David North
Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken: Eine marxistische Kritik

Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein

Brief von David North an Alex Steiner und Frank Brenner, 28 June 2006

1. Einleitung

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) hat mich gebeten, in seinem Namen eine Antwort auf euer Dokument »Objektivismus oder Marxismus« zu verfassen. Ich bedaure ein wenig, mich dieser Aufgabe annehmen zu müssen. Ungeachtet der unterschiedlichen Lebenswege, die wir während der vergangenen drei Jahrzehnte eingeschlagen haben, habe ich weiterhin angenehme Erinnerungen an die Zeit, in der wir gemeinsam innerhalb der Bewegung gearbeitet hatten. Doch das ist lange her, und eure jüngsten Dokumente bestätigen, was eure Schriften während der letzten dreißig Jahre mit wachsender Deutlichkeit zeigten: dass ihr ­politisch sehr weit vom Marxismus, dem Erbe der trotzkistischen Bewegung und dem IKVI abgerückt seid. Inhalt und Ton dieser Antwort müssen von dieser unausweichlichen politischen Realität ausgehen.

Euer Brief beginnt mit dem Vorwurf, das IKVI habe es versäumt, auf eure vorherigen Dokumente zu antworten. Daraus zieht ihr höchst beunruhigende Schlussfolgerungen: Das IKVI leide an einer »Abneigung gegen Kritik«, die »symptomatisch für tiefere Probleme innerhalb der Bewegung« sei, »über die jedes Mitglied und jeder Unterstützer des IK besorgt sein sollte«. Die Führung der Bewegung unterbinde die politische Debatte und versuche, »die Diskussion zu ersticken, um sich vor Kritik zu schützen«. Unser angebliches Unvermögen, auf eure Dokumente zu antworten, unterstreiche, »welch fremdartige Praxis eine wirklich kritische Debatte innerhalb der Bewegung abgelöst« habe.

Eure Schilderung muss bei einem uninformierten Beobachter den Eindruck erwecken, dass ihr für eine bedrängte oppositionelle Tendenz in einer diktatorischen politischen Partei sprecht, die gegen die Unterdrückung ihrer demokratischen Rechte durch ein bürokratisches Parteiregime und um Gehör bei der Mitgliedschaft kämpft. Wie ihr aber beide wisst, sieht die Wirklichkeit anders aus. Keiner von euch beiden ist Mitglied der Socialist Equality Party (SEP). Seit knapp 28 Jahren steht ihr außerhalb der Bewegung.[1] Das will etwas heißen. Ihr bezieht euch auf eure »lange Geschichte mit der Bewegung« – eine bewusst zweideutige Formulierung. Es gibt einen Unterschied zwischen »mit« und »in«. Den größten Teil eures Erwachsenenlebens seid ihr nicht Mitglieder der Partei gewesen. Die bloße Tatsache, dass ihr freundschaftliche Beziehungen zur Bewegung aufrechterhalten habt, verpflichtet uns nicht, auf eure Dokumente so zu antworten, wie wir es bei Mitgliedern der SEP oder anderer Sektionen des IKVI tun würden.

Niemand im IKVI hält euch davon ab, die Politik oder das Programm unserer Bewegung zu kritisieren oder eure Schriften auf eurer eigenen Website zu veröffentlichen, wo jedermann sie lesen kann (soweit ihr gewillt seid, eure Ablehnung des Internets als vollberechtigtes politisches Kommunikationsmedium zurückzustellen). Es steht euch frei, um die Unterstützung von Gleichgesinnten zu werben und öffentlich für eure Ansichten einzutreten. Das IKVI und die SEP haben ihrerseits das politische Recht, auf eure Dokumente zu antworten oder nicht zu antworten, ganz wie wir es für richtig halten. Wir sind nicht verpflichtet, euch ein Forum für eine Perspektive zu bieten, die sich gegen die Traditionen und das Programm der Vierten Internationale richtet. Wir beantworten eure öffentliche Kritik nicht, weil wir dazu »rechtmäßig« verpflichtet wären, sondern weil wir den tiefen und grundlegenden Gegensatz zwischen dem marxistischen Sozialismus und dem Pseudo-Utopismus – einer Form kleinbürgerlicher Ideologie – verdeutlichen wollen, den ihr, Genossen Steiner und Brenner, vertretet.

2. Das Internationale Komitee und die »World Socialist Web Site«

Obwohl ihr seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr Mitglieder unserer politischen Bewegung seid und ihr Innenleben nicht kennt, erhebt ihr weitreichende Beschuldigungen gegen das Internationale Komitee. Ihr behauptet, es gebe »einen erschreckenden Mangel organisierter theoretischer oder politischer Diskussion innerhalb der Bewegung«. Worauf gründet sich diese Behauptung? Abgesehen von eurem Missfallen darüber, wie wir eure Dokumente behandelt haben – wie hat sich dieser theoretische und politische Niedergang in unserer politischen Linie niedergeschlagen? Diese Frage sprecht ihr nicht an. Selbst wenn man die Möglichkeit einräumt, dass das IKVI euren Dokumenten nicht die verdiente Aufmerksamkeit geschenkt habe, wäre dies kein Irrtum von welthistorischer Bedeutung. Ihr müsst immer noch nachweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen eurer Beschwerde und ernsthafteren politischen Problemen gibt, die mit internationalen Ereignissen außerhalb von euch selbst verbunden sind. Es reicht nicht aus, eine solche Verbindung zu behaupten, ihr müsst sie nachweisen. In der Geschichte der marxistischen Bewegung geschah dies bislang immer mittels einer sorgfältigen und erschöpfenden Analyse der politischen Linie der kritisierten Organisation.

Wärt ihr in dieser theoretisch prinzipiellen Weise vorgegangen, hätte es nicht an Material gemangelt, auf das ihr euch hättet beziehen können. In den vergangenen zwanzig Jahren haben kolossale Veränderungen stattgefunden: Auf dem Gebiet der Technologie, der Struktur des Weltkapitalismus, der Beziehung des Nationalstaats zur globalen Wirtschaft und – nicht zu vergessen – auf der globalen politischen Landkarte. Vor zwanzig Jahren gedruckte Weltkarten sind heute wertlos. All diese miteinander verbundenen technologischen, wirtschaftlichen und politischen Prozesse hatten weitreichenden Einfluss auf den internationalen Klassenkampf. Die Reaktion des Internationalen Komitees auf diese historischen Veränderungen würde leicht Dutzende Bände füllen.

Doch nirgendwo in eurem Dokument findet sich eine Bezugnahme auf die politische Linie des IKVI, geschweige denn eine Analyse derselben. Man findet noch nicht einmal die Worte »Irakkrieg«, »Bush-Adminis­tration«, »11. September«, »China«, »Afghanistan«, »Iran«, »Terror« oder »Globalisierung«. Das sind keine Flüchtigkeitsfehler. Ihr habt schlicht kein Interesse an politischen Analysen und Perspektiven – zumindest nicht in dem Sinne, wie sie in der Geschichte der Vierten Internationalen bisher verstanden worden sind. Im Gegenteil: Ihr seid der Meinung, die Konzentration des Internationalen Komitees auf marxistische politische Analysen und Kommentare sei selbst ein fundamentaler Fehler. Ihr weist die Auffassung, dass solche auf der Grundlage des historischen Materialismus erstellten Analysen und Kommentare grundlegend oder wichtig für die Entwicklung sozialistischen Bewusstseins seien, mit Nachdruck zurück. Daher rührt eure Feindschaft gegen die »World Socialist Web Site«, die ihr als wichtigsten Ausdruck all dessen anseht, was im Internationalen Komitee falsch läuft.

Ihr schreibt: »Im Grunde hat das Internationale Komitee aufgehört zu funktionieren.« Worauf gründet sich diese Annahme? »Man kann sich kaum mehr an die letzte Gelegenheit erinnern, bei der das Internationale Komitee ein Treffen in seinem eigenen Namen abgehalten hat. Schon seit Jahren werden alle richtungsweisenden Stellungnahmen der Bewegung als Stellungnahmen der ›WSWS‹ veröffentlicht, und jetzt wird die Versammlung in Australien, die eindeutig eine internationale Konferenz der Bewegung war, nicht als Treffen einer revolutionären Partei dargestellt, sondern als Redaktionskonferenz einer Website.«

Damit nicht genug. Ihr fragt: »Gab es über die Umwandlung des IK in die ›WSWS‹ jemals eine Diskussion oder Abstimmung auf einer Parteikonferenz?« Und weiter: »Wo ist das Dokument, das der Arbeiterklasse öffentlich die Gründe für eine so wichtige Veränderung erklärt? Wie können die wiederholten Proklamationen des Internationalismus mit dem Einmotten des organisatorischen Ausdrucks des revolutionären Internationalismus in Einklang gebracht werden?«

Ihr sprecht von der »Umwandlung des IK in die ›WSWS‹«, als wäre die Gründung der Letzteren irgendwie unrechtmäßig oder unter der Hand vonstattengegangen. In dieser Hinsicht weist euer Angriff enge Parallelen zur Reaktion der Spartacist League auf die »World Socialist Web Site« auf.[2] Ihr behauptet aber nirgends, die Gründung der WSWS sei mit einer Veränderung der politischen Linie des Internationalen Komitees verbunden gewesen. Die »World Socialist Web Site« wird – wie ihre Kopfzeile ausdrücklich erklärt – vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale herausgegeben. Ihr mögt vielleicht Zweifel über die politische Verbindung zwischen dem IKVI und der »World Socialist Web Site« haben, für ihre Tausenden täglicher Leser ist sie dagegen kein Geheimnis. Hinzu kommt, dass die theoretische und programmatische Identität einer revolutionären Tendenz seit den Tagen von Marx‘ »Neuer Rheinischen Zeitung« gleichbedeutend mit dem Namen ihrer Publikation war. Das galt für die »Neue Zeit« der revolutionären deutschen Sozialdemokratie, die »Iskra«, »Wperiod« und »Prawda« der Leninisten, das »Bulletin« der antistalinistischen Opposition in der Sowjetunion, den »Militant« und später den »Socialist Appeal« der amerikanischen Trotzkisten der 1920er- und 1930er-Jahre, den »Newsletter« der britischen Trotzkisten, die in der Labour Party arbeiteten, und selbst für das »Bulletin« der Workers League. Wir haben keinen Anlass, uns darüber Sorgen zu machen, dass die »World Socialist Web Site« von Tausenden von Lesern als authentische Stimme des sozialistischen Internationalismus betrachtet wird.

