden Schriften unterzogen Marx und Engels, gestützt auf die neu erarbeitete materialistische Geschichtsauffassung, alle Versuche einer vernichtenden Kritik, den wirklichen, existierenden, historisch-spezifischen Menschen, wie er geistig und praktisch durch bestimmte gesellschaftliche Produktionsverhältnisse konditioniert worden ist, in einen philosophisch konzipierten »abstrakten« Menschen aufzulösen. Besonders treffend ist hier ihre Kritik Max Stirners (»Sankt Sancho«), der

… irgendein beliebiges Objekt oder Verhältnis als das dem Ich Fremde, die Entfremdung des Ichs darstellt; auf der andern Seite kann Sankt Sancho nun wieder irgendein Objekt oder Verhältnis, wie wir sehen werden, als ein vom Ich geschaffenes und ihm angehöriges darstellen. Abgesehen zunächst von der Willkür, mit der er jedes beliebige Verhältnis als ein Verhältnis der Entfremdung darstellt oder nicht darstellt (da alles in die obigen Gleichungen passt), sehen wir schon hier, dass es [sich bei] ihm um weiter nichts handelt [als daru]m, alle wirklichen Verhältnisse, [ebenso wie] die wirklichen Individuen, [als entfre]mdet (um den philosophischen [Ausdruck] einstweilen noch beizubehalten) vorfinden [zu lass]en, in die ganz [abstrakte] Phrase der Entfremdung zu ver[wandeln].[10]

Marx entwickelte seine historisch materialistische Kritik und Überarbeitung des Konzepts der Entfremdung am ausführlichsten in den »Grundrissen«, die er 1857 bis 1858 schrieb. Hier besteht er darauf, dass die Individualität und die Entfremdung des Menschen das Ergebnis eines historisch bedingten gesellschaftlichen Prozesses sind.

Die universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eigenen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte. Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit die Entfremdung des Individuums von sich und von anderen, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert.[11]

Trotz dieser Meinungsunterschiede blieben unsere Diskussionen freundlich, und Steiner schien sich, zumindest an der Oberfläche, für die Arbeit der »WSWS« zu begeistern. Am 16. Februar 1999 schrieb er: »Die jüngste Arbeit der ›WSWS‹ war teilweise hervorragend.«

In dieser Zeit arbeitete Steiner auch am Entwurf einer Erklärung, die den neuen Philosophiebereich der »WSWS« einleiten sollte. Von mehreren Entwürfen eignete sich keiner zur Veröffentlichung. Allen fehlte eine mit Nachdruck formulierte theoretische Perspektive, die den marxistischen und dialektisch-materialistischen Standpunkt des neuen Philosophiebereichs begründete. Die tiefere Ursache dieses Problems zeigte sich in der letzten Version der Erklärung, die ich im Mai 1999 erhielt. Der Entwurf begann mit der Feststellung, Ziel der neuen Rubrik sei es,

… eine Diskussion über die grundlegenden philosophischen Fragen anzustoßen, die geklärt werden müssen, damit die Menschheit im neuen Jahrtausend überleben und gedeihen kann.

Was sind diese Fragen?

Vielleicht ist es hier angebracht, einen Blick zurück zu den Anfängen des spekulativen Denkens zu werfen – in die Welt des alten Griechenlands. In Platos »Der Staat« stellt Sokrates die Frage: »Was ist Gerechtigkeit?« Aristoteles fragt in seiner Nikomachischen Ethik: »Was ist das gute Leben?« Hinter beiden Fragen steht die Frage des Seins, nach dem, was existiert. Wenn wir keinen Begriff des Seienden und seiner Beziehung zu uns haben, können wir uns nicht an die Beantwortung der Frage machen, wie wir leben sollen. Die Erörterung dieser Frage führt zu einer weiteren: »Was ist Wissen?« Ist jeder Anspruch auf Wissen eine bloße Behauptung, oder gibt es eine Art allgemeingültiger Grundsätze? All diese Fragen hängen miteinander zusammen. Das Zusammenstellen solcher Fragen und die fortlaufende Suche nach Antworten ist die Aufgabe der Philosophie.

Diese Eröffnung hat etwas Angeberisches. Der Autor versucht, auf seine Belesenheit aufmerksam zu machen. Doch das ist eine Stilfrage. Ein ernsthafteres Problem ist, dass Steiner mit seinem »Blick zurück zu den Anfängen des spekulativen Denkens« eine Abkehr von der marxistischen Auffassung der Philosophiegeschichte nahelegte, die das Hauptgewicht auf das Verhältnis von Materie und Bewusstsein legt. Die Auseinandersetzung über diese Frage führte notwendigerweise zu einem Kampf zwischen zwei unversöhnlichen philosophischen Lagern: den Materialisten, die auf dem Primat der Materie gegenüber dem Bewusstsein bestehen, und den Idealisten, die in der einen oder anderen Form am Primat des Bewusstseins festhalten.

Da Steiner sich entschieden hatte, das Erbe der griechischen Philosophie anzusprechen, wäre es angemessen gewesen, darauf hinzuweisen, dass der Konflikt zwischen Materialismus und Idealismus bis in dieses klassische Zeitalter zurückverfolgt werden kann. Die Ablehnung des Materialismus durch den Idealismus zeigte sich in Platos Schriften. Diogenes Laertios zufolge wollte Plato alle Schriften des Demokrit verbrennen, dessen atomistische Theorie die Grundlagen für ein materialistisches Naturverständnis legte.

Marxisten haben den Aufbau einer philosophischen Zeitschrift traditionell als Mittel gesehen, die materialistische Weltsicht zu verteidigen und zu entwickeln. Ich wunderte mich, dass Steiner eine andere, theoretisch doppeldeutige Herangehensweise gewählt hatte. Das Wort »Materialismus« tauchte in dem ganzen Entwurf überhaupt nicht auf.

Im Juni 1999 traf ich Steiner während eines Besuchs in New York. Er sagte mir, der klare Standpunkt der SEP zum US-geführten Krieg gegen Serbien, der kurz vorher zu Ende gegangen war, habe ihn beeindruckt. Er lobte insbesondere die Erklärung »Nach der Schlächterei: Politische Lehren aus dem Balkankrieg«, die ich geschrieben hatte.[12] Das IKVI, sagte er mir, sei als einzige sozialistische Tendenz in der Lage gewesen, eine – wie er es nannte – marxistische »Theorie des Kriegs« zu entwickeln. Wegen der jüngsten Ereignisse habe er ernsthaft darüber nachgedacht, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der SEP zu stellen. Es gebe aber theoretische und praktische Fragen, die der Klärung bedürften. Dazu zählte er Engels Betonung, dass die Beziehung zwischen Materie und Bewusstsein die grundlegende Frage der Philosophie sei. Wir hatten beide nur wenig Zeit. Mir war aber sofort klar, dass die von Steiner angesprochenen Differenzen bereits in seinem Essay zur Entfremdung und in seinem Entwurf für die Einführung des Philosophiebereichs vorweggenommen worden waren. Sie konnten kaum in einer kurzen Diskussion geklärt werden. Ich bat Steiner, seinen Standpunkt in einem Brief darzulegen. Er sagte, er werde diesen Vorschlag bedenken.

5. Steiners Brief vom 25. Juni 1999

Am 25. Juni 1999 erhielt ich Steiners Brief. Er begann wie folgt:

Lieber Dave,

dies ist ein privater Austausch zwischen uns; zeige diesen Brief bitte niemandem sonst.[13]

Vieles wurde angesprochen, es gab aber wenig Zeit, die diskutierten Fragen zu vertiefen. Damit möchte ich jetzt beginnen. Diese Notizen fassen meine Gedanken sehr allgemein zusammen. Ich versuche nicht, Zitate aufzuspüren, usw.

1. Materialismus/ Idealismus

Ohne Zweifel ist dies eine grundlegende Frage in der Geschichte der Philosophie. Und es steht außer Zweifel, dass der Marxismus eine Form des Materialismus darstellte (ein Punkt, der von einigen westlichen Neomarxisten oft im Unklaren gelassen wird).

Trotzdem bin ich nicht überzeugt, dass sich die unterschiedlichen philosophischen Systeme über diese Frage voneinander scheiden.

Diese Äußerung konnte nur als starker Einwand gegen die theoretischen Grundlagen des Marxismus verstanden werden. Indem er seinen Brief damit begann, bestätigte Steiner, dass sie weitreichende Implikationen hatte. Er stellte damit die marxistische Auffassung der Philosophiegeschichte und den Zusammenhang zwischen der materialistischen Logik, der Erkenntnistheorie und der Wissenstheorie des Marxismus in Frage.

Die zentrale Bedeutung dieser Frage und ihre philosophischen Implikationen wurden als erstes von Friedrich Engels in seiner einflussreichen Schrift »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« herausgearbeitet. Engels schrieb:

Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein …

Die Frage nach der Stellung des Denkens zum Sein, die übrigens auch in der Scholastik des Mittelalters ihre große Rolle gespielt, die Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? – diese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da?

Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen – und diese Schöpfung ist oft bei den Philosophen, z. B. bei Hegel, noch weit verzwickter und unmöglicher als im Christentum –, bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus.[14]

1975, als er noch Mitglied der Workers League war und eine wichtige Rolle im theoretischen Kampf gegen den Pragmatismus der Socialist Workers Party spielte, griff Steiner George Novack, den Haupttheoretiker der SWP, ausdrücklich wegen dieser Frage an. Novack, schrieb er, »unterstützt den vorherrschenden Mythos, dass die Frage nach dem Primat von Materie oder Idee ›bedeutungslos‹ und ein dritter Standpunkt möglich sei«.[15] Ein Jahr später setzte sich Steiner mit den theoretischen Auffassungen von Tim Wohlforth auseinander. Er warf ihm vor, »die Grundfrage der Philosophie, Materialismus oder Idealismus, abzulehnen und als selbstverständlich abzutun«, und bezeichnete Wohlforths Haltung als »idealistischen Unsinn«.[16]

Steiner setzte seinen Brief vom Juni 1999 fort, indem er weitere Bereiche umriss, in denen es möglicherweise theoretische Differenzen gab:

2. Der Vorrang des Seins gegenüber dem Bewusstsein. Marx’ Materialismus räumt dem Sein tatsächlich Vorrang gegenüber dem Bewusstsein ein, sowohl historisch wie logisch. Das Sein ist auch ohne Bewusstsein möglich (wenngleich wir dann natürlich nicht hier wären, um darüber nachzudenken), doch es ist unmöglich, Bewusstsein ohne Sein zu haben. Nichtsdestoweniger ist es so, dass auch das Bewusstsein, wenn es in Form der gesellschaftlichen Praxis zum Leben erweckt wird, das Sein verändern und zeitweise entscheidenden Einfluss ausüben kann.

Die reziproke Beziehung zwischen Sein und Bewusstsein ist für den Marxismus ebenso wichtig wie der logische Vorrang des Seins. Des Weiteren gibt es viele Ebenen des Seins, von denen jede die ihr eigenen Kategorien und Bewegungsgesetze hat. Die komplexe Wechselbeziehung zwischen und innerhalb jeder hierarchischen Ebene des Seins bleibt Gegenstand weiterer Untersuchungen.

Jeder der denkt, die Wiederholung der Phrase vom Vorrang des Seins gegenüber dem Bewusstsein löse etwas, ist intellektuell faul und macht sich selbst etwas vor. (Ich sage natürlich nicht, dass du das tust – doch viele angebliche Marxisten tun genau das und bilden sich ein, sie hätten etwas »analysiert«.)

Ich hatte den Eindruck, das Steiner ins Gravitationsfeld theoretischer Tendenzen geraten war, die den Marxismus ablehnen. Die zitierten Absätze erinnerten an ähnliche Passagen in den Schriften von Vertretern der Praxisphilosophie, der Frankfurter Schule und anderer eklektischer philosophischer Strömungen, die unter den Sammelbegriff »Westlicher Marxismus« fallen. Der philosophische Faden, der diese verschiedenen Strömungen verbindet, ist ihre Unzufriedenheit mit dem philosophischen Materialismus, mit dem sie nicht übereinstimmen. Steiners Behauptung: »Die reziproke Beziehung zwischen Sein und Bewusstsein ist für den Marxismus ebenso wichtig wie der logische Vorrang des Seins« (Betonung hinzugefügt), war ein großes Zugeständnis an den philosophischen Idealismus.

Die Wechselwirkung zwischen Sein und Bewusstsein kann nur richtig verstanden werden, wenn der Vorrang der Materie gegenüber dem Bewusstsein anerkannt wird. Außerdem sind für den Marxismus als wissenschaftliche Weltanschauung die Menschheit, der Verstand und das Bewusstsein Produkte der dialektischen Evolution der Natur. Anders als für die idealistisch angehauchte Philosophie ist der Vorrang des Seins daher vom Standpunkt der Wissenschaft eine materielle und historische, und nicht bloß eine logische Priorität.

Trotzki schrieb dazu 1922 in einem Essay, mit dem er die erste Ausgabe der sowjetischen theoretischen Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« vorstellte:

Sowohl die historischen Wurzeln wie die heutige Ökonomie der menschlichen Gesellschaft gehen auf die Welt der Naturgeschichte zurück. Wir müssen den zeitgenössischen Menschen als Glied einer Entwicklung sehen, die mit der Entstehung der ersten organischen Zelle im Labor der Natur beginnt, in dem die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Materie wirken.[17]

Steiner setzte seinen Brief vom Juni 1999 mit einer Litanei bekannter Vorbehalte gegen den klassischen Marxismus fort. Darunter befand sich die Andeutung, Engels sei zwar talentiert gewesen, habe aber dennoch zur Vulgarisierung des Marxismus beigetragen: »Engels war nicht Marx … Im Grunde war Marx der Theoretiker und Engels der Popularisierer.« Diesem Hinweis auf Engels’ zweifelhaftes Erbe folgte eine nur allzu bekannte Kritik von Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus«: »Lenin legt in seinem Werk eine Version des Materialismus dar, die mehr mit dem mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts zu tun hat als mit Marx’ materialistischer Dialektik.« Steiner stellte den »vulgären« Materialisten Lenin in »Materialismus und Empiriokritizismus« dem hegelianisierten »Dialektiker« Lenin in den »Philosophischen Notizbüchern« entgegen, ein Argument, das ich zuvor viele Male in den Schriften idealistischer Gegner des Marxismus vorgefunden hatte.

Es gab jedoch auch eine hoffnungsvolle Note. Ungeachtet seiner scharfen Kritik am philosophischen Erbe der trotzkistischen Bewegung schätzte Steiner die politische Entwicklung des Internationalen Komitees positiv ein:

Ereignisse der letzten zwei Jahrzehnte haben die Voraussetzungen für eine Erneuerung des Marxismus verbessert. Bemerkenswert sind die Spaltung und die Klärung, die 1985 im Internationalen Komitee stattfanden, der Zusammenbruch des Stalinismus in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren und die Entwicklung globalisierter Kommunikation und Technologie. Die Wirkung, welche die »World Socialist Web Site« während des vergangenen Jahres und besonders der vergangenen Monate mit ihren wertvollen Berichten über das Impeachment-Verfahren gegen Clinton und den Krieg gegen Jugoslawien erzielte, hat die enormen Möglichkeiten gezeigt, auf der ganzen Welt ein Massenpublikum zu erreichen.[18]

Steiner wandte sich dann dem Verhältnis zwischen »der Philosophie und der Partei« zu und räumte ein: »Die marxistische Bewegung, organisiert als internationale politische Partei, kann bei der Entwicklung der marxistischen Philosophie eine bedeutende Rolle spielen und hat das auch getan.« Dies war eine verblüffende Aussage, denn wo sonst und durch wen sonst ist der Marxismus entwickelt worden? Steiner nannte kein Beispiel dafür, wie die marxistische Philosophie durch einzelne Theoretiker entwickelt wurde, die außerhalb der marxistischen Bewegung und ohne Verbindung zu ihr arbeiten. Er bemerkte lediglich, dass »Entwicklungen, die für die Philosophie von Bedeutung sind, von völlig unerwarteter Seite kommen können, wie zum Beispiel der Chaostheorie«. Dann fuhr er fort: »Ich glaube natürlich, dass diese Entwicklungen nur im Rahmen des Marxismus vollständig integriert und verstanden werden können, doch das bedeutet nicht, dass 1. Marxisten über eine Art privilegierte Stellung verfügen, die sie befähigt, diese Entwicklungen zu begreifen, ohne das entsprechende Thema zu beherrschen; und dass 2. Nicht-Marxisten nichts Bedeutendes zu diesen Entwicklungen zu sagen haben.«

Als ich diese in einem leicht aggressiven Ton verfassten Zeilen las, hatte ich den Eindruck, dass Steiner rhetorische Strohmänner zu einem Zweck aufbaute, über den er sich selbst noch nicht ganz im Klaren war. Es geht nicht um eine »privilegierte Stellung« – was immer das bedeuten mag –, sondern um die Rolle des Marxismus (der höchstentwickelten und konsequentesten Form der materialistischen Philosophie) bei der Herausbildung eines wissenschaftlichen Verständnisses von Natur, Gesellschaft und Bewusstsein. Haben Marxisten je bestritten, dass Entwicklungen wie die der Chaostheorie, die notwendigerweise außerhalb des Bereichs der revolutionären Politik erfolgen, ernsthafte Aufmerksamkeit erfordern? Die theoretische Tradition des klassischen Marxismus hat der Naturwissenschaft, seit Engels auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistete, immer eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Materialismus zugesprochen. Doch die von Wissenschaftlern erzielten Fortschritte mindern nicht die wichtige Rolle, die Marxisten dabei spielen, in allen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung für eine bewusste Anwendung der dialektischen Methode und eine konsequente materialistische Weltanschauung einzutreten und sich für ein politisches und geistiges Milieu einzusetzen, das einer fortschrittlichen Entwicklung der gesamten Kultur förderlich ist. Die enorme Bedeutung einer solchen Arbeit kann in Zeiten, in denen Antiintellektualismus und soziale Rückständigkeit von höchster staatlicher Ebene gefördert werden, kaum überbetont werden.