Eure Behauptung, die WSWS sei irgendwie hinter dem Rücken des IKVI entstanden, ist offensichtlich absurd. Es gab eine öffentliche Erklärung über die Gründung der »World Socialist Web Site«, die ihr immer noch aufrufen könnt, falls ihr Interesse habt.[3] Und da ihr schon danach fragt: Vor der Gründung der WSWS gab es tatsächlich eine intensive Diskussion in jeder Sektion des IKVI, die sich über fast ein Jahr erstreckte. Wie anders wäre es möglich gewesen, den hohen Grad aktiver Unterstützung und Teilnahme durch den Kader der Partei sicherzustellen, der während der vergangenen achteinhalb Jahre die tägliche Publikation getragen hat? Seit der Gründung der WSWS im Januar 1998 hat eine internationale Redaktion mehr als 18 000 Artikel veröffentlicht. Diese Redaktion leitet die kollektive Arbeit eines stetig wachsenden Kaders marxistischer Autoren, die auf der Grundlage der Grundsätze, der Geschichte und der theoretischen Perspektiven des Internationalen Komitees gewonnen wurden. Theoretisch wie praktisch repräsentiert die WSWS damit einen Meilenstein in der Entwicklung des revolutionären Internationalismus. Dass ihr es fertig bringt, vom »Einmotten des organisatorischen Ausdrucks des revolutionären Internationalismus« zu sprechen, während das IKVI eine tägliche Website in dreizehn Sprachen herausgibt, zeigt eure politische Blindheit, die durch euren persönlichen Subjektivismus zusätzlich verstärkt wird. Die WSWS erscheint in englischer, französischer, deutscher, italienischer, spanischer, portugiesischer, russischer, polnischer, serbokroatischer, türkischer, singhalesischer, tamilischer und indonesischer Sprache. Wenn das in euren Augen »im Grunde« das Ende des Internationalen Komitees bedeutet, kann man nur fragen, was ihr dann für echte internationale Arbeit haltet. Vor drei Jahrzehnten, als ihr noch Mitglieder der Bewegung wart, beschränkte sich das Innenleben des IKVI weitgehend auf gelegentliche Besuche von Vertretern der Sektionen oder befreundeten Organisationen in den Büros der Workers Revolutionary Party in London. Cliff Slaughter, dem Namen nach Sekretär des IKVI, hielt keinen regelmäßigen Kontakt zum internationalen Kader. Es gab keine systematische Diskussion, geschweige denn Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Per­spektiven des Internationalen Komitees. Da eure Auffassung von Internationalismus in der Zeit der extremen Degeneration von Healys Organisation geprägt wurde, ist es für euch ganz einfach unbegreiflich, was die Arbeit in einer Bewegung bedeutet, deren tägliche politische Aktivität die allerengste internationale Zusammenarbeit mit sich bringt.

3. Die internationale Redaktion und die Perspektiven des IKVI

Im vergangenen Jahr betreute das Internationale Komitee zwei bedeutende theoretische und politische Projekte: Zuerst die Vortragsreihe zum Thema »Marxismus, die Oktoberrevolution und die historischen Grundlagen der Vierten Internationale«, die vom 14. bis 20. August 2005 in Ann Arbor, Michigan stattfand; und dann das Treffen der internationalen Redaktion der »World Socialist Web Site« in Sydney vom 22. bis 27. Januar 2006. Eure Reaktion auf diese beiden Ereignisse entlarvt schonungslos eure Preisgabe des Marxismus und eure Feindschaft gegen die politischen Ziele und Traditionen der trotzkistischen Bewegung.

Wir sind allerdings nicht überrascht, dass ihr über die Berichte und Vorträge verärgert seid, die während dieser Veranstaltungen gehalten wurden. Trotz eures offiziellen »Protests« gegen das angebliche Unvermögen des Internationalen Komitees, auf eure Dokumente zu antworten, ist euch nicht entgangen, dass die dort erarbeiteten theoretischen Auffassungen und Perspektiven eure Bemühungen unmissverständlich zurückweisen, den verwirrten und antimarxistischen Pseudo-Utopismus Wilhelm Reichs, Ernst Blochs und Herbert Marcuses in die Vierte Internationale einzuschleusen und damit die theoretischen und programmatischen Grundlagen und die Klassenorientierung der trotzkistischen Bewegung grundlegend zu verändern. Das meint ihr, wenn ihr schreibt, »der Inhalt der Vorträge und Berichte, die von dieser Versammlung veröffentlicht wurden«, signalisierten keine »neue Offenheit für eine kritische Debatte«.

Über die Berichte, die auf dem Redaktionstreffen gegeben wurden, bemerkt ihr, sie seien »mehr die Vortäuschung eines Perspektivdokuments als eine wirkliche Perspektive: Sie sind weniger eine Anleitung zum revolutionären Handeln, als eine Version von ›Foreign Affairs‹ mit marxistischer Einfärbung. Sie sind in der Tat Berichte einer Redaktion – d. h. Per­spektiven für mehr Journalismus. Die Frage, was zu tun ist, taucht in ihnen kaum auf, abgesehen von den rituellen Schlusserklärungen über die Notwendigkeit, die revolutionäre Partei aufzubauen. Anders ausgedrückt, das Wesentliche einer revolutionären Perspektive fehlt in diesen Berichten, doch genau darüber weigert sich das IK zu diskutieren.«

Das ist auch schon alles, was ihr zu sagen habt. Ihr analysiert das Material nicht, das vorgestellt wurde. Zusammengenommen ergaben diese Berichte die umfassendste Untersuchung der weltpolitischen Lage, die seit seiner Gründung im Jahre 1953 auf einem Treffen des Internationalen Komitees vorgelegt worden ist. Eure Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Inhalt ist der Schlüssel zum Verständnis eurer eigenen politischen Ziele und eures Klassenstandpunkts.

Betrachten wir also den Inhalt des internationalen Redaktionstreffens, den ihr so verächtlich als »Vortäuschung eines Perspektivdokuments« verleumdet. In Wirklichkeit lehnt ihr die Bemühungen des Internationalen Komitees ab, auf der Grundlage einer umfassenden und zusammenhängenden Analyse der politischen und wirtschaftlichen Weltlage die objektiven Voraussetzungen für die Perspektive der sozialistischen Revolution aufzuzeigen. Wie die internationale Redaktion bei der Entwicklung internationaler revolutionärer Perspektiven vorgeht, wird am besten verständlich, wenn ich einen längeren Abschnitt aus meinem einleitenden Bericht zitiere:

Jeder ernsthafte Versuch einer politischen Prognose und einer Einschätzung des Potenzials, das die bestehende politische Situation in sich birgt, muss von einem präzisen und sorgfältigen Verständnis der historischen Entwicklung des globalen kapitalistischen Systems ausgehen.

Die Analyse der historischen Entwicklung des Kapitalismus muss die folgende wesentliche Frage beantworten: Befindet sich der Kapitalismus als Weltwirtschaftssystem in einer Aufwärtsbewegung, die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, oder befindet er sich im Niedergang und steht vielleicht sogar kurz vor dem Abgrund?

Die Antwort, die wir auf diese Frage geben, hat notgedrungen äußerst weitreichende Konsequenzen, und zwar nicht nur für die Bestimmung unserer praktischen Aufgaben, sondern ebenso für die gesamte theoretische und programmatische Orientierung unserer Bewegung. Nicht der subjektive Wunsch nach sozialer Revolution bestimmt unsere Analyse der historischen Bedingungen des globalen kapitalistischen Systems. Vielmehr muss sich die revolutionäre Perspektive auf eine wissenschaftlich begründete Einschätzung der objektiven Tendenzen der sozioökonomischen Entwicklung gründen. Getrennt von den notwendigen, objektiven sozioökonomischen Voraussetzungen kann eine revolutionäre Perspektive nichts weiter als ein utopisches Kon­strukt sein.

Wie verstehen wir demnach die gegenwärtige Phase der historischen Entwicklung des Kapitalismus? Betrachten wir zwei entgegengesetzte Konzeptionen. Der marxistische Standpunkt lautet, wie wir wissen, dass sich das kapitalistische Weltsystem im Stadium der fortgeschrittenen Krise befindet – dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914, auf den 1917 die Russische Revolution folgte, einen grundlegenden Wendepunkt der Weltgeschichte darstellte. Die Erschütterungen in den drei Jahrzehnten zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 zeigten, dass der Kapitalismus keine fortschrittliche historische Aufgabe mehr zu erfüllen hatte und dass die objektiven Voraussetzungen für eine sozialistische Umwandlung der Weltwirtschaft gegeben waren. Dass der Kapitalismus die Krise jener Jahrzehnte überlebte, war zu einem sehr großen Teil auf das Scheitern und den Verrat der Führung der Massenparteien und -organisationen der Arbeiterklasse zurückzuführen, allen voran der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften. Ohne ihren Verrat wäre die erneute Stabilisierung des Weltkapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg – die vor allem auf den damals noch beträchtlichen Ressourcen der Vereinigten Staaten beruhte – nicht möglich gewesen. Tatsächlich existierte nach dem Krieg trotz der Stabilisierung weiterhin weltweit eine antikapitalistische und antiimperialistische Opposition der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen in den ehemaligen Kolonialgebieten, doch ihr revolutionäres Potenzial wurde von den alten bürokratischen Organisationen unterdrückt.

Schließlich machten der Verrat und die Niederlagen der Massenkämpfe der 1960er- und 1970er-Jahre den Weg für eine kapitalistische Gegenoffensive frei. Die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen, die die beispiellose globale Integration des kapitalistischen Systems ermöglichten, zerstörten die alten Arbeiterorganisationen, die eine nationale Perspektive und Politik vertraten. Der Zusammenbruch der stalinistischen Regime in der Sowjetunion und in Osteuropa, die sich auf ein bankrottes, antimarxistisches Programm des nationalistischen Pseudo­sozialismus stützten, war das Ergebnis dieses Prozesses.

Trotz der schnellen flächenmäßigen Ausdehnung des Kapitalismus in den 1990er-Jahren dauert die historische Krise an und hat sich verschärft. Der Verlauf der Globalisierung, die sich für die alten Arbeiterorganisationen als tödlich erwies, hat auch den Widerspruch zwischen dem global integrierten Charakter des Kapitalismus als Weltwirtschaftssystem und der Nationalstaatenstruktur, in der der Kapitalismus historisch entstanden ist und der er nicht entkommen kann, in bislang ungekanntem Maße verschärft. Der seinem Wesen nach unlösbare Charakter dieses Widerspruchs – oder zumindest seine »Unlösbarkeit« auf fortschrittlicher Grundlage – äußert sich jeden Tag in der wachsenden Unordnung und Gewalt, die die gegenwärtige Weltlage kennzeichnet. Eine neue Periode revolutionärer Umbrüche hat begonnen. Das ist in Kürze die marxistische Analyse.

Was ist die alternative Perspektive? Betrachten wir die folgende Gegenhypothese:

Was die Marxisten, um Leo Trotzkis blumigen Ausdruck zu benutzen, den »Todeskampf des Kapitalismus« nannten, war in Wirklichkeit Teil seiner gewalttätigen und langwierigen Geburtswehen. Die verschiedenen sozialistischen und revolutionären Experimente des zwanzigsten Jahrhunderts waren nicht nur verfrüht, sondern vor allem auch utopisch. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts sollte als die Geschichte des Kapitalismus aufgefasst werden, der alle Hindernisse überwand, sodass schließlich der Markt als das überlegene System der wirtschaftlichen Organisation triumphierte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Hinwendung Chinas zur Marktpolitik markieren die Höhepunkte dieser Entwicklung. In diesem Jahrzehnt, und mit großer Wahrscheinlichkeit auch im kommenden, werden wir die rasche Ausdehnung des Kapitalismus in ganz Asien erleben. Das wichtigste Element dieses Prozesses wird die Entwicklung Chinas und Indiens zu reifen und stabilen kapitalistischen Weltmächten sein.

Ist diese Hypothese korrekt, dann können wir weiterhin annehmen, dass der Kapitalismus in etwa zwanzig Jahren (in Übereinstimmung mit dem Paradigma von W. W. Rostow[4]) in Afrika und dem Nahen Osten sein »Takeoff«-Stadium erleben wird. Länder wie Nigeria, Angola, Südafrika, Ägypten, Marokko und Algerien (und/ oder vielleicht auch andere) werden ein explosives Wirtschaftswachstum erfahren. So wird sich im nächsten halben Jahrhundert der globale Triumph des Kapitalismus vollenden und für immer feststehen. Vielleicht geschieht dies sogar bis 2047, wenn Akademiker auf die Veröffentlichung des »Kommunistischen Manifests« durch Karl Marx und Friedrich Engels vor 200 Jahren zurückblicken werden.