Steiner beendete diesen Abschnitt seines Briefs mit einer weiteren ­rätselhaften Bemerkung: »Wir sollten solche Entwicklungen außerdem als Möglichkeit sehen, unser theoretisches Verständnis zu bereichern, und nicht nur als weiteres Beispiel, das die Richtigkeit unserer (verknöcherten) Perspektive beweist.«

Wiederum nannte er – mit Ausnahme des vagen Hinweises auf die Chaostheorie – kein konkretes Beispiel dafür, welche konkreten »Entwicklungen« er meinte. Noch beunruhigender war seine Bezeichnung der marxistischen Perspektive als »verknöchert«. Dass er das Wörtchen diplo­matisch in Klammern setzte, schwächte den irritierenden Eindruck nicht ab. Fasst man seine Argumente zusammen, so schien sich dieser Teil seines Briefs ungeachtet der mehrdeutigen Formulierungen dagegen zu wenden, dass marxistische Auffassungen gegen andere philosophische Standpunkte verteidigt werden.

Die besorgniserregende Bedeutung seiner Bemerkungen trat im letzten Teil seines Briefs, in dem er auf die Frage der Parteimitgliedschaft einging, klar zutage. Er erklärte dort:

… Ich werde in einer Partei nicht effektiv funktionieren können, die eine dogmatische Einstellung zur Philosophie hat. Ich glaube nicht, dass die SEP und das Internationale Komitee heute eine dogmatische Einstellung haben. In der »WSWS« habe ich eine sehr offene und erfrischende Einstellung gesehen. Einige der Ansichten, die ich zum Ausdruck brachte, mögen manchen Genossen »unorthodox« erscheinen. Ich bestehe nicht darauf, dass jedermann mit diesen Ansichten übereinstimmt. Ich erwarte aber, dass ihnen offen begegnet und ihnen ein Forum geboten wird.

Warum beschwor Steiner in einem Brief zu Fragen der Philosophie und der Parteimitgliedschaft das Schreckgespenst des Dogmatismus mit all seinen abschätzigen Beiklängen? Eine dogmatische Einstellung zeichnet sich durch blinde und unflexible Überzeugungen aus, die, nicht unähnlich der Religion, durch auf Fakten und Vernunft basierende Argumente nicht zu erschüttern sind. Der Marxismus wurde von seinen Gegnern nur allzu häufig des Dogmatismus beschuldigt, um sein Festhalten am Materialismus in Misskredit zu bringen.

Es sei daran erinnert, dass James Burnham auf diese Weise versuchte, den Marxismus zu diskreditieren. Er rechtfertigte seinen Widerwillen, mit Trotzki über Fragen des dialektischen Materialismus zu diskutieren, mit der Begründung: »Ich habe schon lange aufgehört, über Religion zu streiten.« Worauf Trotzki antwortete: »Wie ich das verstehe, unterstellen Ihre Bemerkungen, dass die Dialektik von Marx, Engels und Lenin dem Bereich der Religion angehört.«[19]

Steiner hätte sich daran erinnern sollen, dass George Novack das Internationale Komitee in den frühen 1970er-Jahre in ähnlicher Weise angriff, als er unsere Opposition gegen idealistische philosophische Schulen als »Sektierertum« brandmarkte. Steiners Artikel »Marxismus, Pragmatismus und Revisionismus« von 1975, aus dem ich bereits zitiert habe, war eine von mehreren Antworten auf diesen Angriff Novacks.

Die detaillierteste Antwort auf Novacks Vorwurf des philosophischen Sektierertums gab 1973 eine Erklärung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale:

Doch was meint Novack mit Sektierertum in der Philosophie? Auf diesem Gebiet schließt der Marxismus mit Sicherheit keine Kompromisse. Auf dem Gebiet der Philosophie muss jede Differenz bis zum Ende analysiert und ausgefochten werden. Es geht dabei um die Grundlagen der Bewegung …

Nur auf der festen Grundlage des dialektischen Materialismus kann es Flexibilität der Taktik geben und sind periodische Veränderungen der Strategie möglich. In der Philosophie kommt dagegen keine Taktik in Frage. Der Standpunkt des dialektischen Materialismus, dass Theorie und Praxis im Kampf und durch den Kampf um die Veränderung der Welt vereint sind, ist der Höhepunkt und gleichzeitig ein Bruch mit der gesamten Philosophie vor Marx (eine Negation im hegelschen Sinne). Alle Philosophie seit Hegel ist entweder Teil der sich entwickelnden marxistischen Theorie oder bürgerliche Apologetik, die im Kampf gegen den dialektischen Materialismus entwickelt wurde.

Die Frage des »Sektierertums« kann hier nur aufwerfen, wer die Linie zwischen dialektischem Materialismus und bürgerlicher Philosophie verwischen will.[20]

Betrachtet man sie im Zusammenhang mit seinen Einwänden gegen die marxistische Auffassung vom Verhältnis zwischen Sein und Bewusstsein, dann waren Steiners Behauptung, die Verteidigung elementarer materialistischer Auffassungen sei ein Zeichen intellektueller Faulheit, sein Hinweis auf »verknöcherte« Perspektiven und seine Äußerungen über »eine dogmatische Einstellung zur Philosophie« Warnschüsse für die Partei.

Steiner beendete seinen Brief betont zweideutig:

Es wäre jedoch nicht ehrlich von mir, wenn ich nicht zugäbe, dass ich noch immer einige Zweifel hege. Ich bin mir einfach nicht sicher, wie gut ich in die Organisation hineinpassen würde. Ich bin auch nicht sicher, ob das Maß an Engagement, das ich zeitlich und finanziell einzubringen gewillt bin, für eine Parteimitgliedschaft ausreicht. Andererseits sehe ich keinen anderen Weg, die Antwort auf diese Fragen zu finden, als durch den Versuch einer Parteimitgliedschaft.

Wenn Du nach dem Lesen all meiner Vorbehalte noch immer der Meinung bist, ich solle mich der Partei anschließen, dann werde ich dies tun. Ich selbst werde es dann jedoch als eine Mitgliedschaft auf Probe verstehen.

Mit dieser mit zahlreichen Vorbehalten versehenen Erklärung seines persönlichen politischen Engagements schloss Steiner seinen Brief. Er bewegte sich eindeutig in eine andere theoretische Richtung als die SEP und das Internationale Komitee. Der SEP wollte er sich nur unter seinen eigenen Bedingungen anschließen. Er interessierte sich vor allem für die Parteimitgliedschaft, weil er hoffte, die »WSWS« werde ihm Zugang zu einem öffentlichen Forum verschaffen, auf dem er theoretische Auffassungen verbreiten konnte, die den philosophischen Standpunkten der Vierten Internationale fremd waren. Im Austausch dafür, dass sie ihm für seine Kritik am Marxismus ein weltweites Publikum bot, wollte Steiner der SEP den kleinen Teil seiner Freizeit und seines Kleingelds abgeben, den er erübrigen konnte.

6. Steiners Mitgliedsantrag

Einige Wochen später, im August 1999, erhielt das Politische Komitee der SEP von Steiner einen offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft.[21] Dieses Dokument unterschied sich sehr stark von dem Brief, den er mir im Juni geschrieben hatte. Steiners Mitgliedsantrag erwähnte die philosophischen Fragen nicht, die er im Juni aufgeworfen hatte. Er enthielt auch keine Kritik an der politischen Orientierung und Praxis der SEP. Es war darin keine Rede von »Objektivismus«, »Enthaltsamkeit« oder gar »Degeneration«, obwohl sich diese, glaubt man der Darstellung von Steiner und Brenner in MWHH, schon seit 1993 angebahnt hatten, also sechs Jahre vor Steiners Entschluss, der Partei beizutreten! Steiner warf der Partei weder vor, sie vernachlässige den Kampf gegen den Pragmatismus, noch unterstellte er ihr eine unkritische Sicht auf die Aufklärung.

Das Dokument, das Steiner dem Politischen Komitee übersandte, war eine lange und bemerkenswert offenherzige autobiographische Erklärung. Ich werde nur aus den Abschnitten zitieren, die in Verbindung mit den politischen Fragen stehen, die Steiner und Brenner in ihrem Angriff auf das IKVI aufwerfen.

Steiner beginnt sein Schriftstück mit einem Überblick über seinen intellektuellen Hintergrund und seine schrittweise Radikalisierung. »Als die politische Ruhe der Nachkriegsperiode in den späten 1960er-Jahren endlich zu Ende ging, wurde ich wie selbstverständlich von der neuen Studentenbewegung angezogen. Ich teilte die politischen Empfindsamkeiten der meisten meiner Generation und sah mich als Teil der Neuen Linken.« Er berichtet von seinem Philosophiestudium an der New School for Social Research in New York, einem Institut, dessen geistige Ausrichtung Horkheimers Institut für Sozialforschung (d. h. der Frankfurter Schule) nahestand. Steiner zählt seine philosophischen Interessengebiete auf, geht aber nicht auf die theoretischen Einflüsse ein, die in der New School auf ihn einwirkten. Dies, obwohl damals eine ihrer führenden Gestalten Hannah Arendt war, wie Marcuse eine ehemalige Schülerin Martin Heideggers.

Was seine politische Orientierung betraf, gesteht Steiner ein, dass

… ich einigermaßen unkritisch die halbgaren Mythen und Legenden akzeptierte, die in der Neuen Linken zirkulierten. Typisch für den wilden Impressionismus, der in diesen Kreisen als »Analyse« durchging, war die von der Black Panther Party verbreitete »Theorie«, Amerika sei ein faschistisches Land.[22]

1970 schloss sich Steiner der Workers League an. Er beschreibt, welch großen Einfluss ihre historisch begründete Perspektive auf seine Entwicklung hatte:

… Zum ersten Mal seit ich mich erinnern konnte, wurde ich mit einer vernünftigen Erklärung der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit konfrontiert, auf die ich bis dahin in emotionaler Weise reagiert hatte. …

Es begann meine Erziehung zum Marxisten. Nach mehreren Wochen der Lektüre, des Besuchs von Vorträgen und vielen, vielen Stunden Diskussion war ich überzeugt, dass der Marxismus tatsächlich eine lebendige Bewegung und relevant für die Probleme war, vor denen wir in den Vereinigten Staaten standen. Mein Studium der Geschichte der marxistischen Bewegung überzeugte mich, dass der Trotzkismus die einzige echte Kontinuität des Marxismus in unserer Zeit darstellte. …

Ich las sämtliche Klassiker des Marxismus: Marx, Engels, Lenin und Trotzki ebenso wie Plechanow, Mehring, Kautsky und Luxemburg.[23]

Steiners Brief wendet sich dann den Ereignissen der Jahre 1973 bis 1974 zu, als »die Workers League – und ich mit ihr – durch eine tiefe Krise gingen, die durch die impressionistische Perspektive ihres Nationalen Sekretärs Tim Wohlforth herbeigeführt worden war«. Der Brief beschreibt die Auswirkungen, die Wohlforths Verhalten auf die Workers League und Steiner selbst hatte. Doch hier wird die Schilderung äußerst subjektiv und verrät Steiners eigene politische Schwächen. Er erinnert sich, wie Wohlforth ihn persönlich angriff und »mit einer endlosen Menge bedeutungsloser Arbeit überhäufte«. »Ich sollte dadurch isoliert, entmutigt und zum Austritt veranlasst werden. Nach ein paar Monaten hatte er Erfolg: Ich verließ die Bewegung.« Wohlforths Verhalten war tatsächlich grässlich. Doch Steiner stellt nicht die Frage, warum er Wohlforths Provokationen politisch nachgab. Andere verweigerten sich Wohlforth und stellten sich ihm entgegen. Steiner versucht auch nicht, die tieferen politischen Ursachen der Krise in der Workers League zu erklären. Abgesehen von einem flüchtigen Hinweis auf die Watergate-Affäre berührt Steiners Brief kaum eine der großen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die sich zu jener Zeit in den Vereinigten Staaten und weltweit vollzogen. Sein Brief versäumt es, den Zusammenhang zwischen den Veränderungen der objektiven Lage, ihrem Einfluss auf den Klassenkampf und ihrer politischen und theoretischen Widerspiegelung innerhalb der Partei zu untersuchen.

Nachdem Wohlforth vom Posten des Nationalen Sekretärs entfernt worden war, schloss sich Steiner 1974 der Workers League wieder an. Er erinnert sich: »Die Periode von 1974 bis 1977 war für mich eine Zeit intensiver theoretischer Arbeit.« Doch im Internationalen Komitee entwickelten sich neue Probleme. Bei der Besprechung der sich anbahnenden Krise in der Workers Revolutionary Party gesteht Steiner seine eigenen Grenzen ein:

Nach mehr als zwei Jahrzehnten fällt es mir im Rückblick leicht, zu sehen, dass Healys »Praxis der Erkenntnis« das Gegenteil von materialistischer Dialektik war. Sie wurde zum Mittel, mit dem verschiedene Formen der Mystifikation in die Bewegung eingeschleust wurden, die als philosophischer Deckmantel für die zunehmend opportunistischen Manöver der WRP dienten. Obwohl mich Healys subjektive Interpretation der marxistischen Erkenntnistheorie beunruhigte, schrieb ich meine Zweifel meinen eigenen Unzulänglichkeiten zu.

Innerhalb kurzer Zeit begann Steiner erneut, politisch abzudriften. »Meine eigene persönliche Krise«, schreibt er, »erreichte in den Jahren 1977 bis 1978 ihren Höhepunkt.« Steiner zufolge lag die Schuld an seinen Schwierigkeiten mehr oder weniger vollständig bei der Workers League:

… Zum einen schien mir die tagtägliche Arbeit der Workers League zunehmend durch einen theoriefeindlichen Aktionismus bestimmt zu sein. Das war eine direkte Folge der falschen Perspektive, die die Führung der WRP den Sektionen des Internationalen Komitees aufgedrängt hatte. Mehr und mehr arbeiteten wir in der Überzeugung, ein Bürgerkrieg stünde unmittelbar bevor. Es sei daher dringend notwendig, schnellstmöglich unsere eigenen Reihen auszudehnen. Die Vorstellung von Erziehungsarbeit und Ausbildung galt als verschwenderischer Luxus, der das vorherige, von Propaganda geprägte Stadium der Bewegung widerspiegele. Genossen wurden unmögliche Aufgaben auferlegt, was allmählich seinen Tribut forderte. Wie zur Zeit von Wohlforths zerstörerischen Operationen, wurde das Privatleben der Parteimitglieder einem unglaublichen Stress ausgesetzt. In mancherlei Hinsicht war die Lage, der wir nun gegenüberstanden, schlimmer als in der Zeit von 1973 bis 1974. Wohlforths frenetischer Aktionismus hatte die Partei zwar an den Rand des Zusammenbruchs getrieben, aber zumindest anfangs noch zur Rekrutierung einiger Jugendlicher aus der Arbeiterklasse geführt. Das war vor allem ein Ergebnis der unterschiedlichen Bedingungen, die damals in der Arbeiterklasse herrschten. Die Zeit von 1973 bis 1974 fiel mit einer Periode der Militanz und Radikalisierung vieler Arbeiterschichten zusammen. Drei Jahre danach neigten sich die Welle der Streiks und die Radikalisierung der Jugend definitiv ihrem Ende zu. Trotz unserer heroischen Anstrengungen rekrutierten wir in jener Zeit nur wenige oder gar keine neuen Kräfte.

Steiners Darstellung der praktischen Arbeit jener Zeit ist ein Zerrbild der tatsächlichen Arbeit und der Errungenschaften der Partei. Genau in dieser Periode baute die Workers League ihre Präsenz unter den militantesten Schichten der Arbeiterklasse spürbar aus, besonders unter den Bergarbeitern in den Kohlegruben von West Virginia und Kentucky. Während zweier großer landesweiter Bergarbeiterstreiks gewann die Partei unter ihnen eine breite Anhängerschaft. Der zweite dieser Streiks dauerte 1977 und 1978 über hundert Tage lang und fand seinen Höhepunkt in dem erfolgreichen Widerstand gegen das gewerkschaftsfeindliche Taft-Harley-Gesetz, dessen Anwendung Präsident Carter angeordnet hatte. Der Gewerkschaftsarm der Partei, die Trade Union Alliance for a Labor Party, war im ganzen Land aktiv. In New York wurde Ed Winn, ein militanter Verkehrsarbeiter und Mitglied der Workers League, im Dezember 1977 in den Vorstand der Gewerkschaft gewählt. Seine Kampagne beruhte ausdrücklich auf einem sozialistischen Programm. Unter Jugendlichen gewann die Kampagne der Young Socialists für die Freilassung Gary Tylers (des Opfers eines Komplotts in Louisiana) ab Mai 1976 beträchtliche Unterstützung im ganzen Land. Es steht außer Zweifel, dass die Anforderungen an die Parteimitglieder erheblich waren. Vergessen wir aber nicht, dass die Workers League eine revolutionäre sozialistische Organisation war.

Steiners subjektive Darstellung der Geschichte der Workers League von Mitte bis Ende der 1970er-Jahre, die er für seine eigene Krise verantwortlich macht, verzerrt diese bis zur offenen Fälschung. Es wäre ein Leichtes, anhand der Parteidokumente aus jenen Jahren sowie den Veröffentlichungen des »Bulletin« (der halbwöchentlich erscheinenden Zeitung der Workers League) nachzuweisen, dass die Periode von 1974 bis 1978 ganz außergewöhnlich produktiv war. Betrachtet man sie im größeren Rahmen der historischen Entwicklung der Workers League zu einer echten marxistischen Partei der Arbeiterklasse, so kennzeichnet das Ende der Wohlforth-Ära den Beginn des endgültigen Bruchs mit den politischen Restbeständen des kleinbürgerlichen amerikanischen Radikalismus, den Wohlforth verkörpert hatte. Nach seinem Rücktritt begann die Workers League, alle Aspekte ihrer Arbeit in Übereinstimmung mit dem trotzkistischen Erbe der Vierten Internationale zu bringen. Besessen von seinen persönlichen Wehwehchen, scheint Steiner diese wichtige Errungenschaft vollständig vergessen zu haben. Es ist bemerkenswert, dass sein Brief weder die intensive politische Perspektivarbeit erwähnt, die jene Periode prägte, noch die historische Untersuchung über die Begleitumstände der Ermordung Leo Trotzkis, deren Ergebnisse unter dem Titel »Sicherheit und die Vierte Internationale« veröffentlicht wurden. Die Workers League spielte bei dieser Untersuchung, der ersten in der Geschichte der Vierten Internationale, die führende Rolle.

Die sich vertiefende Krise der britischen Workers Revolutionary Party bereitete der Workers League Schwierigkeiten. Doch die politischen und theoretischen Lehren, die sie aus dem Kampf gegen Wohlforths politischem Verrat gezogen hatte, und die Wiederaufnahme des Kampfs gegen alle Formen des Opportunismus in der Folgezeit bereiteten die Partei darauf vor, den Kampf gegen die Preisgabe des Trotzkismus durch die WRP aufzunehmen.

Für diese Entwicklung ist Steiner blind. Als er über zwanzig Jahre nach seinem Austritt aus der Workers League seinen Brief schrieb, schien er sich an nichts mehr zu erinnern als an seine persönlichen Schwierigkeiten. »Meine Lebenslust war dahin«, schreibt er, »und mit ihr jede Begeisterung, die ich noch für die Parteiarbeit hatte.« Er schildert dann die Umstände, unter denen er die Workers League verließ:

… Der Tiefpunkt kam für mich zweifellos im Oktober 1978. Ich wurde eines Morgens von einem Anruf unseres Nationalen Sekretärs Dave North geweckt, der mich bat, sofort ins Büro der Partei zu kommen. Ich erinnere mich noch, wie ich dort ankam und mich fragte, was wohl der Grund für all die Aufregung sei. Ich hörte dann die schreckliche Nachricht, dass Genosse Tom Henehan bei einer Tanzveranstaltung am Abend zuvor ermordet worden war. Diese Nachricht traf mich völlig unvorbereitet …

… Während der folgenden Tage und Wochen driftete ich politisch ziellos umher. Eines Tages – ich weiß nicht einmal mehr, wann genau – verließ ich die Bewegung.

Es besteht kein Grund zu bezweifeln, dass Steiner vom Tod Tom Henehans schockiert war. Doch sein Bericht enthält einen faktischen Fehler: Henehan wurde nicht im Oktober 1978 ermordet, sondern genau ein Jahr früher, im Oktober 1977. Diese Diskrepanz ist bedeutsam, weil sich daraus eine Darstellung von Steiners Austritt aus der Workers League ergibt, die die tatsächlichen Umstände seines Abschieds von der revolutionären Politik falsch darstellt.

Neben der Verwechslung von Tom Henehans Todesjahr überrascht auch Steiners Aussage: »Diese Nachricht traf mich völlig unvorbereitet.« In Wirklichkeit hatten die Nachforschungen der Partei über den Mord an Leo Trotzki und die Offenlegung der massiven Unterwanderung der Socialist Workers Party durch Regierungsspitzel zur Folge, dass die Gewaltandrohungen gegen die Workers League zunahmen. In den Monaten vor Henehans Ermordung führten wir zahlreiche Diskussionen über die Notwendigkeit, der Sicherheit der Parteimitglieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken, an denen Steiner teilnahm. Nach Henehans Tod am 16. Oktober 1977 wies die Workers League öffentlich Behauptungen der New Yorker Medien scharf zurück, es habe sich um einen »sinnlosen Mord« gehandelt. Wir brandmarkten den Anschlag als politisch motivierten Mord und führten in der Arbeiterbewegung eine breite Kampagne für eine Untersuchung des Verbrechens. Organisationen, die in den Vereinigten Staaten, Kanada und anderen Ländern mehrere Millionen Mitglieder repräsentierten, unterstützten diese Forderung. Drei Jahre lang schützte die New Yorker Polizei die Mörder. Doch 1980 führte die Kampagne zur Verhaftung und in der Folge zur Verurteilung der beiden Männer, die Tom Henehan bei einer öffentlichen Veranstaltung erschossen hatten.

In Wirklichkeit war es nicht Henehans Tod, der zu Steiners Austritt führte, sondern die mehrere Monate später getroffene Entscheidung der Workers League, das politische Zentrum der Partei nach Detroit zu verlegen. Dieser Umzug, der in Steiners Brief ebenfalls keine Erwähnung findet, hatte den Zweck, die Identifikation der Partei mit den Kämpfen der Arbeiterklasse in den bedeutenden Industriezentren des mittleren Westens zu verbessern und stärker darin einzugreifen. Die Vorbereitung des Umzugs, die im Frühjahr 1978 begann, war mit einer intensiven Arbeit am Entwurf für eine neue Perspektivresolution verbunden.

Steiner war besorgt über die Folgen, die der Umzug der Partei nach dem Mittleren Westen und die Reorganisation ihrer Arbeit auf ihn persönlich haben würde. Er war im kleinbürgerlichen Milieu von New York City zu Hause und erkannte, dass der Aufbau des Parteizentrums in Detroit die soziale Zusammensetzung der Partei verändern und eine intensivere Beteiligung an den täglichen Kämpfen der Arbeiterklasse mit sich bringen würde. Die Aussicht auf eine Veränderung seines Lebensstils behagte ihm nicht. Obwohl Steiner selbst New York nicht verlassen musste, zeigten sich seine Unzufriedenheit mit dem bevorstehenden Umzug und seine Entfremdung von der Perspektive der Partei deutlich. Nach den ersten Stadien des Umzugs im Herbst 1978 verließ Steiner die Bewegung. Drei Monate später, im Januar 1979, verließ Frank Brenner die Partei ohne jede Erklärung, nachdem er vorher weniger als eine Woche in Detroit verbracht hatte.

Steiners Darstellung seiner Reaktion auf die Auseinandersetzung, die 1985 im IKVI ausbrach, bestätigt, dass seine Abkehr von der revolutionären Politik letztendlich ein Ausdruck seiner gesellschaftlichen Orientierung auf die Mittelklasse war. Er schreibt:

Diese Ereignisse begeisterten mich wie nichts anderes in den acht Jahren davor. Zu sagen, ich hätte die Entwicklung im IK mit Interesse verfolgt, wäre eine gewaltige Untertreibung. Ich verschlang jedes bisschen Information, das ich bekommen konnte. Und ich wurde zum aktiven Unterstützer des neu organisierten Internationalen Komitees.

Steiner vermerkt, der Kampf im IKVI sei »nicht nur um unmittelbare Meinungsverschiedenheiten über politische Perspektiven geführt worden, sondern um breitere Fragen der marxistischen Theorie«. Er sagt aber nicht das Geringste über den Inhalt der theoretischen Differenzen, was angesichts seiner Geschichte in der Bewegung bemerkenswert ist. Die Mitglieder des Politischen Komitees empfanden es als besonders merkwürdig, dass er nichts über die umfangreiche Kritik des Internationalen Komitees an Healys Verzerrung der materialistischen Dialektik zu sagen hatte. Zurückblickend kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass Steiner dieses Thema vermied, weil er schon 1999, als er seinen Brief schrieb, nicht mit dem Schwerpunkt unserer Kritik übereinstimmte, dass nämlich Healys »Praxis der Erkenntnis« auf einer idealistischen Revision des Marxismus beruhte.

Obwohl er schreibt, er sei »versucht gewesen, mich der Bewegung wieder anzuschließen«, zog es Steiner trotz seines Einverständnisses mit dem Kampf des Internationalen Komitees am Ende vor, außerhalb der Partei zu bleiben. Die Begründung, die er in seinem Brief ans Politische Komitee der Workers League dafür gibt, ist überraschend freimütig:

Schlussendlich entschied ich mich, Unterstützer statt Mitglied zu bleiben. Die Gründe dafür waren komplex und sind nicht einfach zu benennen. Ich habe bis zu diesem Moment vermutlich nie versucht, sie bewusst zu analysieren. Ich denke, was mich bewegte, war ein Zusammentreffen von Umständen. Zum einen leckte ich noch immer die Wunden meiner vorangegangenen Erfahrung mit der Bewegung. In meinem Geiste war die politische Fehlorientierung, die ich zuvor erlebt hatte, aufs Engste mit meinem persönlichen Trauma der Jahre 1977 bis 1978 verbunden. Hinzu kam die neue Lage, in der ich mich befand. Ich hatte mich Mitte der 1980er-Jahre in einer neuen beruflichen Laufbahn eingerichtet und war dabei ziemlich erfolgreich. Ich war in die Reihen der komfortablen Mittelklasse aufgestiegen, und trotz all meiner Versuche, dies vor mir selbst zu verleugnen, wusste ich: Ich wollte diese Stellung nicht erschüttern.

Obwohl ich in politischer Solidarität mit der Bewegung stand, war mein tägliches Leben weit entfernt von den Anliegen des revolutionären Sozialismus. Ich war Teil der Kultur der New Yorker Mittelklasse.

Diesem Eingeständnis seiner selbstzufriedenen und im Grunde konservativen Lebenseinstellung ist wenig hinzuzufügen. Es spricht für sich selbst. Überraschend ist dagegen Steiners Aussage, er habe, bevor er im August 1999 seinen Brief an die SEP schrieb, nie die Gründe analysiert, warum er außerhalb der Partei blieb. Seit der Spaltung von 1985 waren vierzehn Jahre vergangen. Man fragt sich, was Steiner in dieser langen Zeit mit seinem Gehirn angestellt hat.

Steiner erklärt seine Entscheidung, sich der Partei nicht wieder anzuschließen, richtigerweise mit dem Einfluss des gesellschaftlichen Milieus auf seine Weltanschauung: »Ich war in die Reihen der komfortablen Mittelklasse aufgestiegen und … wusste: Ich wollte diese Stellung nicht erschüttern.« Wenn es also um seinen eigenen politischen Werdegang geht, dann betont Steiner das gesellschaftliche Umfeld und den Klassendruck. Geht es dagegen um den Zusammenbruch der Zweiten Internationale und das Schicksal von Persönlichkeiten wie Plechanow, wählt er einen ganz anderen Ansatz. In »Objektivismus oder Marxismus« und in »Marxismus ohne Kopf oder Herz« besteht er darauf, dass der Hauptgrund für ihr poli­tisches Versagen ihr unzulängliches Verständnis der dialektischen Methode war.

Meine Auffassung (die sich auf die Schriften von Lenin und Trotzki stützt), dass der Hauptgrund für den Zusammenbruch der Zweiten Internationale und das bedauernswerte Verhalten vieler ihrer Führer in den sozioökonomischen und politischen Widersprüchen ihrer Zeit zu suchen sei und dass diese Widersprüche auch den besonderen Charakter ihrer theoretischen Arbeiten maßgeblich bestimmten, verunglimpft Steiner als »Objektivismus«.

Im letzten Teil seines Briefs lobt Steiner die Arbeit der Partei in den höchsten Tönen. Er vergleicht ihr Milieu mit der in Politik und Gesellschaft vorherrschenden »verfaulten Atmosphäre« und bezeichnet die öffentlichen Veranstaltungen, an denen er teilnahm, als »frische Brise«. Er erinnert an sein Zusammentreffen mit Nadeschda Joffe und Wadim Rogowin und bemerkt, die »bloße Existenz solcher Leute« sei »eine ständige Peinlichkeit für Leute, die sich der Kultur der Selbstbeweihräucherung verschrieben haben«. Diese Treffen, die Steiner so tief beeindruckten, fanden 1995 statt – also etwa in der Mitte des Zeitraums, in dem die Partei Steiners jüngster Version zufolge politisch degenerierte. Steiner erklärt sogar, seine Teilnahme an Parteiveranstaltungen habe ihn

… inspiriert, mich wieder der Philosophie zuzuwenden. Im Laufe des Jahres 1996 begann ich mit einem intensiven Studium der Werke Hegels, Marx’ und der gesamten westlichen Philosophie. Vermutlich war es kein Zufall, dass dieser Abschnitt meiner jüngeren Biographie mit dem Aufbau der »World Socialist Web Site« und der Umwandlung der Workers League in die Socialist Equality Partei zusammenfiel. Wie immer man dieses Zusammentreffen erklärt, ich begann, das Potenzial zu schätzen, das sich aus der Nutzung der neuen globalen Kommunikationsmedien ergab.

Gegen Ende seines Briefs betont Steiner, welch großen Einfluss die Versammlung zum zwanzigsten Jahrestag von Tom Henehans Ermordung auf ihn hatte. »Dort nahm ich mir fest vor«, schreibt er, »meinen Beitrag zur Arbeit der Bewegung zu erweitern. Mir schwebte eine Art journalistischer Zusammenarbeit vor, deren genauer Inhalt vorerst vage blieb.«

Steiner schließt mit der Aussage:

Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass ich die Rolle eines Teilnehmers am Kampf für den Sozialismus spielen will. Nichts sonst wird mir die Befriedigung verschaffen, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Hierin liegt das wahre Wesen der Freiheit.

Steiners Brief warf unter den Mitgliedern des Politischen Komitees der SEP zahlreiche Fragen auf. Seine Einschätzung der Geschichte der Workers League in den 1970er-Jahren traf auf scharfe Ablehnung. Seine Herangehensweise an die objektiven Erfahrungen der Partei verriet einen extremen, irreführenden Subjektivismus. Am besten schien er sich bei allen Ereignissen, die er erwähnte, an die Auswirkungen zu erinnern, die sie auf … Alex Steiner hatten! Seine Einschätzung des Konflikts in der Workers Revolutionary Party war – trotz seines Lobs für die Rolle des Internationalen Komitees – oberflächlich. Das Politische Komitee war alles andere als überzeugt, dass Steiner die theoretischen und politischen Fragen, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Wohlforth in den 1970er- und mit der WRP-Führung in den 1980er-Jahren standen, sorgfältig und systematisch aufgearbeitet hatte. Obwohl wir Steiner nicht entmutigen wollten, hatten wir das Gefühl, es sei zu früh, ihn wieder in die SEP aufzunehmen. Weitere Diskussionen würden notwendig sein.

7. Die SEP-Mitgliederversammlung vom Februar 2000 und Steiners Artikel über Heidegger

Ich zog es vor, Steiner die Entscheidung des Politischen Komitees persönlich mitzuteilen, da ich nicht den Eindruck erwecken wollte, der Weg zu einer möglichen zukünftigen Annahme seines Mitgliedsantrags sei verbaut. Aufgrund drängender Arbeiten war es mir aber über mehrere Monate hinweg nicht möglich, ein Treffen mit Steiner zu vereinbaren. Um jedoch die bestmöglichen Voraussetzungen für eine Diskussion zu schaffen und das Interesse der SEP an einer zukünftigen Zusammenarbeit auf prinzipieller Grundlage zu zeigen, lud ich Steiner als Gast zu einer nationalen Mitgliederversammlung nach Detroit ein. Er nahm die Einladung an und nahm am 12. Februar 2000 an dem Treffen teil.

Obwohl ich meinen Beitrag nicht mit Blick auf Steiner vorbereitet hatte, sprach ich darin Fragen an, die für die theoretischen Meinungsverschiedenheiten von Bedeutung waren, die er in seinem Brief vom Juni aufgeworfen hatte. Zu Beginn meines Berichts stellte ich fest:

Das zwanzigste Jahrhundert ist gerade zu Ende gegangen, doch wir werden seinem Erbe nicht so schnell entkommen. Ein wesentlicher Teil unserer politischen Vorbereitung auf die Erschütterungen des neuen Jahrhunderts wird daher eine genaue Aufarbeitung und Einschätzung der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts sein. Diese Einschätzung kann sich nicht auf das Zusammentragen von Faktenmaterial beschränken. Sie muss auch die großen geistigen Errungenschaften verteidigen und neu zur Geltung bringen, die die theoretische Grundlage der internationalen sozialistischen Bewegung bilden.

Besonders entscheidend ist dabei die marxistische, d. h. historisch-materialistische Auffassung des gesetzmäßigen Charakters der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung der Menschheit. Darunter verstehe ich keine mechanische Auffassung der Geschichte als absehbare Folge von Ereignissen, wie sie Theoretiker der Zweiten Internationale vertraten. Diese hatten sich mit einer formalistischen Interpretation des historischen Materialismus von den weit tieferen dialektischen Konzeptionen von Marx und Engels abgewandt und damit dem Druck eines vom Gradualismus geprägten politischen Umfelds nachgegeben.[24] Der historische Determinismus des Marxismus beruht nicht auf der Annahme, dass ein bestimmtes Ereignis »unvermeidlich« sei, sondern darauf, dass das gesellschaftliche Sein eine objektive, wissenschaftliche Kategorie ist.

Die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf die Grundlagen der marxistischen Theorie begründete ich folgendermaßen:

Im Kern der zeitgenössischen philosophischen Angriffe auf den Marxismus steht die Ablehnung der historischen Notwendigkeit. Es wird behauptet, der Anspruch der Oktoberrevolution auf historische Legitimität sei unbegründet. Die Gegner des Marxismus denunzieren die Auffassung der Bolschewiki, die soziale Revolution habe sich notwendigerweise aus der Logik sozialer und ökonomischer Prozesses entwickelt. Sie stellen die Oktoberrevolution als Fehlentwicklung dar, als Zufall, der durch das Zusammenwirken böser Absichten und besonderer Umstände zustande kam …

Auf welchen theoretischen Grundlagen beruht dieser Angriff auf die Notwendigkeit, der gegenwärtig die gesamte Geschichtsschreibung durchzieht, ganz besonders die Schriften der Postmoderne? Er spricht für eine wichtige Strömung im bürgerlichen Denken, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht: bis zur rechten Reaktion auf die ­historischen und sozialen Auswirkungen des Denkens von Hegel und Marx, wie sie Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche und später ­Hei­degger formuliert haben.