Bietet diese Hypothese eine realistische Grundlage, um gegenwärtige globale Prozesse zu verstehen? Wenn sie es täte, bliebe kaum etwas von der revolutionären marxistischen Perspektive übrig. Wir müssten deshalb nicht aufhören, uns um die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu sorgen. Es gäbe weiterhin kein Mangel an Dingen, um die man sich sorgen müsste. Wir würden versuchen, ein Programm mit Minimalforderungen zu formulieren, um die Lebensbedingungen der Armen und Ausgebeuteten weltweit zu verbessern. Dies wäre jedoch zumindest teilweise ein Akt sozialer Philanthropie. Denn ehemalige Marxisten wären gezwungen, zumindest für die absehbare Zukunft den utopischen Charakter des revolutionären Projekts anzuerkennen. Und sie wären gezwungen, ihr Verständnis der Vergangenheit einer umfassenden Revision zu unterziehen.

Doch ist diese Hypothese eines globalen Triumphes des Kapitalismus realistisch? Ist es angesichts aller vorausgegangenen historischen Erfahrungen vernünftig, sich eine Konstellation von Bedingungen vorzustellen, die es dem internationalen kapitalistischen System ermöglicht, die zahlreichen potenziell explosiven Probleme zu lösen oder doch zumindest in den Griff zu bekommen, die bereits am ökonomischen und ­politischen Horizont sichtbar sind, noch bevor sie die herrschende Weltordnung in ihrer Existenz bedrohen?

Halten wir es für wahrscheinlich, dass geopolitische und wirtschaftliche Konflikte zwischen den Großmächten im Rahmen des imperialistischen Systems auf der Grundlage von Verhandlungen und multilateralen Abkommen gelöst werden, bevor die Auseinandersetzungen einen Punkt erreichen oder gar überschreiten, an dem sie die internationale Politik nachhaltig aus dem Gleichgewicht werfen?

Ist zu vermuten, dass Auseinandersetzungen über den Zugang zu ökonomisch wichtigen Rohstoffen (vor allem, aber nicht nur, zu Öl und Erdgas) und über deren Kontrolle ohne gewalttätige Konflikte gelöst werden können?

Werden die unzähligen Kämpfe um regionalen Einfluss (wie beispielsweise zwischen China und Japan oder China und Indien um die Vorherrschaft in Asien) ohne den Rückgriff auf Waffen zu klären sein?

Ist es wahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten weiterhin Leistungsbilanzdefizite in Billionenhöhe anhäufen können, ohne dadurch die Weltwirtschaft völlig zu destabilisieren? Und kann die Weltwirtschaft ohne erhebliche finanzielle Turbulenzen die Folgen einer größeren Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten verkraften?

Werden die Vereinigten Staaten bereit sein, ihre hegemonialen Ansprüche aufzugeben und eine gleichmäßigere Verteilung der globalen Macht unter den Staaten akzeptieren? Werden sie bereit sein, auf der Grundlage von Kompromissen und Zugeständnissen Boden an ihre wirtschaftlichen und potenziell auch militärischen Rivalen abzutreten, sei es in Europa oder in Asien? Werden sich die Vereinigten Staaten großzügig und friedlich mit dem wachsenden Einfluss Chinas abfinden?

Und was die soziale Frage betrifft: Wird das rasante Anwachsen der sozialen Ungleichheit in ganz Nordamerika, Europa und Asien weiter anhalten, ohne erhebliche und gewaltsame soziale Konflikte auszulösen? Lässt sich aus der politischen und sozialen Geschichte der Vereinigten Staaten ableiten, dass die amerikanische Arbeiterklasse für weitere Jahre und Jahrzehnte ohne erheblichen und erbitterten Protest die anhaltende Abwärtsspirale bei den Löhnen und Lebensbedingungen hinnehmen wird?

Solche Fragen müssen beantwortet werden, bevor man zu der Schlussfolgerung gelangen kann, der Weltkapitalismus sei in ein neues goldenes Zeitalter der Ausdehnung und Stabilität eingetreten. Wer alle oben gestellten Fragen bejaht, geht eine riskante Wette gegen die Lehren der Geschichte ein.

Abschließend legte ich kurz die analytische Methode dar, derer sich die Internationale Redaktion bedient:

Die Hauptaufgabe, der wir uns in der kommenden Woche widmen, besteht darin, die wichtigsten Bestandteile der sich rasch entwickelnden Krise des weltweiten kapitalistischen Systems zu umreißen.

Lenin schrieb im Jahre 1914: »Spaltung des Einheitlichen und Erkenntnis seiner widersprechenden Bestandteile … ist das Wesen (eine der ›Wesenheiten‹, eine der grundlegenden, wenn nicht die grundlegende Besonderheit oder Seite) der Dialektik.« Gemäß dieser theoretischen Herangehensweise werden die Berichte, die wir hören, die Entwicklung der globalen Krise von verschiedenen Seiten und Blickwinkeln aus beleuchten.[5]

Auf meine einleitenden Bemerkungen folgten:

1. Nick Beams’ Bericht über den Zustand der kapitalistischen Weltwirtschaft, der die gegenwärtige Konjunkturlage vor dem Hintergrund der entscheidenden und komplexen Rolle untersuchte, welche die Vereinigten Staaten während des zwanzigsten Jahrhunderts im globalen System gespielt hatten.

2. James Cogans Analyse der »Konsequenzen des US-Kriegs gegen den Irak«.

3. Barry Greys Bericht über »Die Bush-Administration und den Niedergang des Weltkapitalismus«.

4. Patrick Martins Untersuchung zu »Die soziale und politische Krise der USA und die Wahlkampagne der SEP 2006«.

5. John Chans Studie über »Die Bedeutung Chinas für den Weltsozialismus«.

6. Ulrich Ripperts Bericht über »Die Sackgasse des europäischen Kapitalismus und die Aufgaben der Arbeiterklasse«.

7. Julie Hylands Beitrag über »New Labour und der Niedergang der britischen Demokratie«.

8. Bill Van Aukens Bericht über die »Perspektiven für Lateinamerika«.

9. David Walshs Einschätzung über »Künstlerische Probleme in der gegenwärtigen Situation«.

10. Richard Hoffmans Analyse »Demokratische Rechte und die Angriffe auf verfassungsmäßige Rechte«.

11. Wije Dijas’ Bericht über »Südasien und der politische Bankrott des bürgerlichen Nationalismus und Stalinismus«.

12. Richard Tylers Untersuchung zu »Afrika und die Perspektive des internationalen Sozialismus«.

13. Jean Shaouls Analyse »Das zionistische Projekt und sein Ergebnis: eine wirtschaftliche, soziale und politische Katastrophe«.

Ihr habt zu keinem dieser Vorträge etwas zu sagen. Auf die Frage, die ich im einleitenden Bericht der Konferenz gestellt hatte, gebt ihr keine Antwort. Ihr sagt auch nicht, ob ihr den Analysen der Referenten zustimmt oder nicht. Genosse Nick Beams gab eine umfassende Übersicht über die Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft. Dabei legte er das Schwergewicht auf das Ungleichgewicht im internationalen System, das weitreichende Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den imperialistischen Mächten und auf den internationalen Klassenkampf hat. Diese Analyse ist eine wichtige Grundlage der Perspektive des IKVI. Was ist der Grund für euer Schweigen über diesen Bericht?

Genosse Cogans Bericht widmete sich dem derzeit bedeutendsten internationalen Ereignis: Der amerikanischen Besetzung des Irak. Euer Dokument erwähnt diesen Bericht nicht und geht nicht auf die Kriegsfrage ein. Stimmt ihr Cogans Analyse zu oder lehnt ihr sie ab?

Ginge ich die Liste der Vorträge weiter durch, stellte sich dieselbe Frage jedes Mal: Weshalb sprecht ihr keinen Aspekt der politischen Analysen konkret an, die das IKVI in seinen ausführlichen Berichten vorgelegt hat? Euer Stillschweigen lässt sich nicht durch bloße Gleichgültigkeit erklären. Dahinter verbirgt sich die völlige Ablehnung von Perspektiven, wie sie Marxisten verstehen, die bemüht sind, die revolutionäre Praxis auf eine möglichst korrekte und präzise Analyse der objektiven Welt zu stützen. Für euch ist das schlichte Zeitverschwendung. Ihr glaubt nicht, dass Vorträge, wie sie auf der Redaktionskonferenz gehalten wurden, zur Entwicklung von dem beitragen, was ihr für »sozialistisches Bewusstsein« haltet. Wie wir später genauer erklären werden, unterscheidet sich euer Verständnis dieses Begriffs vollständig von der Auffassung revolutionären Bewusstseins, wie sie die Arbeit der besten Vertreter des Marxismus inspirierte.

Ihr wollt, dass sich das Internationale Komitee nicht vorrangig mit ­Politik und Geschichte beschäftigt, sondern mit Psychologie und Sex, wie sie insbesondere in den Werken Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses dargelegt werden. Diese Themen bilden für euch die Grundlage für die Entwicklung von »sozialistischem Bewusstsein« und »sozialistischem Idealismus«. Deshalb lässt euch die vom Internationalen Komitee geleistete Arbeit völlig kalt. Sein Bemühen, eine internationale revolutionäre Perspektive zu erarbeiten, die sich auf die Untersuchung der historisch entwickelten sozio-ökonomischen und politischen Widersprüche des Kapitalismus als Weltsystem stützt, geht auf eine politische Tradition des Marxismus zurück, die euch völlig fremd geworden ist.

4. Dialektik, Pragmatismus und die theoretische Arbeit des IKVI

Euer Umgang mit dem zweiten großen theoretischen Projekt des Internationalen Komitees, den im vergangenen Sommer in Ann Arbor gehaltenen Vorträgen, ist ein Hohn. Auch hier bemüht ihr euch nicht um eine ernsthafte und objektive Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Von den neun während der Sommerschule gehaltenen Vorträgen ignoriert ihr fünf. Aus den vier Vorträgen, die ich gehalten habe, zitiert ihr keinen einzigen vollständigen Satz. Eure Angriffe beruhen in der Regel auf Verzerrungen, groben Vereinfachungen und Verfälschungen der von mir vertretenen Standpunkte. Man kann daraus nur schließen, dass ihr für ein Publikum schreibt, von dem ihr annehmt, es habe die Vorträge nicht gelesen oder kein Interesse, sie zu lesen.

Eure Kritik der Sommerschule beginnt mit folgender Aussage:

Die Dialektik ist für das Internationale Komitee zum toten Buchstaben geworden. Zwanzig Jahre lang hat die Bewegung keinen einzigen Artikel zur dialektischen Philosophie veröffentlicht, und auf der Sommerschule war ihr kein Vortrag gewidmet. Wie vorauszusehen, ist mit der Dialektik auch der Kampf gegen den Pragmatismus aufgegeben worden, der in keinem der Vorträge auch nur ein einziges Mal erwähnt wurde. Bezeichnend für das Verschwinden des Pragmatismus aus den Anschauungen des IK ist die Tatsache, dass Richard Rorty zwar in einem Vortrag als repräsentativer Postmodernist besprochen, seine Rolle als prominenter philosophischer Pragmatiker dagegen völlig ignoriert wird. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Kampf gegen den Pragmatismus im Internationalen Komitee einmal als wichtigstes Element der Ausbildung einer bewussten revolutionären Führung angesehen wurde.