Ich betonte, der marxistische Materialismus sei den Hauptströmungen des bürgerlichen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert ein Gräuel gewesen: »Der Auffassung der Geschichte als gesetzmäßiger Prozess stellt die bürgerliche Philosophie eine im Grunde irrationale Welt entgegen, in der atomisierte Individuen verzweifelt versuchen, ihre einzigartige Identität zu entdecken und zu behaupten.« Ich verwies dann auf die Schriften Martin Heideggers, eines der wichtigsten Vertreter des philosophischen Irrationalismus im zwanzigsten Jahrhundert.

Ich beendete meine Einleitung mit den Worten: »Alle wichtigen politischen und sozialen Perspektivfragen können nur auf der Grundlage eines Verständnisses der Geschichte erarbeitet werden – am unmittelbarsten der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, aber darüber hinaus der gesamten gesetzmäßigen geschichtlichen Entwicklung des gesellschaftlichen Seins, angefangen bei seinen Ursprüngen in der Natur.« Dann zitierte ich Trotzki, der 1922 geschrieben hatte:

Die materialistische Weltanschauung öffnet nicht nur ein Fenster zum gesamten Universum, sie stärkt auch den Willen. Sie ist das Einzige, was den Menschen der Gegenwart zum Menschen macht. Es stimmt, er unterliegt immer noch schwierigen materiellen Bedingungen, aber er weiß bereits, wie sie zu überwinden sind und beteiligt sich bewusst am Aufbau einer neuen Gesellschaft, die gleichzeitig auf dem höchstentwickelten technischen Können und der stärksten Solidarität beruht.[25]

Steiner hatte keine Einwände gegen meine Bemerkungen und äußerte, als er gebeten wurde, einige Worte zu sagen, seine volle Übereinstimmung mit dem, was ich gesagt hatte.[26] Ausgehend von den philosophischen Fragen, die auf dem Treffen aufgekommen waren, schlug ich Steiner vor, er solle eine Artikelserie zur Kontroverse um Martin Heidegger schreiben und dabei insbesondere auf den Zusammenhang zwischen seiner irrationalen Philosophie und seiner Unterstützung für die Nazis nach deren Machtergreifung eingehen. Steiner und Brenner verweisen zwar mehrmals auf diese Artikel, erwähnen aber nicht, wie sie entstanden sind. Ich hatte Steiner dieses Thema nicht ohne Hintergedanken vorgeschlagen. Ich hoffte, die Auseinandersetzung mit Heideggers subjektivem Idealismus werde ihm helfen, die philosophische Ambivalenz gegenüber dem Materialismus zu überwinden, die er in seinem Entwurf für einen Philosophiebereich der »WSWS« und in seinem Brief vom Juni 1999 an den Tag gelegt hatte. Anfang April 2000 wurden Steiners Artikel veröffentlicht.

Diese Artikel, in denen mein Bericht auf der Mitgliederversammlung und darauffolgende Diskussionen ihren deutlichen Niederschlag fanden, bildeten den Höhepunkt der Zusammenarbeit Steiners mit der SEP. Es lohnt sich, aus dem Schlussabschnitt des letzten Artikels zu zitieren:

Eine der merkwürdigsten philosophischen Tendenzen in der Nachkriegsperiode war die Umarmung Heideggers durch viele linksgerichtete Intellektuelle. Es handelt sich um ein außergewöhnlich komplexes Thema, dem wir im Rahmen dieser Darstellung kaum gerecht werden können. Wir wollen einfach, trotz der historischen Unterschiede, die epistemologische Verwandtschaft zwischen Heidegger und seinen heutigen Sympathisanten skizzieren.

Was die Nachkriegsintelligenz im Westen charakterisierte, war der pauschale Verzicht auf jegliche Identifikation mit dem Marxismus, dem Humanismus oder den Überresten der aufklärerischen Vernunft. Die Hoffnungen einer Generation radikaler Intellektueller wurden unter dem Gewicht der gescheiterten revolutionären Bewegungen der späten 1960er- und der frühen 1970er-Jahren begraben. Insbesondere die Auswirkungen des Scheiterns des revolutionären Aufruhrs vom Mai/ Juni 1968 auf die französische Intelligenz können nicht unterschätzt werden. Legionen von vormals linken Intellektuellen begannen einen pauschalen Rückzug von der aufklärerischen Vision einer emanzipatorischen Vernunft …

Da sie versuchten, die schreckliche jüngere Geschichte als Versagen im Denken zu begreifen, war es für die Vertreter der Postmoderne kein großer Schritt zur irrationalistischen Tradition, die sich von der Aufklärung abgewandt hatte. Hier finden die Heideggerianer, Postmodernisten, Dekonstruktivisten und Neopragmatiker ihre Gemeinsamkeit. Alle diese Tendenzen lehnen das ab, was sie als traditionelles Begriffsdenken bezeichnen, »Philosophie« oder »Wissenschaft« mit Großbuchstaben.[27]

Steiner sagte das sehr gut. Und doch dauerte es nicht lange, bis er sich den Positionen zuwandte, denen er in den Artikeln entgegengetreten war. Später hat er erklärt, die reaktionären politischen Standpunkte einiger Vertreter der Frankfurter Schule dürften uns nicht daran hindern, ihre theoretische Arbeit zu würdigen. In den Artikeln vom April 2000 antwortete er auf ähnliche Argumente zugunsten Martin Heideggers:

Doch selbst wenn man einräumt, dass es – besonders in technischen Bereichen ohne politischen und soziologischen Bezug – Fälle gibt, in denen theoretische Arbeit unabhängig von der Biografie oder der sozialen Stellung einer Person geleistet wird, folgt daraus nicht, dass eine solche Dichotomie im Werk jedes einzelnen Theoretikers vorhanden ist. Bei einem Mann wie Heidegger, dessen theoretische Arbeit sich gründlich mit Fragen des persönlichen und politischen Handelns befasste, wäre es besonders erstaunlich, ein solches Missverhältnis zwischen politischem Handeln und theoretischer Arbeit zu finden.[28]

Diese Worte gelten genauso für die Vertreter der Frankfurter Schule, besonders wenn man bedenkt, dass sie sich als Theoretiker politisch engagierten.

8. Der Tod Jeff Goldsteins

Wie die Veröffentlichung der Artikel über Heidegger zeigte, war die »WSWS« gewillt, Artikel Steiners zu publizieren, die sich dem Kampf für den dialektischen Materialismus widmeten. Trotz bestehender Differenzen über politische und theoretische Fragen gab es ernsthafte und nachdrückliche Bemühungen um eine weitere Zusammenarbeit, wie die vorhandenen Dokumente zeigen. Doch diese Bemühungen wurden durch Steiners gesellschaftliche Orientierung erschwert. Sein Interesse am Marxismus war großenteils abstrakter Natur. Seiner Praxis und seinen Anschauungen nach blieb er, was er gewesen war, bevor er in den frühen 1970er-Jahren der Workers League beitrat: ein kleinbürgerlich-radikaler linker Intellektueller. Auch in Zeiten freundschaftlicher Zusammenarbeit blieb unter der Oberfläche eine gewisse Spannung zwischen Steiner und der SEP bestehen, die in grundsätzlichen Fragen der klassenmäßigen und politischen Orientierung wurzelte.

Im Juni 2000 starb in Las Vegas im Alter von 58 Jahren das ehemalige Mitglied der Workers League Jeff Goldstein. Er war bei der Gründung der Partei 1966 dabei gewesen. Unter dem Namen Jeff Sebastian hatte er zahlreiche Artikel zu ökonomischen Fragen für das »Bulletin« geschrieben. Auch zur Organisation der Parteiarbeit an der Westküste hatte er in den 1960er- und 1970er-Jahren maßgeblich beigetragen. Wie Steiner hatte auch Goldstein die Workers League während der Krise um Wohlforth 1973 verlassen und war nach dessen Rücktritt zurückgekehrt. Im Herbst 1974 übernahm er die Aufgabe des »Bulletin«-Herausgebers. Doch im März 1977 verließ er die Bewegung erneut. Einige Zeit später zog er nach Las Vegas, wo er seine mathematischen Fähigkeiten mit seiner lebenslangen, recht ungesunden Faszination für das Glücksspiel verband, um hauptberuflich als Buchmacher zu arbeiten. Er gab eine Zeitung über Rennsport heraus und erwarb sich eine kleine, aber ergebene Leserschaft. Nachdem Steiner die Workers League verlassen hatte, erneuerten er und Goldstein ihre Freundschaft.

Goldstein/ Sebastian blieb mit der SEP in freundschaftlichem, wenn auch sehr begrenztem Kontakt. Wir waren natürlich betroffen, als wir vom Tod unseres ehemaligen Genossen hörten. Steiner fuhr nach Las Vegas, um beim Begräbnis seines engen Freunds zu sprechen. Kurze Zeit später sandte er mir eine Kopie des Nachrufs, den er zur Erinnerung an Sebastians Leben verfasst hatte.

Eine Grabrede folgt natürlich eigenen Regeln, die das Kriterium der Objektivität nicht allzu eng fassen. Doch als ich Steiners Bemerkungen las, hatte ich den Eindruck, dass er die zulässige Grenze überschritt. Er versuchte, Goldsteins Arbeit als Buchmacher als meisterhafte Anwendung der materialistischen Dialektik hinzustellen, die sich auf die Errungenschaften Hegels und Marx’ gestützt habe:

Jeffs Art des Buchmachens war in hohem Maße philosophischer Natur, wenn auch vermutlich viele seiner Leser sich dessen nicht bewusst waren. Jeff befasste sich ernsthaft mit Philosophie, wenngleich ich bezweifle, dass er dies selbst so beschrieben hätte. Denn Jeff war ein praktischer Mensch. Die Wahrheit war für ihn immer konkret. Die Theorie wird lebendig in ihrer praktischen Anwendung. Die Beschäftigung mit Jockeys, Trainern und Rennbahnen war für ihn daher nicht nur Freude, ästhetisches Vergnügen und intellektuelle Herausforderung, sondern verschaffte ihm auch Einsicht in tiefe philosophische Wahrheiten, und ich bin mir sicher, dass es diese Einsicht war, die ihm die höchste Befriedigung verschaffte.

Nach Erhalt des Texts sandte ich Steiner ein kurzes Schreiben, in dem ich mein Beileid ausdrückte. Aus diplomatischen Gründen, die ich unter diesen Umständen für geboten hielt, vermied ich eine direkte Kritik an Steiners Ausführungen. Ich stellte aber fest: »Die dialektische Methode ist ein machtvolles Instrument zur Erkenntnis der objektiven Wahrheit in allen Bereichen von Natur und Gesellschaft; es gibt jedoch weitaus bessere Arten, wie man von ihr Gebrauch machen kann, als die Herausgabe einer Zeitschrift über Pferderennen.« Bedauernd bemerkte ich: »Jeff hatte das Potenzial, mit seinem Leben so viel mehr anzufangen.«

Ich nahm an, damit sei diese unerfreuliche Angelegenheit beendet. Doch dann legte Steiner einen ausführlicheren politischen Nachruf auf Sebastian zur Veröffentlichung auf der »World Socialist Web Site« vor. Wir lehnten ihn ab. Ich erfuhr dann von Genossen in New York, dass Steiner unzufrieden mit dieser Entscheidung war. Am 13. August 2000 beantwortete ich seine Beschwerde mit folgendem Brief:

Lieber Alex,

bitte entschuldige die Verspätung, mit der ich auf Deinen Nachruf auf Jeff Goldstein antworte. Man hat mir gesagt, Du seist beunruhigt über unserer Entscheidung, ihn nicht auf der »World Socialist Web Site« zu veröffentlichen, und darüber, dass wir Dir die Gründe dafür nicht mitgeteilt haben. Für Letzteres entschuldige ich mich. Wir hätten Dir eher eine Erklärung zukommen lassen sollen, obwohl ich ja schon vor einiger Zeit in meinem Brief angedeutet habe, worin sich meine Einschätzung des Lebens unseres alten Freunds und ehemaligen Genossen von Deiner unterscheidet.

Jeder, der Jeff gekannt und mit ihm zusammengearbeitet hat, war von der Nachricht seines viel zu frühen Tods betroffen. Keiner von uns ist ganz frei von Sentimentalität. Wir neigen dazu, beim Erhalt solcher Nachrichten die besten und angenehmsten Eigenschaften des Verschiedenen in Erinnerung zu rufen. Da Du jedoch eine Erklärung verlangst, warum wir Deinen Nachruf nicht veröffentlicht haben, bin ich gezwungen, ganz ehrlich zu antworten. Ich denke und hoffe, dass Jeff dies so gewollt hätte.

Es ist sinnlos, aus Jeff jemanden machen zu wollen, der er nicht war. Er strebte danach, ein revolutionärer Marxist zu werden, doch er war unfähig, über das Milieu und die Anschauungen der kleinbürgerlich-radikalen Politik hinauszuwachsen, die er in den Jahren seiner intellektuellen Prägung absorbiert hatte. Es spricht für ihn, dass er sich Mitte der 1960er-Jahre dem Trotzkismus zuwandte und dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale beitrat. Er leistete einen Beitrag zu der frühen Entwicklung der Workers League. Doch wie ein großer Teil der Generation von Radikalen, der er angehörte, geriet er in eine politische Krise, als die Bürgerrechts- und die Antikriegsbewegung zerfielen. Die Stabilisierung des Kapitalismus, begünstigt durch den Verrat von Stalinisten, Sozialdemokraten und Pablisten, erforderte von Marxisten eine langfristige Perspektive und die Fähigkeit, für diese zu kämpfen. Unter diesen Umständen traten Jeffs ernsthafte Schwächen, besonders seine Neigung zu Skepsis und Zynismus, statt seiner Stärken in den Vordergrund.

Ich stimme nicht mit Deiner Aussage überein, Jeff sei »eines der vielen alten Parteimitglieder, die von Wohlforth hinausgedrängt wurden«. Zweifellos verschärfte Wohlforths abstoßendes Verhalten die Krise in der Workers League. Doch wenn man die Schuld für alles, was 1973 bis 1974 passiert ist, auf Wohlforth abwälzt, übertreibt man dessen Bedeutung. Man muss fragen, warum niemand unter den alten Parteimitgliedern – Jeff eingeschlossen – bereit war, den Kampf gegen Wohlforth aufzunehmen. Rückblickend ist klar, dass jene, die damals die Bewegung verließen, Symptome derselben politischen Krise zeigten, die den nationalen Sekretär der Workers League erfasst hatte, wenn auch in weniger bösartiger Form.

Nach Wohlforths Absetzung trat Jeff zusammen mit vielen anderen (darunter Lucy St. John, die 1973/1974 ausgetreten war) der Workers League wieder bei. Doch praktisch all diese Leute verließen die Partei innerhalb von weniger als drei Jahren wieder, so am Ende auch Jeff. Unabhängig von den besonderen Umständen, unter denen das eine oder andere Mitglied die Workers League verlassen hat, war Jeffs Austritt Teil einer allgemeineren politischen Erscheinung in den Vereinigten Staaten: der Demoralisierung und des Zusammenbruchs der Protestbewegung der 1960er- und frühen 1970er-Jahre.

Die verbleibenden 23 Jahre von Jeffs Leben waren eine furchtbare Verschwendung von Zeit und Talent. Es war mir furchtbar peinlich, als ich in Deinem Nachruf las, dass sich Jeff nach seinem Umzug nach Las Vegas Mitte der 1980er-Jahre »einen lebenslangen Traum erfüllen konnte: hauptberuflich als Buchmacher für Pferderennen zu arbeiten. Für jemanden mit seiner politischen Vergangenheit war das sicherlich eine ungewöhnliche Beschäftigung.« Das war es tatsächlich!

Es geht hier nicht darum, Jeff wegen seiner Faszination für Pferderennen und das Glücksspiel zu verdammen. Aber wie immer man zu einer Karriere als Buchmacher steht, bedeutete sie im Rahmen von Jeffs poli­tischer Geschichte eine furchtbare Degeneration. An einer früheren Stelle in Deinem Nachruf sprichst Du von Jeffs »Meisterschaft« in marxistischer Ökonomie. Doch wenn Du über seine Faszination für die »Romantik des Glücksspiels« schreibst, lässt Du den Leser wissen, Jeff sei »nicht immun gegen die Illusionen gewesen, die das kapitalistische System erzeugt – vor allem nicht gegen die Illusion, man könne das System durch das eigene individuelle Talent besiegen«. Anders gesagt: Es gab einen Zusammenhang zwischen Jeffs Leben in Las Vegas und der Erosion seiner revolutionären Anschauungen.

Es wäre für die »WSWS« nicht unangemessen, über den Tod eines Gründungsmitglieds der Workers League zu berichten. Wir sind natürlich dazu bereit. Doch unabhängig davon, was wir persönlich für Jeff empfinden, wäre es falsch, die Errungenschaften seiner politischen Laufbahn zu übertreiben oder das Ausmaß seiner späteren politischen Degeneration herunterzuspielen. In der frühen Geschichte – in mancherlei Hinsicht der Vorgeschichte – der Workers League spielte Jeff eine zweitrangige Rolle und der größere Teil seines Erwachsenenlebens fällt in die Zeit nach seinem Austritt aus der Partei.

Es tut mir leid, dass ich in einer Weise schreiben muss, die Du vielleicht als grob empfindest. Doch die Zuneigung, die ich und andere für diesen ehemaligen Genossen empfinden, befreit uns nicht von der Verantwortung, objektiv an die Geschichte unserer Bewegung heranzugehen.

Steiner antwortete nicht auf diesen Brief. Aber, dessen bin ich mir sicher, er verstand sehr genau, dass vieles, was ich über Jeff geschrieben hatte, auch über ihn selbst hätte gesagt werden können.

9. Steiner und Wissenschaft

Steiner warf die Frage der Parteimitgliedschaft nicht wieder auf. Unsere Beziehungen blieben dennoch herzlich. Am 13. November 2000 erhielt ich eine E-Mail, in der er uns zu unserer »exzellenten Berichterstattung über die Wahlkrise« gratulierte. Er schloss mit der Bitte um ein Treffen, wenn ich in New York sei. Im Mai 2001 trafen wir uns dort zu einer freundschaftlichen Diskussion.

Im folgenden Jahr, 2002, wurde dann klar, dass Steiner dabei war, seine theoretische Orientierung entscheidend zu verändern. Während einer privaten Reise nach Deutschland lud er sich selbst ein, vor Mitgliedern der Partei für Soziale Gleichheit in Berlin einen Vortrag über Philosophie zu halten. Die deutschen Genossen wollten nicht unhöflich sein und organisierten ein Treffen. Das Thema des Vortrags lautete: »Dialektik und die Krise der Wissenschaft«.[29] Im Laufe eines weitläufigen und chaotischen Ritts durch die Geschichte der Wissenschaft schien es Steiner darauf anzulegen, die Bedeutung der empirischen Forschung für die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu minimieren, wenn nicht völlig zu leugnen. Er sagte:

… der Stellenwert des experimentellen Vorgehens bei der Entstehung der modernen Wissenschaft ist mittlerweile, wie auch die Rolle der antiken Atomisten, in den Status eines Mythos erhoben worden. Um die Bedeutung des Experimentierens in der wissenschaftlichen Revolution richtig zu verstehen, muss man Tatsachen von Mythen trennen.

Als Erstes ist hier anzumerken, dass Experiment und Beobachtung immer in einem historischen Kontext stattfinden, in dem Theorien und Begriffe bestimmen, wonach wir suchen. In diesem Sinne können wir sagen, dass alles Experimentieren und Beobachten von vornherein »Theorie-beladen« ist. Der verstorbene MIT-Professor Thomas Kuhn, der diese Erkenntnis entwickelt hat, brachte sie völlig zu Recht als Einwand gegen die vorherrschende Orthodoxie vor, die Experiment und Beobachtung als eine Art unschuldigen Urzustand betrachtet, aus dem wir dann Verallgemeinerungen ableiten …

Der Mythos, das »reine« Experiment oder die »reine« Beobachtung sei der Grundstein der modernen Wissenschaft, lebt bis heute fort. Er gehört zu den Grundsätzen der modernen empirischen Philosophie, die ich gleich beschreiben werde. Wir haben gesehen, dass die Begründer der modernen Wissenschaft – Männer wie Bruno, Galileo oder Newton – sich selbst nicht als Experimentatoren betrachteten, die Verallgemeinerungen aus Experimenten ableiteten. Sie sahen sich als Platoniker, die sich um die Entdeckung der mathematischen Gesetzen bemühen, die die Natur beherrschen. Experimente und Beobachtung spielen natürlich, wie im Werk von Galileo, eine Rolle. Für Galileo waren aber Experimente, wie das Fallenlassen eines Gewichts von einem hohen Turm, Mittel zur Bestätigung seiner Theorie, und nicht die Grundlage für ihre Entdeckung. Einige Historiker haben außerdem darauf hingewiesen, dass Galileo gar nicht über die technischen Möglichkeiten verfügte, die Fallzeit eines Körpers ausreichend genau zu messen, um seine These zu beweisen. Anscheinend erfolgten die große Entdeckungen in der Geschichte der Wissenschaft selten, wenn überhaupt je, auf dem Weg, den ihnen die »experimentalistische« Schule der empirischen Philosophie vorschreibt.

Als weiteren Beleg für die geringe Bedeutung, die Beobachtung und Experiment für die Entwicklung der Wissenschaft spielen, führte Steiner Albert Einstein an,

… der, so sagt man, völlig unbeeindruckt blieb, als er hörte, dass ein Experiment zum ersten Mal seine Spezielle Relativitätstheorie empirisch bestätigt habe. Ohne auch nur im Geringsten bewegt zu sein, sagte er: »Ich wusste, dass die Theorie richtig ist.«

Als Steiners Essay, auf dem der Vortrag beruhte, unter Mitgliedern des IKVI die Runde machte, stieß er auf heftigen Widerspruch, besonders bei Genossen, die höhere Abschlüsse in naturwissenschaftlichen Disziplinen haben. Sie waren der Ansicht, dass Steiner hochtrabend über Dinge rede, die seine Kompetenz weit überschritten. Er verfügte weder über die Ausbildung noch über die Kenntnisse, um seine weitreichenden Urteile über die Geschichte der Wissenschaft zu belegen. Chris Talbot, Mathematiker an einer Universität und langjähriges britisches Mitglied des Internationalen Komitees, schrieb Steiner ein Memo. In freundlichem und sehr behutsamem Ton wies er ihn auf bedeutende Fehler in seiner Argumentation hin. Beispielsweise riet er Steiner zur Vorsicht:

… Ich glaube nicht, dass Deine (vermutlich auf [Alexandre] Koyré zurückgehende) Auffassung, Bruno, Galileo, Newton und andere Pioniere der modernen Wissenschaft hätten sich als Platoniker gesehen, einer ernsthaften Überprüfung standhält. Ich will nicht sagen, dass platonische Ideen (in unterschiedlicher Weise) keine Rolle gespielt hätten; doch während der vergangenen Jahrzehnte sind Hunderte von Büchern und Tausende von Arbeiten über Galileo und andere große Gestalten der wissenschaftlichen Revolution geschrieben worden, die keinen Beleg für Koyrés Annahme liefern. (Einen brauchbaren Überblick über die umfassende Literatur dazu fand ich in dem Buch »The Scientific Revolution and the Origins of Modern Science« von John Henry, Macmillan 1997.)

Man muss kein Empiriker sein und behaupten, wissenschaftliche Ideen gingen stets aus Experimenten hervor, um auf die entscheidende Rolle hinzuweisen, die Beobachtung und Experiment in jener Zeit spielten. Die Ansicht, Galileo habe einige seiner Experimente gar nicht wirklich durchführen können, war zwar eine Weile in Mode, ist inzwischen aber durch die Arbeiten Stillman Drakes und durch die sorgfältige Wiederholung dieser Experimente widerlegt worden (siehe zum Beispiel die überarbeitete Ausgabe von »Geburt einer neuen Physik« von I. Bernard Cohen, besonders den Anhang).

Und obwohl ich natürlich ein Gegner des »vulgären Materialismus des stalinistischen Lagers« bin, kann ich Dein Herunterspielen der Bedeutung Demokrits und Epikurs nicht akzeptieren. Pierre Gassendi zum Beispiel, eine der einflussreichsten Figuren des siebzehnten Jahrhunderts, gründete seine Arbeit auf Epikur. Selbst Koyré gab in seinen späteren Schriften zu, dass er die Bedeutung dieser beiden unterschätzt habe.

Talbot warnte dann in kluger Voraussicht:

In Deinem Bemühen, der »experimentalistischen«, empirischen Denkschule einen Schlag zu versetzen, läufst Du Gefahr, Ansichten über die Entwicklung der Wissenschaften zu ignorieren, die dem Marxismus völlig zuwiderlaufen. Ich meine die unterschiedlichen postmodernen Anschauungen und die wissenschaftsfeindlichen Stimmungen, die Du in Deinem Artikel über Heidegger sehr gut angreifst.

Ich habe bereits die Vorstellung erwähnt, Galileo habe seine Experimente gar nicht durchgeführt. Eine andere ist verbunden mit dem Einstein-Zitat: »Ich wusste, dass die Theorie richtig ist.« (Das Zitat stammt aus den Lebenserinnerungen von Ilse Rosenthal-Schneider, einer Studentin Einsteins im Jahr 1919. Sie beschreibt Einsteins Reaktion, als er hörte, Eddingtons Sonnenfinsternis-Expedition habe die Beugung des Lichts durch die Sonne nachgewiesen und damit die Allgemeine Relativitätstheorie bestätigt.) Es handelt sich um ein Lieblingszitat all jener, die beweisen wollen, dass wissenschaftliche Erkenntnis völlig relativ, nichts als ein weiteres »Narrativ« sei und dass ihre Verifizierung durch Beobachtung und Experiment ein empiristischer Mythos sei, den der große Wissenschaftler Einstein abgelehnt habe …

Dieselben Fragen wirft Deine positive Bezugnahme auf Thomas Kuhn auf. Schon die Aussage, dass alles Experimentieren und Beobachten »Theorie-beladen« sei, kann leicht als Eintreten für einen vollständigen Relativismus interpretiert werden. Kuhn hat zwar einige ernsthafte Arbeit zur Geschichte der Wissenschaft geleistet (zum Beispiel seine Studie »Black-Body Theory and the Quantum Discontinuity«), aber seine mehr philosophischen Schriften spielen eine wichtige Rolle beim postmodernen Angriff auf die Wissenschaft. Das gilt insbesondere für den in »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« entwickelten Gedanken, dass eine wissenschaftliche Theorie die andere vermittels einer »Revolution« ersetze, was zur Folge habe, dass die beiden Theorien »inkommensurabel« würden. (Vgl. hierzu Alan Sokals »Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen«).

Steiner antwortete mit ausführlichen kritischen Anmerkungen zu Talbots Brief. Während er mehrere faktische Fehler einräumte, deuteten seine Anmerkungen auf ein weiteres Abrücken von der materialistischen Weltanschauung. Das zeigte besonders deutlich seine Behauptung, Talbot unterschätze den Beitrag von Religion, Mystik und Magie zur Entwicklung der Wissenschaft.

… Es gibt aber noch einen weiteren Einfluss, über den bis zu neueren Forschungen nur wenig bekannt war. Ich meine den Einfluss hermetischer Traditionen[30] und magischer Vorstellungen. Die Geschichte der Geburt der Wissenschaft im siebzehnten Jahrhundert ist unvollständig, wenn man die mystischen Quellen auslässt, die die großen Pioniere anregten. Ein hervorragendes Buch, das den Einfluss der hermetischen Tradition auf die neue Wissenschaft behandelt, ist »Giordano Bruno and the Hermetic Tradition« von Frances Yates.

Dass Steiner das Werk von Yates anziehend fand, war bezeichnend, spielte sie doch eine führende Rolle dabei, Darstellungen der wissenschaftlichen Revolution zu diskreditieren, die die Unvereinbarkeit wissenschaftlicher und religiöser Anschauungen betonen. Frances Yates (1899–1991) hatte Jahrzehnte ihrer Studientätigkeit darauf verwandt, nachzuweisen, dass Religion und okkulter Glaube dem aufkommenden wissenschaftlichen Denken einen entscheidenden Anstoß gaben. Um die materialistische Tendenz von Brunos Werk herunterzuspielen, entwickelte Yates die These, sein Interesse an den wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit sei durch die magische Philosophie einer früheren Ära bedingt gewesen. Er sei ursprünglich aus religiösen, und nicht aus wissenschaftlichen Gründen ein Anhänger von Kopernikus gewesen. Brunos Hinrichtung sei daher nicht als Reaktion der Inquisition auf eine philosophische und wissenschaftliche Herausforderung zu werten, sondern als Antwort auf eine Form der religiösen Ketzerei, Brunos Beschäftigung mit der Hermetik.

Yates schreibt:

Man kann Brunos Philosophie nicht von seiner Religion trennen. Die erweiterte Gotteserkenntnis, die neue Offenbarung des Göttlichen aus den »Spuren«, die er in der Unendlichkeit und der ewigen Dauer des Weltalls und der Vielzahl von Welten erblickte, war seine Religion, die »Religion der Welt«. Das kopernikanische Weltbild war ein Symbol dieser neuen Offenbarung – eine Rückkehr zur Religion der alten Ägypter mitsamt ihrer Magie, von der er sonderbarerweise glaubte, sie könne im Rahmen des Katholizismus geschehen.

Daher kann die Legende, Bruno sei als philosophischer Denker verfolgt und wegen seiner gewagten Ideen über unzählige Welten oder die Bewegung der Erde verbrannt worden, nicht länger aufrechterhalten werden … Bruno war derart stark von der Hermetik beeinflusst, dass er sich keine Philosophie der Natur, der Zahlen, der Geometrie und der Diagramme vorstellen konnte, die keine göttliche Bedeutung hatte. Er ist daher der Letzte, den man als Vertreter einer vom Göttlichen getrennten Philosophie betrachten könnte.[31]

Yates schrieb in einem fesselnden Stil und übte besonders in den Vereinigten Staaten und Großbritannien bedeutenden Einfluss auf die Bruno-Forschung aus. An ihrem Werk gibt es aber scharfe Kritik.

Prof. Maurice A. Finocchiaro hat Yates’ Darstellung der Ursachen für Brunos Hinrichtung widerlegt. Gestützt auf eine sorgfältige Analyse des Prozesses gegen Bruno gelangt er zum nüchternen Schluss: »Yates’ Interpretation ist nicht zutreffend …« Über die Bedeutung des Verfahrens »in einem größeren Rahmen« schreibt er: »Wenn der Prozess gegen Galileo der Inbegriff des Konflikts zwischen Wissenschaft und Religion ist, kann man sagen, dass der Prozess gegen Bruno den Zusammenstoß von Philosophie und Religion verkörpert.«[32]

Brian Vickers, ein bekannter Wissenschaftshistoriker, hat im »Journal of Modern History« die wissenschaftlichen Methoden von Yates einer vernichtenden Kritik unterzogen. Unter dem Titel »Frances Yates and the Writing of History« konzentriert sich Vickers auf Yates’ Studie »Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes«, die – ähnlich wie ihre früheren Arbeiten über Bruno – den Okkultismus der Renaissance als große geistige Bewegung verherrlicht, von der sich auch Bacon, Descartes, Kepler und Newton hätten inspirieren lassen. Vickers bemerkt dazu:

Den Leser, der von ihrem Buch eine ernsthafte historische Untersuchung erwartet, werden das Ausmaß an purer Spekulation, die unkritische Art, in der die Rosenkreuzer-Bewegung beschrieben wird, und die willkürlichen Behauptungen über ihren Einfluss stören. Worte wie »falls«, »könnte«, »vielleicht«, »hätte«, »sicherlich« und »muss doch« werden ständig wiederholt und gehen oft in die positive Form »war« über.[33]

Vickers weist darauf hin, dass Yates beim Leser über weite Teile den Eindruck erweckt, sie selbst schenke den Behauptungen und Feststellungen der von ihr beschriebenen Renaissance-Okkultisten Glauben:

Es scheint, als habe Yates ihre Urteilskraft unterdrückt. Sie befasst sich zugegebenermaßen mit dem Okkulten, und nicht jeder Aspekt davon ist rational erklärbar. Doch selbst wenn man das berücksichtigt, gibt es Passagen, bei denen das Fehlen jeder Skepsis gegenüber den Methoden und Zielen der Okkultisten beim Leser den Eindruck erwecken muss, hier seien übliche Standards bei der Bewertung von Nachweisen zeitweise außer Kraft gesetzt worden.[34]

Professor Vickers zerpflückt dann im Detail Yates’ »Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes« – besonders ihre Behauptung, Francis Bacons »Nova Atlantis« sei ein Werk im Sinne der Rosenkreuzer gewesen – und gelangt zu einer außerordentlich harschen Bewertung ihrer geistigen Hinterlassenschaft:

Das letzte große Thema, auf das ich hier nur hinweisen kann, ist Yates’ Bemühen, die Geschichte der Wissenschaft jener Periode umzuschreiben. In »Giordano Bruno and the Hermetic Tradition« (London 1964) behauptet sie, der sogenannte »Magus« der »hermetisch-kabbalistischen« Tradition der Renaissance habe mit seiner »religiösen Einstellung« auf die Welt eingewirkt und damit für eine gänzlich neue »Hinwendung zur Welt« gesorgt, die die Wissenschaft grundlegend beeinflusst habe. Schon vor Erscheinen ihres jüngsten Buchs hatten Charles Trinkaus und Mary Hesse ihre Argumente ernsthaft angezweifelt, und Yates muss beide Forscher kennen, die zu den angesehensten auf diesem Gebiet zählen. Trotzdem schreibt sie nun, ihre »Überzeugung« werde »jetzt von Historikern der Geistesgeschichte weithin akzeptiert« (S. 226). Mit wachsendem polemischen Elan kommt sie im Verlauf des Buchs immer wieder auf diese These zurück. Sie spricht herablassend von der »sogenannten wissenschaftlichen Revolution« (S. xi und S. 220) und behauptet, die neue Wissenschaft sei aus der Magie hervorgegangen. Die Rosenkreuzer-Bewegung habe dabei eine besonders wichtige Rolle gespielt. Sie sei eine entscheidende Phase, einer der »entscheidenden Schritte, mit denen das europäische Denken aus der Renaissance hinaus- und ins siebzehnte Jahrhundert eingetreten« sei (S. 117). Dann entdeckt sie »eine ungebrochene Tradition, die von der Rosenkreuzer-Bewegung zu den Vorläufern der Royal Society führt« (S. 83).