Was für eine verlogene Argumentation! Ihr beweist den Tod der Dialektik im IKVI und die Aufgabe des Kampfs gegen den Pragmatismus damit, dass wir uns auf Richard Rortys Rolle als führender Vertreter der Postmoderne statt auf seine Rolle als Pragmatiker konzentrieren. Was soll dieser Unsinn? Glaubt ihr ernsthaft, niemand unter den Zuhörern habe gewusst, dass Amerikas meist gefeierter Philosoph ein Pragmatiker sei? Oder ihnen sei nicht bekannt gewesen, dass die Postmoderne eine der Hauptströmungen der zeitgenössischen pragmatischen Philosophie darstellt? Meine Auseinandersetzung mit Rorty, die sich über mehrere Seiten erstreckt, konzentrierte sich auf die beiden theoretischen Fragen, die im Zentrum des Kampfs gegen den Pragmatismus stehen: 1. Rortys Ablehnung der Möglichkeit objektiven Wissens und des Begriffs der objektiven Wahrheit; und 2. seine vehemente Ablehnung der Auffassung, die Geschichte sei ein objektiver und gesetzmäßiger Prozess, aus dem Lehren gezogen werden können. Im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit Rorty stellte ich fest:

… Er schlägt vor, das Ergebnis von 200 Jahren sozialen Denkens aus der Diskussion zu verbannen. Diesem Vorschlag liegt die Auffassung zugrunde, die Entwicklung des Denkens sei selbst ein rein willkürlicher und weitgehend subjektiver Prozess. Worte, theoretische Begriffe, logische Kategorien und philosophische Systeme sind lediglich verbale Konstrukte, pragmatisch heraufbeschworen im Interesse verschiedener subjektiver Ziele. Die Behauptung, die Entwicklung theoretischen Denkens sei ein objektiver Prozess, ein Ausdruck des sich herausbildenden, sich vertiefenden und ewig komplexer und präziser werdenden Verständnisses von Natur und Gesellschaft durch den Menschen – ist für Rorty nichts als ein alter hegelianisch-marxistischer Zopf.[6]

Erklärt das, Genossen Steiner und Brenner, nicht präzise und korrekt den Hauptkonflikt zwischen Marxismus und Pragmatismus?

Soweit euer Angriff auf mein angebliches Versagen, mich mit dem Pragmatismus auseinanderzusetzen, die Dinge nicht nur aus fraktionellen Gründen verdreht und eigene theoretische Auffassungen zum Ausdruck bringt, ist eure beiläufige Behandlung der Frage der Postmoderne von Bedeutung. Ihr schreibt:

Die Annahme, die Postmoderne habe den Pragmatismus und den Empirismus als wichtigste ideologische Bedrohung des Marxismus abgelöst, ist zutiefst irrig. Die Postmoderne ist eine akademische Mode­erscheinung, die aufgrund der Rechtsentwicklung der Generation der Sechzigerjahre-Radikalen und des Übergangs vieler von ihnen in die obere Mittelklasse um sich griff. Der Pragmatismus und der Empirismus sind dagegen eng mit der gesamten geschichtlichen Entwicklung des westlichen Kapitalismus verbunden … Inzwischen ist die Postmoderne zudem eine schwindende Modeerscheinung. Viele ihrer wichtigsten Vertreter sind entweder gestorben oder befinden sich im Ruhestand. Die weiterhin Aktiven sind meist in der Defensive, da die Verurteilung der Postmoderne in radikalen und liberalen Kreisen mittlerweile zum Gemeinplatz geworden ist. Vor zwanzig Jahren wäre ein Angriff auf die Postmoderne von Bedeutung gewesen; heute dagegen ist es nur noch ein Herumreiten auf – zumindest beinahe – Vergangenem.

Das ist eine oberflächliche, impressionistische und unseriöse Auseinandersetzung mit philosophischen Strömungen. Erstens habe ich mit keinem Wort behauptet oder auch nur angedeutet, die Postmoderne habe den Pragmatismus ersetzt. Sie ist vielmehr eine Spielart pragmatischen Denkens, und zwar eine, die die subjektiv-idealistischen, voluntaristischen und irrationalen Elemente des klassischen Pragmatismus, die bis auf James zurückgehen, zu ihrer extremsten und reaktionärsten Schlussfolgerung treibt. Wenn man, wie ihr das tut, nahelegt, die Postmoderne stelle eine grundlegend andere theoretische Denkschule dar, ist das ein großes Zugeständnis an den Pragmatismus. Ihr schützt ihn damit vor der intellektuellen Verlegenheit über die groben Ausschweifungen seines postmodernen Sprösslings.

Mit der Beschreibung als »schwindende Modeerscheinung« bagatellisiert ihr eine philosophische Strömung, die den reaktionären Charakter und die tiefe Krise des bürgerlichen Denkens deutlich zum Ausdruck bringt. Für einen kleinbürgerlichen Akademiker, der von einer halbgaren Anschauung zur nächsten hüpft, mag die Postmoderne eine »Modeerscheinung« sein – besonders wenn er gerade dabei ist, auf den nächsten intellektuellen Zug aufzuspringen, ohne über seine letzte philosophische Eskapade Rechenschaft abzulegen. Aber Marxisten schätzen die Bedeutung philosophischer Trends nicht auf diese Weise ein. Wie sich die eine oder andere subjektiv-idealistische philosophische Strömung selbst nennt, ist für uns zweitrangig. Entscheidend ist vielmehr ihre Stellung in der Geschichte der Philosophie. Ihr schreibt korrekt, dass Pragmatismus und Empirismus »eng mit der gesamten geschichtlichen Entwicklung des westlichen Kapitalismus verbunden« sind. Aber gilt das nicht auch für die Postmoderne, die sich neben der Tradition des amerikanischen Pragmatismus auch auf andere, zutiefst reaktionäre philosophische Strömungen stützt? Gibt es in den Schriften der heutigen Vertreter der Postmoderne, einschließlich des Pragmatikers Rorty, nicht verstörende Anklänge an Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger?

5. Wie das IKVI den Pragmatismus bekämpft hat

Ihr behauptet, die Dialektik sei »für das Internationale Komitee zum toten Buchstaben geworden« und wir hätten den Kampf gegen den Pragmatismus aufgegeben. Ihr erklärt aber nicht, wie sich dies in der politischen Linie unserer Bewegung niedergeschlagen hat. Wir hätten, erklärt ihr uns, in den letzten zwanzig Jahren nicht einen einzigen Artikel über dialektische Philosophie veröffentlicht. Das ist im Übrigen nicht wahr.[7] Aber selbst wenn es wahr wäre, müsstet ihr aufzeigen, wie sich die Vernachlässigung der Dialektik über diese lange Zeitspanne hinweg auf die politischen Analysen und die Arbeit der Bewegung ausgewirkt hat. Mit irgendeiner Methode müssen wir ja gearbeitet haben. Wenn der Tod der Dialektik im Internationalen Komitee mit der Aufgabe des Kampfs gegen den Pragmatismus einherging, dann muss dieser die Arbeit unserer Bewegung dominiert haben. Ihr versucht aber gar nicht, diese Behauptung zu untermauern. In praktisch jedem eurer Dokumente führt ihr gebetsmühlenartig Trotzkis Aussage an, »dialektisches Training des Geistes« sei »so notwendig für einen revolutionären Kämpfer wie Fingerübungen für einen Pianisten«. Trotzki schrieb diese Worte mit der Autorität eines politischen Genies, dessen meisterhafte Beherrschung der dialektischen Methode sich in brillanten Analysen des Weltgeschehens zeigte. Aus eurer Feder klingen sie dagegen eher, als würde ein fauler Stubenhocker über die Bedeutung von Leibesübungen deklamieren.

Trotzki hat Burnham und Shachtman nicht nur drauf aufmerksam gemacht, dass die Dialektik wichtig sei. Er wies nach, wie sich Burnhams Pragmatismus und Shachtmans Gleichgültigkeit gegenüber der materialistischen Dialektik in ihren Analysen des Klassencharakters des Sowjetstaates und ihrer Weigerung, die UdSSR gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen, niederschlugen. Während der Auseinandersetzung, die in den Jahren 1939 und 1940 innerhalb der Socialist Workers Party stattfand, wurde die Frage der Dialektik nicht aufgeworfen, um politischen Fragen auszuweichen, sondern um sie zu klären. So schrieb Trotzki an Professor James Burnham: »… nicht ich, sondern Sie waren es, der die Frage nach dem Charakter der UdSSR aufwarf und mich dabei zwang, die Frage nach der Methode zu stellen, durch die der Klassencharakter eines Staates bestimmt wird.«[8] Und weiter erklärte er: »Die richtige Methode erleichtert es nicht nur, zu richtigen Schlussfolgerungen zu kommen, sondern sie festigt sie auch in unserem Gedächtnis, indem sie jede neue Schlussfolgerung mit den vorhergehenden in einer zusammenhängenden Kette verbindet. Wenn politische Schlussfolgerungen empirisch gewonnen werden, wenn Inkonsequenz als eine Art Vorteil hingestellt wird, dann wird das marxsche System der Politik stets durch Impressionismus ersetzt – in vieler Hinsicht charakteristisch für kleinbürgerliche Intellektuelle. Jede neue Wendung der Ereignisse überrascht den Empiristen-Impressionisten, zwingt ihn zu vergessen, was er selbst gestern geschrieben hat, und erzeugt einen brennenden Wunsch nach neuen Formeln, bevor neue Ideen in seinem Kopf entstanden sind.«[9]

Wenn Trotzkis Kritik der pragmatischen Methode nach wie vor Geltung hat, sollte es euch nicht schwerfallen, in der politischen Linie des IKVI der vergangenen zwei Jahrzehnte Ungereimtheiten und grobe Fehler nachzuweisen. Aber ihr legt keine derartige Analyse vor. Daraus lassen sich nur zwei mögliche Schlüsse ziehen: Entweder ist die Methode unwichtig, da sie keine wahrnehmbaren Auswirkungen auf die Formulierung einer politischen Linie hat; oder eure Behauptung, wir hätten die Dialektik aufgegeben und seien dem Pragmatismus erlegen, ist leeres Geschwätz. Unserer Meinung nach ist der zweite Schluss richtig.[10]

Euer Problem rührt daher, dass ihr das Verhältnis zwischen Methode und revolutionärer Politik nicht versteht und auch nicht verstehen wollt. Es ist eine Sache, über die Bedeutung der Dialektik und des Kampfs gegen den Pragmatismus zu deklamieren. Es ist eine völlig andere, daraus mehr als eine abstrakte Parole zu machen und den Kampf gegen den Pragmatismus mit der Parteiarbeit in Verbindung zu bringen. Ihr habt euch zwar in eurem Dokument zur Anerkennung durchgerungen, dass »North die Dialektik in korrekter Weise gegen Healys Entstellungen verteidigt hat«. Doch in keiner eurer Schriften gibt es einen Hinweis darauf, dass ihr meine Dokumente tatsächlich studiert habt, die Healys Verfälschung der hegelschen Terminologie aufdecken, oder dass ihr euch die Lehren dieses theoretischen Kampfes zu eigen gemacht habt. Das ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass ihr die Bewegung verlassen habt, bevor die amerikanische Sektion ihre Kritik an Healys opportunistischer Politik und deren Verhältnis zur Verfälschung der dialektischen Methode entwickelte. Als du, Genosse Steiner, die Bewegung 1978 verlassen hast, bist du noch immer unter dem Einfluss von Healys »Praxis der Erkenntnis« gestanden. Es handelte sich dabei im Wesentlichen um eine Variante des Pragmatismus, die in neohegelianischem Gewand daherkam.

Ihr habt die wichtige theoretische Entwicklung, die unsere Bewegung damals begann, vollständig verpasst. Am 7. November 1978 veröffentlichte das Politische Komitee einen Resolutionsentwurf über die Perspektiven und Aufgaben der Workers League. Ein Abschnitt war überschrieben: »Die historische Kontinuität des Trotzkismus als Grundlage der Ausbildung von Kadern und des Kampfs gegen den Pragmatismus«. Ich zitiere aus dem wichtigsten Teil dieses Abschnitts:

Bei der Orientierung der Workers League auf die Arbeiterklasse und ihrem Kampf, diese Klasse auf ihre historische Rolle vorzubereiten, geht es nicht um die Frage einer sogenannten »proletarischen Orientierung«, wie sie Cannon aufgefasst hat. Eine wirkliche Hinwendung zur Arbeiterklasse ist nur möglich, wenn man bewusst die historische Verbindung der gegenwärtigen Kämpfe der Arbeiterklasse und der Partei als Einheit von Gegensätzen mit den gesamten historischen Erfahrungen der Klasse und der Entwicklung des Bolschewismus herstellt. Man kann in den Rängen der Partei – und damit in der Arbeiterklasse – nur ernsthaft gegen den Pragmatismus kämpfen, wenn man die gesamte Arbeit der Partei auf den historischen Errungenschaften aus dem Kampf gegen den Revisionismus und auf dem gewaltigen politischen und theoretischen Kapital basiert, das Trotzki der Vierten Internationale hinterlassen hat. Wird der Kampf gegen den Pragmatismus vom Zusammenhang mit der täglichen Praxis der Kader und der Gesamtheit der historischen Erfahrungen, durch die die trotzkistische Bewegung gegangen ist, losgelöst, degeneriert er zur ohnmächtigen Phrasendrescherei. Er wird, genauer gesagt, selbst zu einer Spielart des Pragmatismus.[11]

Diese Analyse versah den »Kampf gegen den Pragmatismus«, der unter Healy und Slaughter zu einer leeren Phrase verkommen war, mit einem konkreten politischen Inhalt anstelle rhetorischer Appelle. Das Dokument erklärte, wie sich Marxisten – im Gegensatz zu der für Pragmatiker typischen impressionistischen und anpassungsfähigen Praxis – bewusst bemühen, die tägliche Entwicklung des Klassenkampfs und das Handeln der Partei in die Kontinuität ihrer eigenen Geschichte und des internationalen Klassenkampfs zu stellen. Anstatt zugunsten kurzfristiger, praktischer Ziele nur auf Ereignisse zu reagieren, müssen Marxisten die entscheidenden poli­tischen Grundsatzfragen identifizieren, die durch die neuen Ereignisse aufgeworfen werden. Sie müssen bei der Analyse neuer politischer Erscheinungen das gesamte historisch akkumulierte theoretische Kapital der Partei zum Tragen bringen und den langfristigen Interessen der Arbeiterklasse als einer internationalen revolutionären Kraft Ausdruck verleihen.

Vier Jahre später, im Oktober 1982, traten die theoretischen und politischen Differenzen zwischen der Workers League und der britischen Workers Revolutionary Party offen zutage. Ein am 19. Oktober 1982 im »Bulletin« veröffentlichter Artikel formulierte die erstmals 1978 entwickelten Auffassungen präziser und pointierter:

Man kann die Geschichte des Trotzkismus nicht als Abfolge zusammenhangsloser Episoden verstehen. Der Kader hat seine theoretische Entwicklung aus der kontinuierlichen Entfaltung der globalen Krise des Kapitalismus und den Kämpfen des internationalen Proletariats abstrahiert. Den enormen Reichtum des Trotzkismus, der einzigen Weiterentwicklung des Marxismus nach Lenins Tod im Jahre 1924, bildet seine ungebrochene, kontinuierliche politische Analyse aller grundlegenden Erfahrungen des Klassenkampfs während einer gesamten geschichtlichen Epoche.

Eine Führung, die nicht kollektiv danach strebt, sich die Gesamtheitdieser Geschichte zu eigen zu machen, kann ihre revolutionäre Verantwortung der Arbeiterklasse gegenüber nicht angemessen erfüllen. Ohne echte Kenntnis der historischen Entwicklung der trotzkistischen Bewegung sind Bezugnahmen auf den dialektischen Materialismus nicht einfach nur hohl; solch leere Bezugnahmen bereiten wirklichen Verzerrungen der dialektischen Methode den Weg. Der Ursprung der Theorie liegt nicht im Gedanken, sondern in der objektiven Welt. Die Entwicklung des Trotzkismus vollzieht sich daher entlang der frischen Erfahrungen aus dem Klassenkampf, die mit dem gesamten historisch erworbenen Wissen unserer Bewegung in Verbindung gebracht werden.

»… so wälzt sich das Erkennen von Inhalt zu Inhalt fort … es erhebt auf jede Stufe weiterer Bestimmung die ganze Masse seines vorhergehenden Inhalts und verliert dadurch nicht nur nichts, noch lässt es etwas dahinten, sondern trägt alles Erworbene mit sich und bereichert und verdichtet sich in sich …«

Zu diesem Zitat aus Hegels »Wissenschaft der Logik« notierte Lenin in seinen »Philosophischen Heften«: »Dieser Auszug gibt gar nicht übel eine Art Zusammenfassung dessen, was Dialektik ist.« (»Werke«, Band 38, S. 223) Dieser Abschnitt ist auch gar nicht übel als »eine Art Zusammenfassung« der ständigen dialektischen Entwicklung der trotzkistischen Theorie.[12]

Ich zitiere noch eine weitere Passage, der das Verhältnis zwischen der Dialektik und dem Kampf um eine revolutionäre Führung der Arbeiterklasse erklärt. Sie erschien als Teil meines Nachrufs auf Gerry Healy nach seinem Tod am 14. Dezember 1989.

In der langen Geschichte der marxistischen Bewegung hat sich die Dialektik als unersetzliches theoretisches Instrument für die politische Prognose, Orientierung und Analyse erwiesen. Aber während die dialektische Methode, richtig angewandt, die Erarbeitung weitsichtiger Analysen und wirkungsvoller taktischer Initiativen erleichtert, liefert sie keine ein für alle Mal wirksame Garantie gegen politische Degeneration. Der dialektische Materialismus ist nicht eine Art ideologischer Talisman, der, einmal erworben, seine Besitzer gegen den dauernden Druck der Klassenkräfte schützt. Der Prüfstein der dialektischen Methode ist eine kritisch-revolutionäre Haltung gegenüber den bestehenden Produktionsverhältnissen der Gesellschaft und den Erscheinungsformen, die diese spontan hervorbringen. Sie ist eine strenge Wissenschaft und verlangt einen unermüdlichen Kampf, programmatisch und praktisch die unabhängige Einstellung der revolutionären Arbeiterklasse zu jeder politischen Frage herauszuarbeiten, die durch die Entwicklung des Klassenkampfs gestellt wird. Eine revolutionäre Partei bleibt nur in dem Maße »marxistisch«, wie sie darum kämpft, den umfangreichen politischen und ideologischen Einfluss der Bourgeoisie und ihrer Agenten auf die Arbeiterklasse zu überwinden. Die marxistische Herangehensweise an jedes bedeutende Ereignis beinhaltet eine Überarbeitung der historischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung. Nur wenn sie ständig die neuen Probleme, die durch die objektive Entwicklung des Klassenkampfs aufkommen, dem gesamten Schatz ihres theoretischen Wissens gegenüberstellt, kann eine marxistische Partei ihr theoretisches Kapital ergänzen und erweitern.[13]

Diese Absätze erläutern die intellektuelle Grundlage eines theoretisch-politischen Projekts, das die SEP mehr als ein Vierteljahrhundert lang mit außerordentlicher Folgerichtigkeit entwickelt hat (wenn man die Perspektivresolution von 1978 als seinen Anfang nimmt). Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat es sich zur Aufgabe gemacht, gestützt auf eine systematische Überarbeitung der gesamten historischen Erfahrungen und Lehren aus den Klassenkämpfen des 20. Jahrhunderts das sozialistische Bewusstsein der Arbeiterklasse neu zu beleben und zu entwickeln. Gleichzeitig haben wir uns bemüht, die Praxis der Arbeiterklasse auf ein wissenschaftliches Verständnis der Bedeutung und der Auswirkungen zeitgenössischer Phänomene in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur zu basieren. Das Ergebnis dieser theoretischen Arbeit ist in der Vielzahl von historischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Analysen und Kommentaren festgehalten, die das IKVI seit dem Bruch mit der Workers Revolutionary Party im Jahre 1985/86 erstellt hat. Die Sommerschule in Ann Arbor im Jahr 2005 und das Treffen der Internationalen Redaktion im Jahr 2006 sind die Höhepunkte dieses langwierigen und schwierigen Projekts.

Aus theoretischer Sicht könnte man beide Ereignisse als große antipragmatische Übungen bezeichnen. Auch wenn das Internationale Komitee nur die Vorträge dieser beiden Veranstaltungen vorzuweisen hätte, würde dies genügen, um eure provokante Behauptung zu widerlegen, die Dialektik sei für unsere Bewegung »zum toten Buchstaben geworden« und wir hätten den Kampf gegen den Pragmatismus aufgegeben.[14]

6. Was ist Objektivismus?

Wenn ihr in eurer Polemik und euch selbst gegenüber ehrlich wäret, müsstet ihr zugeben, dass der Vorwurf, wir hätten die Dialektik und den Kampf gegen den Pragmatismus aufgegeben, lediglich ein Vorwand ist. In Wirklichkeit lehnt ihr das ab, worauf das Internationale Komitee den größten Wert legt: dass der Kampf für den Sozialismus erfordert, in den Reihen der Arbeiterklasse eine gründliche Kenntnis der Geschichte (insbesondere der sozialistischen Bewegung) zu entwickeln sowie (durch eine immer genauere begriffliche Annäherung) ein möglichst genaues und konkretes Verständnis der objektiven Entwicklung des Weltkapitalismus in seinen komplexen, widersprüchlichen und miteinander verbundenen Formen. Was ihr fälschlicherweise als »Objektivismus« bezeichnet, ist das marxistische Bemühen, die gesetzmäßige Bewegung der objektiven Welt, zu der auch der Mensch als gesellschaftliches Wesen gehört, im subjektiven Denken präzise zu reflektieren und dieses Wissen zur Grundlage des revolutionären Handelns zu machen. Trotz eurem Gerede über »Dialektik« und »Kampf gegen den Pragmatismus« spricht aus allem, was ihr schreibt, euer Desinteresse an den Anforderungen des Aufbaus einer Arbeiterbewegung, deren Praxis durch die marxistische Theorie angeleitet wird.