Für solche Behauptungen gibt es keine Grundlage. Die Neufassung der Geschichte der Renaissance, die Yates vorschlägt, ist weder auf Stein noch auf Sand, sondern auf Luft gebaut.[35]

Abschließend warnt Vickers, falls die in der »Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes« angewandten »Methoden akzeptiert oder zum Vorbild werden, könnten die Ergebnisse verheerend sein«.[36]

Unglücklicherweise haben sich Vickers schlimmste Befürchtungen bestätigt. Obwohl Yates’ Arbeiten in die Zeit vor der Postmoderne fallen, fanden die antimaterialistische Ausrichtung ihrer Thesen und die »Begeisterung«, die ihre Wiederentdeckung zuvor vernachlässigter »Gemeinschaften« und »nicht-privilegierter Diskurse« (Okkultismus, Magie) auslösten, einen Widerhall unter Akademikern, die in den 1980er- und 1990er-Jahren die traditionelle Auffassung einer »wissenschaftlichen Methode« ablehnten, indem sie sie als Ergebnis eines bestimmten kulturellen Umfelds abtaten und ihr jede Allgemeingültigkeit absprachen. Die Postmoderne brachte eine drastische Revision des angeblich falschen Anspruchs auf Objektivität mit sich. Laut einer ihrer Vertreterinnen hatte die neue Herangehensweise zur Folge,

… dass die englische Wissenschaftsgeschichte während der vergangenen zwanzig Jahre stark durch die Notwendigkeit beeinflusst wurde, Diskurse zu erläutern. Wissenschaftliche Texte wurden als »Sprechakte« betrachtet und dann auf den Kontext desjenigen bezogen, der sie formuliert hatte, sowie auf andere Diskurse religiösen, politischen und sogar magischen Inhalts. Mit dieser Kontextualisierung der Wissenschaft ging die Historisierung des Wissenschaftlers einher, die Entdeckung von Interessen, Werten und Ideologien bei Denkern, von denen man einst angenommen hatte, sie seien nicht von solchen Motiven beeinflusst. Schließlich wurden, vielleicht unvermeidlich, Wissenschaftshistoriker und -soziologen zu philosophischen Relativisten. Die Frage, ob eine Wissenschaft richtig oder falsch ist, wurde ausgeklammert; der Brennpunkt verschob sich auf das Wechselspiel zwischen Diskursen und Macht und Interessen, d. h. auf die gesellschaftliche Realität, die als ausschlaggebend für den Erfolg konkurrierender wissenschaftlicher Paradigmen galt.[37]

Die Autorin des zitierten Abschnitts ist eine Anhängerin von Yates. Sie lobt Yates’ Darstellung von Bruno als »etwas verschrobenen Anhänger einer neuen kopernikanischen Religiosität« und schreibt ihr das Verdienst zu, die wichtige, inspirierende Rolle der Religion bei der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens nachgewiesen zu haben. »Beginnend mit den Werken von Frances Yates in den 1960er-Jahren«, schreibt sie, »haben Historiker, die sich mit der frühen europäischen Moderne befassen, viele der damals führenden Naturphilosophen davor bewahrt, dass ihre Motive und Interessen rationalistisch dargestellt werden.«[38]

Steiner unterstützt auch eine Interpretation des Werks von Isaac Newton, die vor allem sein Interesse an der Alchemie betont:

Dass sich Bruno für Magie und Alchemie interessierte, ist seit Jahrhunderten bekannt, auch wenn Historiker es herunterspielten. Über Newtons Interesse an Okkultem, Magie und anderen Dingen war dagegen bis vor Kurzem nur wenig bekannt. Betty Jo Dobbs[39] hat in »The Janus Faces of Genius« und anderen Werken viel dazu beigetragen, unsere Sicht auf Newton zu verändern. Es stellt sich heraus, dass Newton mehr Zeit mit alchemistischen Experimenten verbrachte als mit Physik und dass er seine physikalische Wissenschaft als Ausdruck seiner mystisch-religiösen Überzeugungen empfand. Dobbs und der von Dir [Talbot] erwähnte I. Bernard Cohen führten eine lange Auseinandersetzung darüber, ob Newtons Interesse für die Alchemie für seine wissenschaftlichen Bestrebungen von Bedeutung war. Meiner Ansicht nach kann eine solche Auseinandersetzung nur aufgrund historischer Fakten beurteilt werden, und nicht aufgrund einer vorgefassten Meinung darüber, wie sich die newtonsche Wissenschaft entwickelt haben muss. Ich maße mir nicht an, in dieser anhaltenden Auseinandersetzung ein Urteil zu fällen, finde aber Dobbs Theorie faszinierend. Sie sollte nicht einfach von der Hand gewiesen werden.

Wie schon bei Yates fragt man sich, was Steiner an Dobbs Theorie so »faszinierend« findet. Ein ihr keineswegs ungewogener Rezensent stellt fest: »Im Endergebnis gibt uns Dobbs eine religiöse Interpretation von Newtons Alchemie, eingebettet in eine religiöse Interpretation seiner gesamten wissenschaftlichen Tätigkeit.«[40] Warum stößt diese Interpretation bei Steiner auf Resonanz? In der Auseinandersetzung zwischen Dobbs und I. Bernard Cohen steht außer Zweifel, wem Steiners Sympathie gilt. Es ist reichlich merkwürdig, wenn jemand, der sonst Verachtung für die empirische Bestätigung von Theorien übrig hat, Talbot mitteilt, die Frage nach der Rolle der Alchemie bei der Entwicklung der newtonschen Physik könne »nur aufgrund historischer Fakten beurteilt werden, und nicht aufgrund einer vorgefassten Meinung darüber, wie sich die newtonsche Wissenschaft entwickelt haben muss«. In Wirklichkeit ignoriert Steiner die historischen Fakten. Doch davon abgesehen ist das Verhältnis von Religion und Wissenschaft ein Problem, das eine philosophisch fundierte Einsicht in grundlegendere Fragen erfordert. Kommentare zur Debatte über Hermetik und Alchemie haben sehr gut verstanden, dass das (von Yates vorweggenommene) Bemühen, die Beziehung zwischen den magischen Traditionen aus der Zeit vor der Aufklärung und der Wissenschaft zu relativieren, zu antirationalistischen Schlussfolgerungen führt.[41]

Hinzu kommt, dass Newtons persönliches Interesse für die Alchemie genauso wie sein leidenschaftlicher Glaube an Gott für die Frage nach dem Verhältnis von Alchemie und Wissenschaft vollkommen zweitrangig sind. Newton war ein Mann seiner Zeit, ebenso wie Bruno. Sie konnten als Individuen nicht einfach aus der Epoche, in der sie lebten, hinausspringen. Aus der Vergangenheit ererbte Vorstellungen und Denkweisen übten selbst auf die größten Denker ihrer Zeit noch einen gewissen Einfluss aus. Doch letztlich erforderte die Entwicklung der Wissenschaft und ihrer Methodik einen Bruch mit religiösen Anschauungen, so wie die Entwicklung der Chemie die Befreiung von der Alchemie erforderte. Ungeachtet der Widersprüche im Werdegang des einen oder anderen Wissenschaftlers machte sich der grundlegende und unversöhnliche Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion am Ende geltend. Bei einzelnen Individuen geschah dies zum Teil nur unvollständig und zweideutig, im historischen Prozess als Ganzem dagegen vollständig und eindeutig.

Newtons große wissenschaftliche Leistungen lagen auf dem Gebiet der Mechanik, Optik und Mathematik und nicht der Chemie, die selbst im Vergleich zur Physik damals noch in einem primitiven Stadium steckte. Die Chemie befand sich noch im Ablösungsprozess von der Alchemie, die trotz ihrer mystischen Grundlage einige empirische Fakten über chemische Vorgänge zusammengetragen hatte. Es wäre wichtiger zu untersuchen, wie weit Newtons religiöse Anschauungen ihn daran hinderten, einen größeren Beitrag zur Entwicklung der Chemie als Wissenschaft zu leisten. Seine Religiosität färbte auch auf einige seiner physikalischen Ansichten ab. Das bekannteste Beispiel ist seine Behauptung, Gott sei die Haupttriebkraft des Universums. All das zeigt jedoch nur, dass Newton ein Mann seiner Zeit war. Die weitere Entwicklung der Physik beseitigte dann diese religiösen Schnörkel.

Es mag sonderbar erscheinen, dass wir uns ausführlich mit der Frage befassen, welche Rolle die Hermetik bei der Hinrichtung Brunos durch die Inquisition und die Alchemie bei der Entwicklung der newtonschen Physik spielten. Die Aufmerksamkeit, die wir Steiners Ansatz in der Wissenschaftsgeschichte widmen, ist aber gerechtfertigt, weil sie ein Licht auf die Entwicklung seiner theoretischen und politischen Anschauungen wirft. Steiner selbst hätte die Entwicklung, oder Rückentwicklung, seiner theoretischen Konzeptionen so sorgfältig überdenken sollen, wie wir es hier tun, bevor er das Internationale Komitee wütend angriff. Dass Yates und Dobbs, die der Religion und der Mystik eine fortschrittliche Rolle zuschreiben und dem Irrationalen einen bedeutenden Platz in der Geschichte der Wissenschaft einräumen, einen Reiz auf ihn ausübten, zeigt, dass er sich rasch von seinem früheren materialistischen Verständnis der Geschichte und des Bewusstseins abwandte. Es bestand eine eindeutige Verbindung zwischen seinem neu entdeckten Respekt für den Beitrag, den die Hermetik und die Alchemie angeblich zur Entwicklung der Wissenschaften leisteten, und seiner Anfälligkeit für das Argument, utopische Mythen könnten bei der Entwicklung sozialistischen Bewusstseins eine wichtige Rolle spielen. In beiden Fällen handelte es sich um einen Rückzug von der Wissenschaft, von Objektivität, Rationalität, Materialismus und Marxismus.

Bezeichnenderweise besagt ein wichtiges Element von Yates’ Einschätzung der wissenschaftlichen Revolution, diese habe »nicht nur einen gewaltigen Zuwachs an Kenntnissen und Fähigkeiten des Menschen bedeutet, sondern auch den Verlust von etwas. Dieses ›Etwas‹ hat mit Einsicht in die Seele des Menschen zu tun, in ihre miteinander verwobenen bewussten und unbewussten Schichten, in ihre Befähigung zum Guten und zum Bösen, und in das Geheimnis ihrer Kreativität, das die moderne Wissenschaft offenbart, aber auch gleichzeitig verdunkelt oder ignoriert hat.«[42] Diese Wissenschaftskritik hat auffallende Ähnlichkeit mit den Argumenten, die Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« vorbringen. Dort führen sie die Krise der modernen Gesellschaft auf die wissenschaftlich basierte Auffassung zurück, die Natur sei ein beherrschbares Objekt. Wie wir noch sehen werden, fußen Steiners Ansichten gänzlich auf der Kritik von Horkheimer und Adorno.

In diesem Zusammenhang ist es besonders bemerkenswert, dass Steiner bei seiner Erörterung des Ursprungs der modernen Wissenschaft vollkommen ignoriert, dass Engels nachdrücklich darauf beharrte, der entscheidende Faktor bei der Entwicklung der Wissenschaft im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sei nicht die freie Entwicklung des Denkens gewesen (von dessen mehr mystischen und okkulten Spielarten ganz zu schweigen), sondern das Wachstum der Produktivkräfte. Engels schreibt:

Wenn nach der finstern Nacht des Mittelalters auf einmal die Wissenschaften neu und in ungeahnter Kraft erstehn und mit der Schnelle des Mirakels emporwachsen, so verdankten wir dies Wunder wieder – der Produktion. Erstens war seit den Kreuzzügen die Industrie enorm entwickelt und hatte eine Menge neuer mechanischer (Weberei, Uhrmacherei, Mühlen), chemischer (Färberei, Metallurgie, Alkohol) und physikalischer Tatsachen (Brillen) ans Licht gebracht, und diese gaben nicht nur ungeheures Material zur Beobachtung, sondern lieferten auch durch sich selbst schon ganz andre Mittel zum Experimentieren als bisher und erlaubten die Konstruktion neuer Instrumente; man kann sagen, dass eigentlich systematische Experimentalwissenschaft jetzt erst möglich geworden. Zweitens entwickelte sich jetzt ganz West- und Mitteleuropa inkl. Polen im Zusammenhang, wenn auch Italien kraft seiner altüberkommenen Zivilisation noch an der Spitze stand. Drittens eröffneten die geographischen Entdeckungen – rein im Dienst des Erwerbs, also in letzter Instanz der Produktion gemacht – ein endloses bis dahin unzugängliches Material in meteorologischer, zoologischer, botanischer und physiologischer (des Menschen) Beziehung. Viertens war die Presse da.[43]

Dass die aufblühende Wissenschaft ihre Grundlage in Produktion und Wirtschaft hatte, bestreitet Yates ausdrücklich. Sie gibt eine offen idealistische Erklärung des Vorgangs:

… Es ist eine Bewegung des Willens, die eine geistige Bewegung entfacht. Ein neuer Brennpunkt der Interessen entsteht, umgeben von emotionaler Begeisterung; das Denken wendet sich, wohin der Wille es lenkt, und neue Einstellungen, neue Entdeckungen sind die Folge. Hinter dem Aufkommen der modernen Wissenschaft stand eine Ausrichtung des Willens auf die Welt, ihre Wunder und die rätselhaften Vorgänge in ihr, eine neue Sehnsucht und Entschlossenheit, diese Vorgänge zu verstehen und anzuwenden.[44]

Nichts im oben zitierten Abschnitt trägt zu einem Verständnis der tatsächlichen historischen, sozioökonomischen Vorgänge bei, die der Revolution der Wissenschaft den Boden bereiteten.

Dass Steiner diesen grundlegenden Text Engels’ vernachlässigte, war kein bloßes Versehen. Yates‘ idealistische Thesen zogen ihn an, weil er sich selbst weit von Engels materialistischer Weltanschauung entfernt hatte. Weiter unten in seiner Antwort an Talbot wiederholt er seine Kritik an Engels aus dem Jahr 1999:

Ich war immer der Ansicht, dass Engels’ sehr allgemeine Zusammenfassungen mit Vorsicht zu genießen sind. Als allgemeine Zusammenfassung zum Zweck einer populären Darstellung mögen seine Formulierungen nützlich sein. Das Problem ist jedoch, dass Engels’ Aussagen – wenn auch nicht durch sein eigenes Verschulden – besonders von den Stalinisten missbraucht wurden, um ein grundfalsches Bild der Geschichte der Philosophie zu zeichnen. Die gesamte Philosophiegeschichte wird behandelt, als sei die einzig interessante Frage der Gegensatz von Idealismus und Materialismus. Das ignoriert die Tatsache, dass es in der Geschichte der Philosophie viele andere wichtige Streitfragen gab, und diese lassen sich nicht allein auf das Paradigma vom Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus reduzieren.

Das ist eine Verzerrung der marxistischen Auffassung von der Entwicklung der Philosophie. Kein Marxist hat je behauptet, das Verhältnis von Materialismus und Idealismus sei die »einzig interessante Frage« in der Geschichte der Philosophie; das wäre offensichtlich falsch. Engels vertrat die Ansicht, es sei die grundlegende Frage, was etwas völlig anderes ist. Zu diesem Schluss gelangte er aufgrund des Studiums der Philosophiegeschichte. Während der vergangenen 2500 Jahre haben sich Philosophen mit einer großen Bandbreite von Fragen befasst, darunter, wie Steiner hervorhebt, dem Verhältnis des »Einen zu den Vielen« und des freien Willens zum Determinismus. Oder betrachten wir eine andere Frage aus jüngerer Zeit. In »Der Mythos des Sisyphos« behauptete der Existenzialist Albert Camus, das einzige philosophische Problem, das die Aufmerksamkeit des modernen Menschen verdiene, sei das des Selbstmords, d. h. ob das Leben lebenswert sei. Für den Existenzialismus überragte dieses Problem das Verhältnis vom Sein zum Bewusstsein. Doch die Untersuchung dieser und anderer wichtiger Fragen, eingeschlossen solcher zu Moral und Ethik, führt auf der grundlegendsten Ebene der Analyse unausweichlich zu Antworten, die entweder materialistisch oder idealistisch sind.

Steiner verteidigt seine Ablehnung von Engels’ Definition der Grundfrage der Philosophie mit dem Argument, der Marxismus sei eine »qualitativ heterogene« Philosophie, die idealistische und materialistische Elemente einschließe:

… Letztlich führt die Entwicklung der Philosophie in Verbindung mit den Wissenschaften zu einem grundsätzlich materialistischen Standpunkt, doch zu einem, der alle Reichtümer früherer Philosophie mit einschließt, sowohl der idealistischen als auch der materialistischen und der verschiedenen Schattierungen dazwischen. Wenn, wie Hegel sagt, die Wahrheit im Ganzen liegt, dann können wir keine anderen Schlussfolgerungen ziehen.

Das ist eine antimarxistische Einschätzung der Philosophiegeschichte. Es ist eine Sache, unter genauem Verweis auf den historischen Kontext zu erklären, welchen Beitrag die idealistische Philosophie, besonders der klassische deutsche Idealismus, zur Entwicklung des Marxismus geleistet hat, wie Engels dies in seinem »Ludwig Feuerbach« tut. Es ist etwas völlig anderes, den Marxismus als eine heterogene Weltanschauung darzustellen, die irgendwie Idealismus und Materialismus vereint. Steiners Formulierung, »der alle Reichtümer früherer Philosophie mit einschließt, sowohl der idealistischen als auch der materialistischen und der verschiedenen Schattierungen dazwischen« (Skeptizismus? Agnostizismus?), ist unsinniges Kauderwelsch, das den Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus verwischt oder ganz beseitigt.[45]

Im Weiteren rückt Steiner deutlich von der Betonung ab, die er in früheren Dokumenten auf den Kampf gegen die Postmoderne gelegt hatte. Auf Talbots Kritik, er (Steiner) nähere sich der Postmoderne an, antwortet er:

Wenn Du behauptest, die Postmoderne stelle heutzutage eine größere Bedrohung dar als Empirismus und Positivismus, dann liegst Du damit in meinen Augen sowohl historisch als auch faktisch falsch.

Ironischerweise geht Steiner trotz seiner rituellen Verurteilung des Empirismus von rein empirischen und pragmatischen Erwägungen aus, wenn er die intellektuelle Herausforderung durch die Postmoderne herunterspielt. Gestützt auf eigene grobe Schätzungen argumentiert er, es gebe eine größere Zahl von Empirikern als von Vertretern der Postmoderne.