Ihr gebraucht das Wort »Objektivismus« inkorrekt, in einer Weise die zeigt, dass ihr nicht mit dem Materialismus übereinstimmt. Marxisten verstehen unter Objektivismus eine einseitige und abstrakte Herangehensweise an gesellschaftliche Erscheinungen. Er berücksichtigt die aktive Rolle bewusster Akteure – gesellschaftlicher Klassen und zugehöriger politischer Tendenzen – nicht, obwohl sie selbst wichtige Elemente des objektiven Prozesses sind. In seiner klassischen Darlegung des Unterschieds zwischen Marxismus und Objektivismus erklärte Lenin:

Der Objektivist spricht von der Notwendigkeit des gegebenen historischen Prozesses; der Materialist trifft genaue Feststellungen über die gegebene sozialökonomische Formation und die von ihr erzeugten antagonistischen Verhältnisse. Wenn der Objektivist die Notwendigkeit einer gegebenen Reihe von Tatsachen nachweist, so läuft er stets Gefahr, auf den Standpunkt eines Apologeten dieser Tatsachen zu geraten; der Materialist enthüllt die Klassengegensätze und legt damit seinen Standpunkt fest. Der Objektivist spricht von »unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen«; der Materialist spricht von der Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung »dirigiert« und dabei in diesen oder jenen Formen Gegenwirkungen der anderen Klassen hervorruft. Auf diese Weise ist der Materialist einerseits folgerichtiger als der Objektivist und führt seinen Objektivismus gründlicher, vollständiger durch. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern klärt, welche sozialökonomische Formation diesem Prozess seinen Inhalt gibt, welche Klasse diese Notwendigkeit festlegt. Im gegebenen Fall z. B. würde sich der Materialist nicht mit der Feststellung »unüberwindlicher geschichtlicher Tendenzen« zufrieden­geben, sondern auf das Vorhandensein bestimmter Klassen verweisen, die den Inhalt der gegebenen Verhältnisse bestimmen und die Möglichkeit eines Auswegs ausschließen, der nicht das Handeln der Produzenten selbst voraussetzt. Anderseits schließt der Materialismus sozusagen Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen.[15]

Für Lenin ist der Begriff »Objektivismus« kein Schimpfwort, das die Erforschung sozioökonomischer Prozesse verurteilt, die die Grundlage der revolutionären Praxis bilden. Mit der Forderung, sie müsse die Klassendynamik einer gegebenen gesellschaftlichen Situation erkennen und auf dieser Grundlage die politischen Aufgaben der revolutionären Partei so genau wie möglich bestimmen, bemüht er sich im Gegenteil, der Untersuchung der objektiven Welt einen reichhaltigeren materialistischen Inhalt zu geben. Was Lenins umfangreiches theoretisches Werk auszeichnet, ist vor allem sein unnachlässiges Bemühen, die Perspektive, das Programm und die Aktivitäten der russischen Arbeiterbewegung in einem präzisen und umfassenden Verständnis der objektiven Wirklichkeit zu verankern. Wenn man hört, wie ihr mit dem Wort »Objektivismus« um euch werft, fragt man sich, wie ihr solch wichtige Werke Lenins wie »Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung«, »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« und die zahlreichen Bände einordnen würdet, die er zur Agrarfrage in Russland verfasst hat. (Lenin betrachtete sich als Fachmann auf diesem Gebiet.)

In »Materialismus und Empiriokritizismus« spricht Lenin deutlich aus, welch große Bedeutung er der Erkenntnis der objektiven gesellschaftlichen Realität zumisst:

Aus der Tatsache, dass ihr lebt und wirtschaftet, Kinder gebärt und Produkte erzeugt, sie austauscht, entsteht eine objektiv notwendige Kette von Ereignissen, eine Entwicklungskette, die von eurem gesellschaftlichen Bewusstsein unabhängig ist, die von diesem niemals restlos erfasst wird. Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewusstsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen.[16]

Ihr erklärt uns: »Marxistische Wissenschaft ist keine Wissenschaft im konventionellen Sinne: Ihr Ziel besteht nicht nur darin, die Welt zu verstehen, sondern sie auch zu verändern.« Doch wie weit, Genossen Steiner und Brenner, setzt die revolutionäre, d. h. historisch fortschrittliche Veränderung der Welt ein korrektes Verständnis derselben voraus? Über die Antwort auf diese Frage solltet ihr sorgfältig nachdenken. Ob ihr sie »konventionell« oder »unkonventionell« nennt, die Bezeichnung Wissenschaft verdient der Marxismus nur insofern, als das Ziel seiner weltverändernden Praxis – die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft – auf einem korrekten Verständnis der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung beruht, und nicht auf dem bloßen Bedürfnis nach Veränderung oder gar auf dem »Willen zur Macht«. Für den Marxismus ergeben sich die Mittel, mit denen Revolutionäre die Welt verändern, aus einem Verständnis der objektiven Gesetze, nach denen sich die Gesellschaft bewegt, und sind mit diesem Verständnis untrennbar verbunden. Das ist ein wichtiger Grundsatz der marxistischen Theorie, dessen Verletzung eine politische und auch moralische Katastrophe heraufbeschwört.

Ihr schreibt hochtrabend und völlig abstrakt darüber, wie notwendig der Kampf gegen den Pragmatismus sei, scheint euch aber nicht darüber im Klaren zu sein, dass dieser im Laufe des 20. Jahrhunderts zahlreiche Strömungen hervorgebracht hat, die versucht haben, mittels einer starken Übertreibung der Gestaltungsfähigkeit der menschlichen Praxis die ontologische Unterscheidung zwischen der objektiven Welt und den Formen ihrer Widerspiegelung im subjektiven Bewusstsein zu verwischen – eine Unterscheidung, auf die der dialektische Materialismus großen Wert legt. Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Mensch auf die Welt, in der er lebt, einwirkt und sie verändert, folgerten gewisse pragmatische Strömungen, es sei philosophisch absurd, überhaupt von einer objektiven Wirklichkeit zu sprechen, die unabhängig vom Menschen existiere und seinem Handeln Schranken auferlege. Weil es keine absolute Trennung zwischen Objekt und Subjekt gibt, gelangten sie zum Schluss, dass es auch keine relative gäbe. F. C. S. Schiller, Henri Bergson, Georges Sorel sowie die beiden Italiener Giuseppe Prezzolini und Giovanni Papini entwickelten die subjektiven Prämissen des Pragmatismus von James in dieser extremen Form weiter. Letztere sind von besonderer Bedeutung, da hier die faschistischen politischen Implikationen des äußerst subjektiven Voluntarismus, für den ihr Pragmatismus eintritt, deutlich zutage treten. Papini schrieb, der Pragmatismus sei

eine Philosophie des Handelns, eine Philosophie der Tat, des Aufbaus, des Umwandelns, des Schaffens! … Kein vergebliches Bemühen mehr, das nirgends hin führt, außer in die Hinterhalte und Fallstricke überspannter Logiker. Das Wahre ist das Nützliche. Wissen ist Tun. Wähle unter den vielen unsicheren Wahrheiten jene, die am ehesten dazu bestimmt ist, den Klang des Lebens zu verbessern und die nachhaltigste Belohnung zu gewähren. Wenn etwas nicht wahr ist, wir es aber wahr haben wollen, dann machen wir es wahr: durch den Glauben.[17]

Mussolini, der nach eigener Aussage James’ Pragmatismus bewunderte, sagte, es gehöre zu »den verdienstvollsten Aufgaben des Menschen, für die Errichtung der sozialen Ordnung zu kämpfen, die im gegebenen Moment am besten zu unserem persönlichen Ideal passt«.[18]

Es soll hier nicht behauptet werden, dass Pragmatiker notwendigerweise dazu neigen, politische Reaktionäre, geschweige denn Faschisten zu werden. William James war ein höchst anständiger Mensch und spielte eine führende Rolle in der antiimperialistischen Bewegung der Vereinigten Staaten. Doch theoretische Auffassungen haben ihre eigene Logik. Der Werdegang gewisser Strömungen des pragmatischen Denkens veranschaulicht, welch gefährliche Auswirkungen es hat, wenn man das marxistische Bemühen ablehnt, die politische Praxis in einer wissenschaftlichen Untersuchung der objektiven Welt zu verankern. Pragmatischer Voluntarismus kann auch im Rahmen einer radikal linken Politik verheerende Folgen haben. Eine politische Initiative, die sich auf eine impressionistische Einschätzung der objektiven Lage stützt und annimmt, subjektive Entschlossenheit könne der politischen Lage unter allen Umständen ein revolutionäres Potential verleihen, das objektiv gar nicht vorhanden ist, kann die Arbeiterklasse einem vernichtenden Gegenangriff aussetzen.

Diese Gefahr besteht, wie ich betonen will, nicht bloß theoretisch. Die Geschichte der revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts ist voll von politischen und sozialen Fehlschlägen, für die eine voluntaristische Politik verantwortlich war, die die objektive Logik des gesetzmäßigen, historischen und sozioökonomischen Prozesses ignorierte. Stalins politische Maßnahmen (wie die Kollektivierung und die überhastete Industrialisierung) liefern zahlreiche Belege für die verheerenden Folgen einer Politik, die ohne ausreichende Kenntnis oder unter Missachtung der objektiven Umstände formuliert wird und die revolutionären Möglichkeiten des subjektiven Willens, die Dinge zu verändern, übertreibt. Daher erfordert der Kampf für den Sozialismus, dass sich die Taktik der Arbeiterklasse auf ein wissenschaftliches Verständnis der Gesetzmäßigkeiten des internationalen Kapitalismus, des weltweiten Klassenkampfs und der Formen ihrer Widerspiegelung im Bewusstsein der Massen stützt. Darin liegt die Bedeutung von Perspektiven und einer möglichst genauen Einschätzung der »objektiven Situation«, auf die die trotzkistische Bewegung stets so großen Wert gelegt hat.

Besonders unangenehm zeigt sich euer Desinteresse an politischen Analysen, wenn ihr selbst die gröbsten Fehler eurer utopischen Vorbilder rechtfertigt. Als Genosse Steve Long dich, Genosse Steiner, darauf hinwies, dass Jacoby (der Autor des von dir bewunderten Werks »The End of Utopia«) für eine Wiederbelebung des Liberalismus eintritt, hast du nur die Achseln gezuckt und geantwortet: »Müssen wir als Marxisten deshalb alles ignorieren, was er ab Seite acht schreibt, wo er seine Absicht verkündet, eine Form des radikalen Liberalismus neu zu beleben?« Und als Genosse Long auf die widerliche politische Geschichte Herbert Marcuses und Theodor Adornos verwies, hast du geantwortet: »Ja, sowohl Adorno als auch Marcuse waren politische Opportunisten, die sich in den 1930er-Jahren im Namen einer ›Einheitsfront‹ gegen den Faschismus mit den Moskauer Prozessen einverstanden erklärten. Bedeutet das, dass sie uns hinterher nichts Relevantes mehr zu sagen hatten?«

Ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass das widerliche politische Verhalten dieser Individuen (vergessen wir nicht Ernst Bloch, der die Ermordung der alten Bolschewisten begeistert begrüßte) etwas mit ihrem Utopismus zu tun haben könnte? Warum sollte man auf die utopischen Vorstellungen von Individuen vertrauen, die unfähig waren, die Wirklichkeit zu verstehen und die Wahrheit von den üblen Lügen des stalinistischen Regimes zu unterscheiden? Ist es unhöflich, wenn man fragt, welcher Methode sie sich bei der Erwägung politischer Fragen bedienten? Oder war ihr Genie vielleicht von solch erlesener Art, dass es nur in der Zukunftsform funktionierte!

Im Sommer 2005 erklärte ich: »Als analytische Methode und materialistische Weltanschauung hat der Marxismus Gesetze aufgedeckt, die sozioökonomische und politische Vorgänge regeln. Die Kenntnis dieser Gesetze legt Trends und Tendenzen offen, die es ermöglichen, bedeutende historische ›Voraussagen‹ zu treffen und in einer Weise bewusst einzugreifen, die zu einem vorteilhaften Ergebnis für die Arbeiterklasse führen kann.«[19]

Genau das unterscheidet eine marxistische Praxis von allen Arten von pragmatischem Aktivismus, sei es in der Form »linken« Abenteurertums oder opportunistischer Anpassung. Die Methode des »Objektivismus«, die je nach Umständen die eine wie die andere Form annehmen kann, fand in der Geschichte der Vierten Internationale ihre klarste Ausprägung in den revisionistischen Theorien Pablos und seiner Gefolgsleute Mandel und Hansen. Der pablistische Revisionismus war ein Meister darin, demagogisch und völlig abstrakt das Bild einer allmächtigen Welle revolutionärer Kämpfe heraufzubeschwören, die – unabhängig von ihrer politischen Führung und dem Bewusstseinsstand der Massen – alle Hindernisse hinwegfegen und die Macht an sich reißen würde. Cliff Slaughter erklärte das 1961 (als er noch Marxist war) sehr gut:

Die grundlegende Schwäche der Resolution der SWP besteht darin, dass sie den Marxismus durch den »Objektivismus« im Sinne einer falschen Objektivität ersetzt. … Lenin zog aus seiner Analyse des Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus den Schluss, dass die bewusste revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei von entscheidender Bedeutung sei. Die Verfechter des »Objektivismus« ziehen dagegen den Schluss, die Bedeutung der »objektiven Faktoren« sei so gewaltig, dass die Arbeiterklasse unabhängig davon, ob sie in ihrem Kampf eine marxistische Führung aufbaue, die proletarische Revolution durchführen und die Kapitalisten stürzen werde.[20]

Was Slaughter hier in der Auseinandersetzung mit den Pablisten als »Objektivismus« bezeichnet, hat absolut nichts mit dem zu tun, was ihr unter diesem Begriff versteht. Ihr greift damit das Bemühen an, die revolutionäre Politik auf eine korrekte marxistische Analyse sozioökonomischer Phänomene zu stützen, während sich die Pablisten weigerten, die Weltwirtschaft in der Nachkriegszeit konkret zu analysieren und die Veränderungen mit der Entwicklung des internationalen Klassenkampfs in Beziehung zu setzen. Slaughter forderte die SWP wiederholt auf, ihre »objektivistischen« Schlussfolgerungen im Rahmen der »allgemeinen historischen Entwicklungsaussichten der Klassenbeziehungen« zu begründen. Er schrieb, die SWP müsse »zeigen, auf welche Weise ›objektive Faktoren‹ der Welt­situation es in einigen Fällen unnötig machen, eine revolutionäre Führung vorzubereiten und aufzubauen«.[21] Er ging auch auf den Zusammenhang zwischen dem »Objektivismus« der Pablisten und ihrer ständigen Beschwörung von Aktionen ein, ihren demagogischen Hinweisen auf »die ›Ungeduld‹ der Massen, die mit der Revolution nicht warten könnten, bis eine marxistische Führung aufgebaut sei«.[22] Ebenfalls bezeichnend für den Objektivismus der Pablisten war ihre Verherrlichung der einfachsten Formen von Militanz. Damit rechtfertigten sie ihre Anpassung an die vorhandenen bürokratischen Führer, die die Massenbewegung von ihren revolutionären politischen Aufgaben abbrachten.

Genau dorthin führt auch eure hinterlistige Attacke auf unseren »Objektivismus«. Ihr lehnt damit die Untersuchung und Analyse sozioökonomischer Gegebenheiten sowie des Klassencharakters politischer Strömungen ab, die Einfluss auf die Arbeiterklasse ausüben. Eure Verurteilung unserer »Enthaltsamkeit« ist ein verschleierter Angriff auf unsere Einschätzung der reaktionären Rolle der Gewerkschaften. Ihr schreibt:

Über ein Jahrzehnt ist vergangen, seit die Partei zu der Einschätzung kam, die Gewerkschaften könnten keine progressive Rolle mehr spielen, doch in diesen zehn Jahren wurde nichts unternommen, um der Arbeiterklasse irgendeine Alternative vorzuschlagen. Es wurde auch nichts unternommen, um die Auswirkungen des Niedergangs der Gewerkschaften gemeinsam mit den Millionen Mitgliedern aufzuarbeiten, die in diesen Organisationen verblieben sind, da abgesehen von Journalismus seit langem jede Arbeit innerhalb der Gewerkschaften aufgegeben worden ist.

Zunächst einmal: Ist unsere Analyse der Gewerkschaften korrekt oder nicht? Ihr liefert keine Analyse des Charakters und der Rolle der AFL-CIO oder anderer offizieller Gewerkschaftsorganisationen. Glaubt ihr, sie hätten noch das Potenzial, eine in euren Worten »progressive Rolle« zu spielen? Aus eurem Angriff könnte man den Schluss ziehen, dass ihr das glaubt. Aber warum erklärt ihr es dann nicht offen und legt die Gründe für eure Auffassung dar? Ihr unterzieht auch die umfangreichen Schriften der SEP und des IKVI zur Frage der Gewerkschaften, die unseren grundsätzlichen Standpunkt theoretisch begründen, keiner kritischen Untersuchung. Ihr beschwert euch auf vulgäre, pragmatische Art, ein Arbeiter, der die WSWS schriftlich um Rat frage, bekomme »typischerweise einen Vortrag über die Geschichte der Arbeiterbürokratie als Antwort, jedoch nicht den geringsten Hinweis darauf, wie er den Kampf, in dem er sich befindet, führen soll«. Erklärt uns bitte, Genossen Steiner und Brenner, wie ein Arbeiter wissen kann, wie er einen unmittelbaren Kampf führen soll, wenn er die historische Rolle der Gewerkschaften nicht versteht? Was hat es für Folgen, wenn man einen gegebenen Kampf, den Arbeiter führen, von den historischen Erfahrungen löst, aus denen er hervorgegangen ist? Kann man eine Perspektive für das praktische Eingreifen in Russland entwickeln, ohne die Arbeiter in der Geschichte von Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus auszubilden? Oder in China? Oder in Osteuropa? Kann ein Arbeiter im Nahen Osten wissen, »wie er den Kampf, in dem er sich befindet, führen soll«, wenn er die historische Rolle des bürgerlichen Nationalismus oder die Bedeutung von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution nicht studiert? Wie können fortschrittliche israelische Arbeiter einen Ausweg aus der Sackgasse des jüdischen Nationalismus finden, ohne den Ursprung und die Rolle des Zionismus zu verstehen? Um es so klar wie möglich zu sagen: Der »Charakter« eines gegebenen Kampfs lässt sich nur verstehen, wenn man ihn in den erforderlichen historischen Zusammenhang stellt.

Eure verächtlichen Witze über das Bemühen der WSWS, Arbeiter in historischen Fragen auszubilden, verraten trotz eurer Lippenbekenntnisse zur Dialektik eine Gleichgültigkeit gegenüber der Theorie, die aus einer sorgfältigen Aufarbeitung der objektiven gesellschaftlichen Erfahrungen der Arbeiterklasse hergeleitet wird. Wie es Trotzki so gut erklärt hat:

Lässt man sich von der Theorie leiten, so heißt das, dass man sich von der Verallgemeinerung der gesamten bisherigen Praxis der Menschheit leiten lässt, um eine bestimmte praktische Aufgabe der Gegenwart möglichst gut zu bewältigen. Vermittelt durch Theorie, erweist sich so das »Primat« der Praxis insgesamt gegenüber den Teilpraktiken.[23]

Erzählt uns bitte, Genossen Steiner und Brenner: Welche politischen Verallgemeinerungen habt ihr aus den tragischen Erfahrungen der Arbeiterklasse während der vergangenen 25 Jahre gezogen? Aus der endlosen Reihe von Niederlagen, die die amerikanische Arbeiterklasse als Folge des kriminellen Verrats ihrer bürokratischen Organisationen erlitten hat? Inwiefern habt ihr die Erfahrungen der internationalen Arbeiterklasse in euer Verständnis der Aufgaben einfließen lassen, vor denen Arbeiter in den Vereinigten Staaten stehen? Welche Lehren habt ihr aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der stalinistischen Regime in Osteuropa gezogen, die allesamt von den herrschenden Bürokratien aufgelöst wurden? Oder aus der Verwandlung der »Volksrepublik« China in das unverzichtbare Zentrum der internationalen kapitalistischen Niedriglohnproduktion? Oder aus der Verwandlung der britischen Labour Party in eine bösartige bürgerliche Rechtspartei, die alle Verbindungen zur Arbeiterklasse gekappt hat? Oder aus der fortgesetzten Unterstützung des Gewerkschaftsbunds TUC für diese Partei? Wir könnten noch viele Fragen dieser Art hinzufügen, aber wir haben wohl recht, wenn wir annehmen, dass wir keine Antwort erhalten werden. Ihr habt den Auswirkungen, die der Zusammenbruch aller traditionellen politischen und gewerkschaftlichen Arbeiter­organisationen während der vergangenen 25 Jahre auf die politischen Perspektiven und die Praxis hat, nicht einen Gedanken gewidmet.

7. Der Verkehrsarbeiterstreik in New York City

Ihr zieht es vor, eure polemischen Kämpfe im Reich abstrakter Allgemeinheiten auszufechten. Doch die einzige Gelegenheit, bei der ihr in die Niederungen des tatsächlichen Geschehens herabsteigt, zeigt sofort, worin der politische Inhalt eurer Klagen über unseren »Objektivismus« besteht. Ihr lehnt den Kampf ab, den die Socialist Equality Party und die WSWS gegen die Gewerkschaftsbürokratie führen. Euer langer Angriff auf die Rolle der Partei im Verkehrsarbeiterstreik in New York City zielt darauf ab, unsere Bemühungen zu diskreditieren, die Verkehrsarbeiter mit einer politischen Perspektive zu bewaffnen. Doch bevor wir im Einzelnen auf eure Attacke eingehen, wollen wir darauf hinweisen, dass dieser Streik das einzige Ereignis ist, mit dem ihr euch in eurem gesamten Dokument befasst. Hättet ihr nicht zumindest ein Ereignis außerhalb der Stadt wählen können, in der ihr lebt? Warum keine Untersuchung der Kampagne der Partei gegen den Krieg im Irak? Oder des Eingreifens des IKVI in der Krise in Frankreich? Oder des Kampfs, den unsere Genossen in Sri Lanka gegen die Wiederaufnahme des Kriegs gegen die Tamilen durch die Regierung führen? Nichts davon interessiert euch. Bedenkt man, dass ihr euch mit keinem anderen Ereignis abgebt – nicht einmal mit dem Irakkrieg –, ist die Aufmerksamkeit, die ihr dem Verkehrsarbeiterstreik widmet, in höchstem Grade unausgewogen. Zumindest aber ist sie Ausdruck einer provinziellen Sichtweise.

Eure Schilderung des Eingreifens der SEP ist fraktionell motiviert und unaufrichtig. Ihr stellt es als eine Mischung aus Verwirrung und Untätigkeit dar, ohne konkret auf etwas einzugehen. Ihr sprecht vom »dreitägigen Streik im Dezember [2005]«, ohne die genauen Daten anzugeben. Das ist keine Nebensächlichkeit. Niemand, der sich auf eure Darstellung stützt, könnte die objektiven Ereignisse mit dem Eingreifen der SEP in Zusammenhang bringen. Ihr schreibt: »Obwohl es einen langen Vorlauf zum Streik gab und obwohl die Partei in dieser Gewerkschaft auf eine lange Geschichte zurückblickte, stellte sie bis zum Tag vor Streikbeginn keine Forderungen auf.« Neben dem Fehlen einer präzisen Zeitangabe zitiert eure Kritik keinen einzigen Satz von dem, was die SEP über den Verkehrsarbeiterstreik geschrieben hat. Niemand, der euer Dokument liest, könnte sich ein präzises Bild über das Ausmaß des Eingreifens der Partei oder über das Programm machen, für das sie gekämpft hat.

Da ihr das Eingreifen der Partei in den Streik angreift, um ihr »Objektivismus« und »Enthaltsamkeit« nachzuweisen, müssen wir recht detailliert darauf antworten. Der Streik begann am Dienstag, dem 20. Dezember, und endete am Donnerstag, dem 22. Dezember. Euer Dokument vermittelt seinen Lesern den Eindruck, die SEP sei von den Ereignissen überrascht worden und habe erst am Vorabend des Streiks geschafft, eine Stellungnahme herauszugeben.