Ein Überblick über die heutige Lage an den Universitäten kann helfen, die vorhandenen geistigen Strömungen zu erfassen. Besonders in Nordamerika und Großbritannien haben analytische Philosophie und Positivismus die philosophischen Fakultäten weiterhin fest im Griff. Es stimmt, dass die Vertreter der Postmoderne einige Literaturabteilungen übernommen haben und dass sich völkerkundliche, kulturwissenschaftliche und andere Studiengebiete stark ausweiten, die ihre Wurzeln im Kulturrelativismus haben. Und Vertreter der Postmoderne haben an einigen philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten eine symbolische Präsenz. Doch der Löwenanteil der Humanwissenschaften ist nach wie vor fest im Lager des Positivismus und des Empirismus.

Die Bedeutung philosophischer Strömungen kann mit dieser Art von Erfolgsbilanz nicht korrekt eingeschätzt werden. Ob Empiriker oder Vertreter der Postmoderne mehr Lehrstühle besetzen, ist nicht die entscheidende Frage. Viel wichtiger ist der objektive Inhalt des postmodernen Denkens (d. h. die Antworten, die es auf grundlegende philosophische Fragen gibt) und sein Verhältnis zu den entscheidenden Fragen unserer Epoche. Die Postmoderne entstand weitgehend als Versuch, den Marxismus zu zerstören. Sie griff seine Grundauffassungen direkt an, insbesondere die Objektivität der Erkenntnis und den Begriff der objektiven Wahrheit. Dabei bediente sie sich in eklektischer Weise bei verschiedenen rückschrittlichen Strömungen des bürgerlichen Denkens, einschließlich des Pragmatismus. Die Postmoderne geht insofern über die traditionelle skeptische Philosophie hinaus, als sie nicht nur die Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit infrage stellt oder verneint, sondern jedes theoretische Bemühen um objektive Wahrheit verurteilt und ins Lächerliche zieht. Auf diese Weise hat sie sich mit einigem Erfolg bemüht, das intellektuelle Klima durch grenzenlosen Zynismus und demoralisierte Stimmungen zu verseuchen. Hegel hat bemerkt, dass Philosophien, die die Idee der Wahrheit herabsetzen, im Allgemeinen in Zeiten der Dekadenz und Korruption auftreten.

Die Beteiligung von zahlreichen ehemaligen Radikalen (darunter auch Stalinisten und frühere Trotzkisten) an diesem reaktionären Unterfangen hat zu seiner zerstörerischen Wirkung beigetragen, da die Postmoderne gemeinhin als Spielart linken, ja sogar neomarxistischen Denkens angesehen wird.

10. Steiners Rückkehr zur Frankfurter Schule und zur »Neuen Linken«

Es ist klar, dass Steiner die Standpunkte, mit denen er das Internationale Komitee später angreifen sollte, schon 2002 in Gedanken mehr oder weniger ausformuliert hatte. Die Veränderung seiner philosophischen Auffassungen ging mit einer neuen politischen Orientierung einher – oder genauer gesagt, der Rückkehr zur alten Orientierung, die er verworfen hatte, als er sich 1970 der trotzkistischen Bewegung anschloss. Nachdem er sich von allem »befreit« hatte, was er vom theoretischen Erbe des Marxismus noch unterstützt hatte, begann Steiner, seine intellektuelle Biographie rückwärts zu durchlaufen. Die Logik dieser Rückwärtsbewegung fand ihren Ausdruck in seiner Hinwendung zum Utopismus, seiner Wiederentdeckung von Marcuse und anderer Größen der Frankfurter Schule und dem Beginn seiner politischen Partnerschaft mit Frank Brenner.[46]

In »Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein« habe ich mich eingehend damit beschäftigt, wie Steiner und Brenner in ihren Schriften mit dem Utopismus umgehen. Um die vorliegende Übersicht über Alex Steiners politischer Entwicklung zu vervollständigen, ist es aber notwendig, noch einmal auf seinen ersten Diskussionsbeitrag zu dieser Frage einzugehen. Im Jahr 2002 kam es zu einem Briefwechsel zwischen Nick ­Beams, dem Sekretär der australischen SEP, und Brenner, in dem es um die Frage des Utopismus ging. Steiner unterstützte in einem Brief an Steve Long, einem führenden Mitglied der deutschen Partei für Soziale Gleichheit (PSG), Brenners Eintreten für den Utopismus. Am 30. Dezember 2002 verteidigte Long in einer Antwort an Steiner Beams‘ Standpunkt, der gestützt auf die theoretischen Traditionen des Marxismus zwischen Utopismus und wissenschaftlichem Sozialismus unterschied.

Am 30. März 2003 besuchte Steiner eine von der SEP und der »World Socialist Web Site« organisierte Konferenz gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan. Er ergriff dort das Wort und unterstützte die Perspektive, die ich in meinem Eröffnungsvortrag vertreten hatte. Er gab keinen Hinweis darauf, dass er Einwände gegen die Politik und die Aktivitäten der SEP habe.[47]

Zwei Monate später, am 28. Mai 2003, sandte Steiner einen langen Brief an Long, aus dem unmissverständlich hervorging, dass er sich nicht mehr auch nur ansatzweise auf die theoretische und geistige Tradition des Marxismus stützte.

Steiners Leitthema lautete, der Marxismus habe sich als Weiterführung des utopischen Sozialismus und nicht als Bruch mit ihm entwickelt. In ähnlicher Weise, wie er zuvor versucht hatte, eine Kontinuität zwischen mystischer Spekulation und Wissenschaft herzustellen, stellte er nun den Marxismus als Höhepunkt und Fortführung des utopischen Denkens dar. Sein Narrativ vermischte willkürlich völlig unterschiedliche und gegensätzliche soziale Bewegungen, politische Strömungen und theoretische Auffassungen.

Von 1830 bis 1848 hatte man eine Periode gewaltiger geistiger und poli­tischer Erschütterungen, ohne die weder der Aufstieg des Chartismus in England, noch die utopischen Gemeinschaften in den USA, die linken Hegelianer in Deutschland oder die radikale Arbeiterbewegung in Frankreich möglich gewesen wären. All das gipfelt in der Revolution des Jahres 1848 und im Kommunistischen Manifest, das als »Aufhebung« der früheren utopischen Bewegungen und von vielem anderem verstanden werden kann …

Der Marxismus ist letztlich der Erbe dieser Geschichte revolutionärer Kämpfe, in denen das utopisch genannte Denken eine absolut entscheidende Rolle spielte. Allein aus dieser Geschichte sollte ersichtlich sein, dass der Utopismus nicht als etwas Vergangenes abgetan werden kann, das für uns keine Relevanz mehr hat. Wenn der Marxismus die Verwirklichung und Weiterentwicklung des Utopismus ist, dann besitzt das, was am Utopismus lebendig geblieben ist, für den Marxismus höchste Bedeutung.[48]

Diese Darstellung der Geschichte ist grundfalsch. Sie besteht fast nur aus rhetorischen Schnörkeln ohne faktische oder theoretische Substanz. Steiner benutzt den hegelschen Begriff »Aufheben«, der zu seinem bevorzugten literarischen Stilmittel geworden ist, um seinen Argumenten den Schein philosophischer Tiefe zu verleihen. Aber solange niemand genauer hinschaut, kann man so gut wie alles als »Aufheben« von irgendetwas anderem bezeichnen. Dann behauptet er: »Wenn der Marxismus die Verwirklichung und Weiterentwicklung des Utopismus ist, dann …« Hier ist schon die Prämisse des Arguments falsch: Der Marxismus ist nicht die »Verwirklichung und Weiterentwicklung des Utopismus«, sondern dessen theoretische, historische und politische Negation.

Das »Kommunistische Manifest«, das Steiner hier beiläufig erwähnt, betont den Unterschied zwischen dem Sozialismus, für den es eintritt, und dem Utopismus:

Die Bedeutung des kritisch-utopistischen Sozialismus oder Kommunismus steht im umgekehrten Verhältnis zur geschichtlichen Entwicklung. In demselben Maße, worin der Klassenkampf sich entwickelt und gestaltet, verliert diese phantastische Erhebung über denselben, diese phantastische Bekämpfung desselben allen praktischen Wert, alle theoretische Berechtigung. Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedesmal reaktionäre Sekten. Sie halten die alten Anschauungen der Meister fest gegenüber der geschichtlichen Fortentwicklung des Proletariats. Sie suchen daher konsequent den Klassenkampf wieder abzustumpfen und die Gegensätze zu vermitteln. Sie träumen noch immer die versuchsweise Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Utopien, Stiftung einzelner Phalanstere, Gründung von Home-Kolonien, Errichtung eines kleinen Ikariens – Duodezausgabe des neuen Jerusalems –, und zum Aufbau aller dieser spanischen Schlösser müssen sie an die Philanthropie der bürgerlichen Herzen und Geldsäcke appellieren. Allmählich fallen sie in die Kategorie der oben geschilderten reaktionären oder konservativen Sozialisten und unterscheiden sich nur noch von ihnen durch mehr systematische Pedanterie, durch den fanatischen Aberglauben an die Wunderwirkungen ihrer sozialen Wissenschaft.[49]

Für Steiner ebnete das Eintreten für den Utopismus mehr als drei Jahrzehnte, nachdem er die New School verlassen hatte, den Weg für die Rückkehr ins intellektuelle Milieu der Frankfurter Schule. Steve Long hatte in seinem Brief vom Dezember 2002 darauf hingewiesen, dass Russel Jacoby (ein Anhänger der Frankfurter Schule, dessen Buch »The End of Utopia« Steiner in den höchsten Tönen lobte) für eine Wiedergeburt des Utopismus im Dienste des Liberalismus eintrat. Steiner antwortete: »Müssen wir als Marxisten deshalb alles ignorieren, was er ab Seite acht schreibt, wo er seine Absicht verkündet, eine Form des radikalen Liberalismus neu zu beleben?«

Long hatte auch darauf aufmerksam gemacht, dass Jacobys utopisches Projekt stark auf Herbert Marcuses »Triebstruktur und Gesellschaft« zurückgriff. Steiner wischte diese und weitere Kritik an der Frankfurter Schule beiseite:

… Ist ein positiver Hinweis auf »Triebstruktur und Gesellschaft« ein ideologisches Verbrechen? Du [Steve Long] präsentierst anschließend eine oberflächliche Geschichte der Frankfurter Schule und versuchst zu beweisen, dass ihre Anhänger politische Opportunisten waren, die die Studentenbewegung der 1960er-Jahre fehlorientierten. Deine Darstellung ist eine eklektische Verbindung von historischen Wahrheiten mit übertriebenen Vereinfachungen, ein Durcheinander, das mehr Verwirrung stiftet, als es klärt. Ja, sowohl Adorno als auch Marcuse waren poli­tische Opportunisten, die sich in den 1930er-Jahren im Namen einer »Einheitsfront« gegen den Faschismus mit den Moskauer Prozessen einverstanden erklärten. Bedeutet das, dass sie uns hinterher nichts Relevantes mehr zu sagen hatten?

Dann pries Steiner »Triebstruktur und Gesellschaft« als

ein Werk, das vom Geist des Utopismus durchdrungen ist. Es ist ein Versuch, den Marxismus mit einer radikalen, von Freud hergeleiteten Zivilisationskritik zu ergänzen, die Freuds konservative Schlussfolgerungen ablehnt. Das Buch war gerade deshalb so populär, weil es optimistische Schlussfolgerungen hinsichtlich der Möglichkeit einer radikalen Umformung der Gesellschaft zog. Es wurde in den 1960er-Jahren zu einer Art Gründungsdokument der Neuen Linken. Ich analysiere das Buch hier nicht, aber es handelt sich eindeutig um ein Werk, das nicht einfach von der Hand zu weisen ist.

Schließlich rechtfertigte und verteidigte Steiner Marcuses Werk. Er tadelte Long:

Wenn Du über Marcuse sprichst, dann ist es ganz besonders wichtig, auf welche Periode seines Schaffens Du Dich beziehst. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Marcuse in »Vernunft und Revolution«, dem Marcuse in »Triebstruktur und Gesellschaft« und dem Marcuse in »Der eindimensionale Mensch«. Als er »Der eindimensionale Mensch« schrieb, war Marcuse vollständig zum Standpunkt übergegangen, dass die Kulturindustrie alle gewohnten Ansätze zu einer oppositionellen politischen Praxis verunmöglicht habe und die objektive Grundlage für einen revolutionären Wandel bedeutungslos geworden sei, weil die fortgeschrittenen Konsumgesellschaften neue Methoden der gesellschaftlichen Einbindung entwickelt hätten. Mit dieser Einschätzung rechtfertigte er die Wegwendung von der Arbeiterklasse, die nun hoffnungslos in die Gesellschaft eingebunden sei, und die Hinwendung zu einer Politik der kulturellen Subversion, getragen von Studenten und marginalen Minderheiten. Diese politische Wende Marcuses lieferte den theoretischen Stoff für die Neue Linke. Ihr wurde zu Recht vorgeworfen, sie habe die Grundlage dafür geschaffen, dass schließlich eine ganze Generation von linker Politik desillusioniert war.

Der Marcuse in »Triebstruktur und Gesellschaft« ist jedoch nicht derselbe wie der Marcuse in »Der eindimensionale Mensch«. Es gibt natürlich in diesem früheren Werk, das Mitte der 1950er-Jahre im Amerika McCarthys geschrieben wurde, gewisse Ansätze und Vorwegnahmen der Standpunkte, die Marcuse in »Der eindimensionale Mensch« vertritt. Marcuse selbst weist in einem Vorwort, das er in den 1960er-Jahren für eine Neuauflage des Buchs schrieb, auf diese Ansätze hin. Doch als er dieses Vorwort schrieb, hatte er sich bereits vollständig der Politik zugewandet, die er in »Der eindimensionale Mensch« vertritt. »Triebstruktur und Gesellschaft« hat jedoch auch eine positive Seite. Dieses Werk untersucht ein Thema, das lange vernachlässigt wurde: Das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Formen der sexuellen Unterdrückung und der Fähigkeit der herrschenden Klasse, ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten. Die Hauptthese von »Triebstruktur und Gesellschaft« enthält nichts, das uns zwingen würde, die Vorstellung von der Arbeiterklasse als Subjekt der revolutionären Umwälzung aufzugeben. Sie verlangt auch nicht, dass wir den politischen Kampf zugunsten einer vage definierten kulturellen Praxis aufgeben. Marcuse beharrt allerdings darauf, dass ein politischer Kampf, der grundlegende kulturelle und psychologische Fragen nicht anspricht, letztlich steril bleibt. Er will im Wesentlichen auf dasselbe hinaus wie Reich in »Die Massenpsychologie des Faschismus«: Wenn die marxistische Bewegung kein Mittel finde, die unterdrückten libidinösen Triebe in eine progressive Richtung zu lenken, werde der Faschismus diese Triebe nutzen, um uns ins Zeitalter der Barbarei zurückzuwerfen. Ich könnte sehr viel mehr zu diesem Thema sagen, aber ich habe meinen Standpunkt, glaube ich, klar gemacht. Behandelt man einen komplexen Denker wie Marcuse, ist es nicht sehr hilfreich, sein Denken so zu verstümmeln, wie Du es getan hast.

Ich habe Steiner ausgiebig selbst zu Wort kommen lassen. Obwohl er das Gegenteil behauptet, ist die Zurückweisung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse Bestandteil der theoretischen Auffassungen, die Marcuse über Jahrzehnte hinweg vertreten hat. Nur jemand, der nicht mehr im Rahmen der theoretischen und politischen Traditionen der Vierten Internationale arbeitet, kann eine solche Verteidigung von Marcuse schreiben, wie Steiner das getan hat.

11. Steiners neue politische Verbindungen

Etwa zur selben Zeit ging Steiner neue politische Beziehungen ein, die er in keinem seiner Angriffe auf das IKVI erwähnt. Er will seine gegenwärtigen politischen Verbindungen offenbar vor den Lesern seiner Dokumente verbergen. Steiner wurde Dozent für Philosophie an der New School for Pluralistic Anti-Capitalist Education, abgekürzt The New SPACE. In ihrer Eigendarstellung bezeichnet sich The New SPACE als »entschieden antiautoritär und unsektiererisch«; sie bringe »Anarchisten, humanistische Marxisten und andere« zusammen. Genauer gesagt, es handelt sich um eine Zusammenballung radikaler Strömungen der Mittelklasse, die den Trotzkismus ablehnen. Unter ihren »Lehrern, Rednern und Organisatoren« finden sich Individuen, die enge Verbindungen zur Frankfurter Schule haben, wie Kevin Anderson (dessen Schriften Steiner lobt), Stanley Aronowitz, Eric Bronner und Bertel Ollman. Unter den Fakultätsangehörigen finden sich auch Individuen, die bei den Grünen und in anderen kleinbürgerlichen Protestbewegungen aktiv sind.

In seinem neuen Lebenslauf auf der Website von The New SPACE erwähnt Steiner seine früheren Verbindungen zur trotzkistischen Bewegung nicht. Die einzige politische Aktivität, die er in seiner kurzen Biographie nennt, ist seine Teilnahme an einer Besetzung der New School durch Studenten im Jahr 1970. Obwohl er »Der Fall Martin Heidegger« unter seinen Veröffentlichungen anführt, gibt er nicht an, dass dieser Essay auf der »World Socialist Web Site« erschienen ist. Wie ist das zu erklären? Es geht hier nicht um Fragen der persönlichen oder politischen Sicherheit, sondern darum, dass Verbindungen zum Trotzkismus und zum orthodoxen Marxismus in diesen Kreisen politisch und ideologisch nicht als respektabel gelten. In seinem Mitgliedsantrag gab Steiner 1999 zu, dass er »Teil der Kultur der New Yorker Mittelklasse« gewesen sei. Er ist bis heute Teil dieser zynischen, mit sich selbst beschäftigten Kultur geblieben. Das macht seinen Angriff auf das Internationale Komitee so heuchlerisch und verlogen.

Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Artikels die verschiedenen Vorlesungsreihen zu analysieren, die Steiner an The New SPACE gehalten hat. Er hat Kurse zu Hegels »Logik«, zur »Vernunft in der Geschichte« und zu Hegels »Phänomenologie des Geistes« gegeben. Seine Vorlesungen finden sich im Internet.[50] Sie sind meiner Ansicht nach sehr schwach. Steiners Analyse von Hegel – und auch von Marx – hat nichts mit einer marxistischen Darstellung zu tun. Das Verblüffendste an den Vorlesungen ist, dass kein Zuhörer auf den Gedanken käme, Steiner sei Materialist. Nachdrücklich distanziert er sich von der geläufigen marxistischen Kritik an Hegels Idealismus. In einer Vorlesung zum Thema »Vernunft in der Geschichte« sagt er seinen Studierenden: »Um so viel wie möglich aus diesem Kurs herauszuholen, wäre es hilfreich, alles zu vergessen, was Ihr über Hegel und über Marx wisst. Das Verständnis von Hegel und zu einem großen Teil auch von Marx ist durch verschiedene Interpretationen abgeschwächt worden, die wenig oder gar nichts mit dem zu tun haben, worum es Hegel oder Marx eigentlich ging.« Dann greift er die Interpretation an, laut der die Überarbeitung der hegelschen Dialektik durch Marx einen Bruch mit dem Idealismus erforderte. Er mahnt seine Studierenden: »Ich will nicht hören, dass Marx Hegel auf den Kopf oder auf die Füße gestellt hat.« Später verkündet er in der gleichen Reihe: »Ich denke, die Begriffe Idealismus und Materialismus müssen nach Marx überdacht werden.« In seiner ersten Vorlesung über Hegels »Logik« verurteilt er die marxistische Auffassung der Hegel-Lektüre ausdrücklich:

In der marxistischen Tradition finden wir eine Interpretation, die etwa so lautet: »Naja, Hegel war ein konservativer Denker, aber wir können einiges von dem bewahren, was er gesagt hat, nämlich seine Methode, was immer das bedeuten mag.« Ich lehre Hegel nicht so. Nebenbei gesagt, halte ich das für eine sehr schlechte Interpretation. Es war auch nicht die von Marx.

Diese gezielte, krasse Verflachung der marxistischen Hegelkritik konnte nur zur Folge haben, dass seine Studierenden gegen den Materialismus eingenommen wurden.

Wir haben in diesem Bericht die unterschiedlichen Stadien von Steiners Werdegang sorgfältig nachvollzogen. Nicht das Internationale Komitee, sondern Alex Steiner hat seinen Standpunkt radikal verändert. Abschließend muss Steiners ideologische Biographie in den objektiven Zusammenhang gestellt werden, in dessen Rahmen er zu einem offenen und erbitterten Gegner des Internationalen Komitees und von mir selbst wurde.

Steiners gesamte politische Laufbahn war von einem hohen Grad an Unbeständigkeit und Instabilität gekennzeichnet, ein Merkmal, das unter radikalen Intellektuellen nicht ungewöhnlich ist. Plötzliche Veränderungen der politischen Lage verstärkten seine Neigung, subjektive Schwächen deutlich hervortreten zu lassen. Er passte sich an die Weltsicht des kleinbürgerlichen New Yorker Milieus an, in dem er sein gesamtes Erwachsenenleben verbrachte. Die Vermutung ist nicht abwegig, dass die Ereignisse vom 11. September 2001 und ihre Auswirkungen Steiners politisches Gleichgewicht ins Wanken brachten. Im Strudel der politischen Verwirrung, die die Zerstörung des World Trade Centers hinterließ und die von der Regierung und den Medien zu reaktionären Zwecken ausgeschlachtet wurde, kam Steiners Neigung zur persönlichen und politischen Demoralisierung, die wir schon in den 1970er-Jahren gesehen hatten, wieder zum Vorschein.

Das ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Nach 9/11 verloren weite Teile der akademischen Gemeinschaft ihr politisches Gleichgewicht. Der Akademiker Tom Rockmore, ein Spezialist für deutsche idealistische Philosophie, brachte ihre Desorientierung auf den Punkt, als er schrieb:

Alle unsere fertigen begrifflichen Gewissheiten wurden durch den 11. September durcheinandergeworfen. Die Vorstellung, wir hätten die Welt mit unseren Theorien erfasst, ist von der Welt selbst matt gesetzt worden. Die Welt hat sich in einer Weise verändert, die für niemanden vorhersehbar war. Wir können die Ereignisse des 11. September nicht beurteilen, indem wir einfach die üblichen Werkzeuge anwenden. Sie widersetzen sich unserem Sinn von lesbarer Ordnung, und wir können nicht sagen, wann sich unsere Kategorien wieder anpassen werden.[51]

Trotzki kannte diese Art von Kleinmut bei radikalen Intellektuellen nur allzu gut. »Wenn große Ereignisse auf sie einstürzen, sind sie leicht verloren und fallen wieder in die kleinbürgerlichen Denkweisen zurück«,[52] schrieb er 1939. Dieses Schicksal hat auch Alex Steiner ereilt.


[1]

Alle Zitate aus »Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein« beziehen sich auf das vorangehende Kapitel in diesem Buch.

[2]

Frank Brenner, Alex Steiner, »Objectivism or Marxism: A letter to the International Committee«, Mai 2006, auf: Permanent Revolution, http://www.permanent-revolution.org/polemics/objectivism_marxism.pdf, aufgerufen am 24.9.2015.

[3]

Alex Steiner, Frank Brenner, »Marxism Without its Head or its Heart«, auf: Permanent Revolution ab September 2007, http://forum.permanent-revolution.org/p/marxism-without-its-head-or-its-heart.html, aufgerufen am 21.10.2015 (im Folgenden auch mit MWHH abgekürzt, entsprechend dem englischen Titel).

[4]

Karl Marx, »Das Elend der Philosophie«, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, S. 131.

[5]

David North, »Der Mythos vom ›ganz gewöhnlichen Deutschen‹: Eine Kritik von Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker‹«, in: Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2014, S. 357 f.

[6]

David North, Gleichheit, Menschenrechte und Sozialismus, Essen 1997.

[7]

Vergleiche S. 73 in diesem Buch.

[8]

Alex Steiner, »From Alienation to Revolution«, auf: Permanent Revolution, http://permanent-revolution.org/essays/alienation_revolution.pdf, aufgerufen am 11.11.2015. (Der Text ist vom Mai 1997 datiert, aber es handelt sich um eine stark überarbeitete Version, die erst Anfang 1999 fertiggestellt wurde).

[9]

Karl Marx, »Thesen über Feuerbach«, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1973, S. 6.

[10]

Karl Marx, Friedrich Engels, »Die deutsche Ideologie«, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1973, S. 262.

[11]

Karl Marx, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie«, in: MEW, Bd. 42, Berlin 1983, S. 95.

[12]

David North, »Nach der Schlächterei: Politische Lehren aus dem Balkankrieg«, auf: World Socialist Web Site, 16.6.1999, http://www.wsws.org/de/1999/jun1999/bila-j16.shtml, aufgerufen am 11.10.2015.

[13]

Die offensichtliche Veränderung der politischen Beziehung Steiners zum Internationalen Komitee und seine Fehldarstellung seiner früheren Verbindungen zur SEP erfordern nun, dass ich diesen und andere Briefe der Öffentlichkeit zugänglich mache.

[14]

Friedrich Engels, »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in: MEW, Bd. 31, Berlin 1987, S. 274–275.

[15]

Alex Steiner, »Marxism, Pragmatism and Revisionism«, in: Fourth International, London, Herbst 1975, S. 109 (aus dem Englischen).

[16]

David North, Alex Steiner, »The Fourth International and the Renegade Wohlforth«, in: Cliff Slaughter (Hrsg.), Trotskyism versus Revisionism, Bd. 7, London 1984, S. 93 (aus dem Englischen).

[17]

Leo Trotzki, »Attention to Theory!«, in: Problems of Everyday Life, New York 1979, S. 272 (aus dem Englischen).

[18]

Vergleichen wir diese Einschätzung vom Juni 1999 mit der jetzigen, bereits zitierten Behauptung von Steiner und Brenner: »Was in den Jahren zwischen 1993 und 1998 geschah, war ein Zurückweichen der Führung des Internationalen Komitees vor dem immensen Klassendruck der bürgerlichen Gesellschaft.« Dem Leser wird auch nicht entgangen sein, welch krasser Widerspruch zwischen der vorteilhaften Einschätzung der World Socialist Web Site und ihres revolutionären Potenzials im Jahr 1999 und der heutigen verächtlichen Haltung besteht.

[19]

Leo Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 85.

[20]

ICFI, »In Defence of Trotskyism«, in: Cliff Slaughter (Hrsg.), Trotskyism versus Revisionism, Bd. 6, London 1975, S. 191 (aus dem Englischen).

[21]

Sowohl in »Objektivismus oder Marxismus« als auch in »Marxismus ohne Kopf oder Herz« (MWHH) gibt Steiner fälschlicherweise 1998 als Jahr seines Mitgliedschaftsantrags an. In einem Nachtrag zu MWHH vom 5. April 2008 wiederholt er diesen Fehler. Es ist nicht ganz klar, warum Steiner das Datum mehrmals um ein Jahr falsch angibt, obwohl anzunehmen ist, dass er Kopien seiner Korrespondenz mit der SEP und mit mir besitzt. Es ist aber bemerkenswert, dass er wiederholt behauptet – zuletzt in dem Nachtrag vom April 2008 –, er habe seinen Antrag gestellt, bevor Differenzen über philosophische Fragen aufgekommen seien. Die Unterlagen zeigen dagegen, dass Steiner erst um Mitgliedschaft ersuchte, nachdem er in seinem Brief vom 25. Juni 1999 bedeutende Differenzen geäußert hatte. Der Schluss liegt nahe, dass er das Jahr seines Antrags ge­ändert hat, weil es so besser in sein gegenwärtiges politisches Narrativ passt.

[22]

Es stimmt zwar, dass die Black Panther Party »Amerika« als faschistischen Staat bezeichnete. Doch die Reden und Schriften Herbert Marcuses spielten eine viel wichtigere Rolle, dieser verwirrten »Theorie« intellektuelle Glaubhaftigkeit zu verleihen. Während Steiner an der New School studierte, hielt Marcuse dort eine Vorlesung, in der er behauptete, »die Konfiguration politischer und psychologischer Bedingungen« weise in Amerika »auf das Vorhandensein eines protofaschistischen Syndroms in der gesamten Bevölkerung hin«. (Herbert Marcuse, Counter-Revolution and Revolt, Boston 1972, S. 25, aus dem Englischen)

[23]

Man muss diese Worte, mit denen sich Steiner daran erinnert, welchen Einfluss »mehrere Wochen der Lektüre, der Besuch von Vorträgen und viele, viele Stunden Diskussion« auf seine eigene Entwicklung hatten, mit seiner heutigen verächtlichen Ablehnung der Bemühungen der SEP vergleichen, Arbeiter zu erziehen: »Wie soll ein Arbeiter zu einem Verständnis der historischen Rolle der Gewerkschaften gelangen?« fragt er sarkastisch. »Vermutlich dadurch, dass er die WSWS liest oder zu einem Vortrag der Partei geht. … Diese sterile Form von Propaganda ist den Traditionen des Trotzkismus völlig fremd.« (MWHH). Mit anderen Worten: Vorträge, Lektüre und Diskussionen sind ausschließlich für Intellektuelle bestimmt.

[24]

In Steiners Beisein führte ich also die Degeneration der Zweiten Internationale auf die objektiven gesellschaftlichen und politischen Umstände zurück. Damals erhob er keinen Einwand.

[25]

Leo Trotzki, »Attention to Theory!«, in: Problems of Everyday Life, New York 1979, S. 272 (aus dem Englischen).

[26]

Weder in »Objektivismus oder Marxismus« noch in MWHH erwähnen Steiner und Brenner das Treffen vom Februar 2000 und dass Steiner daran teilgenommen hatte.

[27]

Alex Steiner, »Der Fall Martin Heidegger. Philosoph und Nazi«, auf: World Socialist Web Site, 2.5.2000, http://www.wsws.org/de/2000/mai2000/hei3-m02.shtml, aufgerufen am 12.11.2015.

[28]

Ebd.

[29]

Steiner und Brenner haben diesen Vortrag nicht auf ihrer Website veröffentlicht.

[30]

Die Hermetik bezeichnet eine in der Antike wurzelnde religiöse Offenbarungs- und Geheimlehre, deren Name auf die sagenhafte Gestalt des Hermes Trismegistos, eine Verschmelzung des griechischen Gottes Hermes und des ägyptischen Gottes Thot zurückgeht. (Der Übers.)

[31]

Frances Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964, S. 355–356 (aus dem Englischen).

[32]

Maurice Finocchiaro, »Philosophy versus Religion and Science versus Religion«, in: Hilary Gatti (Hrsg.), Giordano Bruno. Philosopher of the Renaissance, Burlington 2002, S. 54.

[33]

Brian Vickers, »Frances Yates and the Writing of History«, in: The Journal of Modern History, Bd. 51, Nr. 2, Juni 1979, S. 301–302 (aus dem Englischen).

[34]

Ebd. S. 304 (aus dem Englischen).

[35]

Ebd. S. 315–316 (aus dem Englischen).

[36]

Ebd. S. 316 (aus dem Englischen).

[37]

Margaret C. Jacob, »Constructing, deconstructing and reconstructing the History of Science«, in: The Journal of British Studies, Bd. 36, Nr. 4, Oktober 1997, S. 459 (aus dem Englischen, Hervorhebung hinzugefügt).

[38]

Margaret C. Jacob, »Thinking Unfashionable Thoughts, Asking Unfashionable Questions«, in: The American Historical Review, Bd. 105, Nr. 2, April 2000, S. 497 (aus dem Englischen).

[39]

Die inzwischen verstorbene Betty Jo Dobbs schrieb gemeinsam mit Margaret C. Jacob das Buch Newton and the Culture of Newtonianism.

[40]

William Newman, in: Isis, Bd. 84, Nr. 3, September 1993, S. 578 (aus dem Englischen).

[41]

In einem Überblick über diese Debatte berichtet Prof. H. Floris Cohen von Bedenken, Yates’ Thesen hätten die Ansicht gefördert, die Wissenschaft sei »lediglich eines unter einer Vielzahl möglicher Glaubenssysteme, von denen jedes seine eigenen Rationalitätsstandards hat oder nicht hat«. (H. Floris Cohen, The scientific revolution. A historical inquiry, Chicago 1994, S. 180, aus dem Englischen).

[42]

Ebd., S. 181 (aus dem Englischen).

[43]

Friedrich Engels, »Dialektik der Natur«, in: MEW Bd. 20, Berlin 1962, S. 456–457 (Hervorhebungen im Original).

[44]

Frances Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964, S. 448 (aus dem Englischen).

[45]

In Lenins Philosophischen Heften finden sich zahlreiche vernichtende Kommentare über derartige Ungenauigkeiten, so in den »Bemerkungen in W. Schuljatikows Buch«. Lenin reagiert gnadenlos auf Schuljatikows konfuse Formulierungen, besonders da, wo er sich mit dem Verhältnis von Materialismus und Idealismus beschäftigt. »Billige Erklärungen ohne Analyse des Wesens!« lautet ein typischer Kommentar. (Lenin Werke, Bd. 38, Berlin 1973, S. 508). Oder »Alles in einen Topf! Idealismus und Skeptizismus, alles ›entspricht‹ der Manufaktur! Einfach, sehr einfach ist Genosse Schuljatikow!« (ebd., S. 502). Andere Kommentare lauten »leeres Geschwätz« und »so ein Unsinn«.

[46]

Brenner war von 1972 bis 1979 Mitglied der Workers League. Nachdem Goldstein im März 1977 aus der Partei ausgetreten war, wurde Brenner Herausgeber des Bulletin. Im Januar 1979 wurde er gebeten, nach Detroit zu ziehen. Er verbrachte dort etwa eine Woche und ging dann überstürzt weg. Er erklärte nicht, warum er die Partei verließ, und kappte alle Verbindungen zur Workers League. Fast zwanzig Jahre lang sah ich Brenner danach nicht mehr. 1996 trafen wir uns sehr kurz in Toronto. Dies war meine letzte – und einzige – Diskussion mit ihm. Er zeigte kein Interesse, seine Mitgliedschaft in der SEP zu beantragen, steuerte aber einige Artikel zur WSWS bei.

[47]

In Marxism Without its Head or its Heart verurteilen Steiner und Brenner dagegen die Politik und die Aktivitäten der SEP in Bezug auf den Krieg in aggressiver Weise.

[48]

Hervorhebung hinzugefügt; »Aufhebung« im Original deutsch

[49]

Karl Marx, Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, S. 491.

[50]

Diese Vorlesungen sind offenbar nicht mehr verfügbar.

[51]

Tom Rockmore, Joseph Margolis and Armen T. Marsoobian (Hrsg.), The Philosophical Challenge of September 11, Malden MA, Oxford, Carlton Victoria 2005, S. 3 (aus dem Englischen). Rockmore vertritt ähnliche Standpunkte wie Steiner zur Geschichte des Marxismus, besonders zur Grundfrage von Materialismus und Idealismus. Er beharrt darauf, dass Marx Idealist und der materialistische Marxismus eine Erfindung von Engels war. Meine 2006 verfasste Kritik von Rockmores Anschauungen ist Teil dieses Buches. In MWHH verteidigt Steiner Rockmore.

[52]

Leo Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Berlin 1973, S. 70.