Sehen wir uns jetzt die tatsächliche Reaktion der Partei auf den Verkehrsarbeiterstreik an. Am 10. Dezember – zehn Tage vor Beginn des Streiks – veröffentlichte die WSWS eine lange Erklärung, geschrieben von Alan Whyte, welche die zentralen Fragen analysierte, die der Konflikt zwischen dem Ortsverband 100 der Transportarbeitergewerkschaft TWU und dem staatlichen Verkehrsunternehmen MTA (New York Metropolitan Transportation Authority) aufwarf. Nach einem sorgfältigen Überblick über die Einzelheiten der Vertragsverhandlungen schrieb Whyte:

Seit dem letzten Streik, mit dem die Arbeiter das Verkehrssystem elf Tage lang lahmlegten, sind 25 Jahre vergangen. In diesem Vierteljahrhundert haben die Arbeiter in New York City und den ganzen Vereinigten Staaten erlebt, wie ihre Löhne ständig sanken, Millionen anständig bezahlter Arbeitsplätze verloren gingen, Sozialleistungen abgebaut und grundlegende demokratische Rechte beseitigt wurden. Diese Angriffe waren die Voraussetzung für eine schwindelerregende Zunahme der sozialen Ungleichheit – gewaltige Reichtümer wurden auf die Bankkonten des reichsten einen Prozents verschoben.

Die Gewerkschaften haben sich als unfähig erwiesen, diesen Angriffen entgegenzutreten. Kontrolliert von einer opportunistischen Bürokratie, die sich vollständig der Demokratischen Partei und dem Profitsystem unterordnet, haben sie dabei mitgewirkt, diese nicht endende Reihe von Zugeständnissen zu erzwingen.

Ein Verkehrsarbeiterstreik, der zeigt, dass die Arbeiterklasse stark genug ist, dem Diktat der Wall Street zu trotzen, würde in New York City und dem ganzen Land zweifellos starke Unterstützung gewinnen. Ein ernsthafter Kampf zur Verteidigung der Lebensbedingungen und zur Rücknahme der Angriffe der vergangenen 25 Jahre erfordert jedoch mehr als militante Streikaktionen.

Er verlangt vor allem einen politischen Kampf zur Mobilisierung der gesamten Arbeiterklasse gegen das Profitsystem. Dies bedeutet einen Bruch mit der Demokratischen Partei und den Aufbau einer unabhängigen politischen Partei der Arbeiterklasse, die für die Reorganisation der Gesellschaft im Interesse der Bedürfnisse der Menschen, statt der Anhäufung von Wohlstand durch eine Finanzelite kämpft. Nur eine solche Partei wird dafür eintreten, die nötigen Mittel zur Finanzierung des öffentlichen Massenverkehrs bereitzustellen, indem die Schulden nicht anerkannt und die immensen Mittel der Banken und Finanz­institute, die davon profitiert haben, in öffentliches Eigentum überführt werden.[24]

Diese Erklärung wurde als Flugblatt veröffentlicht und unter den Transportarbeitern verteilt. Die WSWS gab also zehn Tage, bevor der Streik (nach einer Verzögerung durch die TWU-Führung) begann, eine klare politisch-programmatische Erklärung heraus. Zwei Tage später, am 12. Dezember, veröffentlichte die WSWS einen weiteren Artikel von Whyte. Er berichtete über das positive Ergebnis der Urabstimmung für den Streik, der ursprünglich am 16. Dezember um Mitternacht beginnen sollte. Der Artikel warnte vor der Doppelzüngigkeit der Gewerkschaftsführung. Die Anwesenheit des politischen Scharlatans Jesse Jackson bei der Urabstimmungs-Versammlung sei ein deutliches Signal, dass die TWU-Führung an ihrer politisch bankrotten Allianz mit der Demokratischen Partei festhalte.[25]

Am 16. Dezember veröffentlichte die WSWS eine Analyse von Bill Van Auken mit dem Titel »Die politischen Aufgaben, vor denen die Verkehrsarbeiter von New York City stehen«. Sie warnte die Verkehrsarbeiter, dass Bürgermeister Bloomberg einen massiven juristischen Angriff auf die Gewerkschaft vorbereite. Der Artikel betonte, die Gewerkschaft könne keinen erfolgreichen Streik führen, ohne für die Mobilisierung breiter Teile der Arbeiterklasse einzutreten. Doch er warnte auch: »Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Führung des Ortsverbands 100 der TWU einen solchen Kampf vorbereitet. Die Gewerkschaftsbürokratie unter Ortsverbandspräsident Roger Toussaint beschränkt sich strikt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gewerkschaftlicher Militanz. Gleichzeitig stellt sie Politiker der Demokraten als Freunde der Arbeiter dar.«[26]

Am 17. Dezember berichtete Van Auken über die Entscheidung der TWU, statt zu einer umfassenden Arbeitsniederlegung zu selektiven Streiks aufzurufen.[27]

Am 19. Dezember veröffentlichte die WSWS eine Erklärung von Peter Daniels mit dem Titel »New Yorker Verkehrsarbeiter vor der Klassenkonfrontation« (die auch als Flugblatt gedruckt und verteilt wurde). Sie ging auf die Lehren aus den wichtigsten Erfahrungen ein, welche die Arbeiterklasse seit dem Verrat des New Yorker Verkehrsarbeiterstreiks von 1980 und der Zerstörung der Fluglotsengewerkschaft PATCO 1981 gemacht hatte. Die Erklärung betonte die Notwendigkeit einer politischen Strategie: »Die Wahrheit über diesen Streik muss von Anfang an deutlich gesagt werden: Entweder gewinnen die Verkehrsarbeiter die aktive Unterstützung anderer Teile der Arbeiterklasse, um gegen alle Angriffe auf Arbeitsplätze und öffentliche Dienstleistungen eine politische Gegenoffensive zu beginnen – oder ihr Streik wird isoliert und besiegt werden.« Die Erklärung warnte auch: »Sich auf Toussaint als Streikführer zu verlassen, wäre ein schwerer Fehler. Der Vorsitzende des Ortsverbandes 100 verbindet gelegentliche demagogische Drohungen mit der Unterstützung der Demokratischen Partei, die die Interessen der Wirtschaft vertritt, und der Ablehnung eines unabhängigen Kampfs der Arbeiterklasse.« Sie rief die Arbeiter auf, »unabhängige Streikkomitees zu organisieren, um unter der gesamten arbeitenden Bevölkerung für Einheit und Kampfbereitschaft zu werben – unter anderen Gewerkschaftsmitgliedern, Unorganisierten und Arbeitslosen, Studenten, Jugendlichen, Facharbeitern und Selbständigen.«[28]

Ihr kritisiert diese Erklärung, aus der ihr nicht einen Satz zitiert, weil sie keinen Hinweis darauf gebe, »wie diese Komitees aufgestellt werden sollen, wie sie funktionieren sollen und vor allem: wofür sie kämpfen sollen«. Es stimmt, wir haben kein Handbuch über den Aufbau von Streikkomitees verfasst. Arbeiter könnten ohne Weiteres selbst solche Komitees aufbauen und leiten, wenn sie die Notwendigkeit einer Alternative zum Ortsverband 100 der TWU und seiner Politik verstehen würden. Wofür die Komitees kämpfen sollen, haben wir dagegen sehr deutlich gesagt: Die Erklärung umriss eine politische Strategie, von der das Schicksal des Streiks abhing. Aus eurer Kritik muss man den Schluss ziehen, dass ihr nicht mit der Einschätzung der WSWS übereinstimmt, dass die Transportarbeiter vor einem politischen Kampf standen. Ein solcher Kampf wäre aber die einzige Möglichkeit gewesen, die Unterstützung der Masse der New Yorker Arbeiter zu gewinnen, für die der Streik zusätzliche tägliche Belastungen mit sich brachte.

Am 21. Dezember veröffentlichte die WSWS eine weitere Erklärung (die ebenfalls gedruckt und massenhaft in der ganzen Stadt verteilt wurde): »Streik bei den New Yorker Verkehrsbetrieben: eine neue Stufe im Klassenkampf«. Sie untersuchte die Bedeutung des Streiks im Rahmen der sozialen Polarisierung der Vereinigten Staaten und deckte die finanziellen Interessen auf, die Bürgermeister Bloomberg bewogen, mit brutalen juristischen Mitteln gegen die Transportarbeiter vorzugehen. Die Erklärung griff die nationale TWU-Führung an, die den Streik als illegal verleumdete und zur sofortigen Rückkehr zur Arbeit aufrief. Sie schloss, indem sie die politischen Aufgaben zusammenfasste:

Deutlicher als irgendein anderes Ereignis der letzten zwanzig Jahre stellt der gegenwärtige Streik der Arbeiter des öffentlichen Nahverkehrs von New York die gesamte Arbeiterklasse vor die Aufgabe, eine neue Führung aufzubauen und eine neue politische Strategie zu entwickeln, die sich auf ein Programm gründet, das die Interessen und Bedürfnisse der arbeitenden Menschen gegen die Profitgier der Finanzelite verteidigt …

Wenn dieser Streik erfolgreich sein soll, müssen sich die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe von einer Perspektive leiten lassen, die die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Annahmen ablehnt, von denen die Finanzoligarchie und ihre politischen Parteien ausgehen. Die nicht endenden Forderungen nach einer Senkung des Lebensstandards der Arbeiter zeigen, dass ihre Interessen nicht mit den Erfordernissen des kapitalistischen Profitsystems vereinbar sind.[29]

Zusätzlich zu dieser Erklärung veröffentlichte die WSWS am 21. Dezember zahlreiche Interviews mit streikenden Arbeitern.[30]

Am 22. Dezember erschien auf der WSWS eine weitere umfangreiche Erklärung (die wiederum gedruckt und massenhaft verteilt wurde) mit dem Titel »Eskalation der Angriffe auf die New Yorker Verkehrsarbeiter«. Sie befasste sich mit der politischen Strategie von Bürgermeister Bloomberg und Gouverneur Pataki und der Ursache für ihre heftige Reaktion auf den Streik. Der Artikel erklärte, warum die herrschende Elite den Streik als bedeutende Herausforderung betrachte, die niedergeschlagen werden müsse. Der Solidarität innerhalb der herrschenden Klasse stellten wir die Bemühungen der Arbeiterbürokratie gegenüber, den Streik zu isolieren und zu sabotieren. Wir warnten davor, dass ein weitreichender Verrat in Vorbereitung sei, und erneuerten unseren Aufruf an die Arbeiter, »eigene, unabhängige Streikkomitees zu organisieren und sich an die breitesten Schichten von Arbeitern zu wenden, um so Unterstützung zu mobilisieren«.[31]

Wir veröffentlichten auch weitere Interviews mit Streikenden.[32]

Am 23. Dezember gab die WSWS eine weitere Erklärung mit einer »vorläufigen Einschätzung« des plötzlichen Streik-Endes heraus. Es handelte sich um eine offene und nüchterne Einschätzung des Ergebnisses des Streiks, der von der Gewerkschaftsbürokratie isoliert worden war. Die WSWS stellte fest, dass Toussaint »den Streik als rein gewerkschaftlichen Kampf geführt hat – unter Bedingungen, unter denen die Verkehrsarbeiter die geballte Macht des Staatsapparats in Form des Taylor-Gesetzes und der Gerichte zu spüren bekamen«. Der Streik habe alle Lügen gestraft, die behauptet hatten, die Arbeiterklasse sei als gesellschaftliche Kraft verschwunden, fasste die WSWS die allgemeinere Lehre aus dieser Erfahrung zusammen. Durch das Lahmlegen des gesamten Verkehrssystems habe die Arbeiterklasse ihr gewaltiges gesellschaftliches Gewicht und ihre Kampfbereitschaft gezeigt. Doch der Streik habe »auch aufgedeckt, dass die bestehenden Gewerkschaften hoffnungslos unzulängliche Mittel für den sozialen Kampf sind. Soweit sich diese Organisationen nicht – wie die nationale TWU und die gesamte AFL-CIO – aktiv an der Unterdrückung der Arbeiterklasse beteiligen, stehen sie den Angriffen des Staates aufgrund des Fehlens einer alternativen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektive hilflos gegenüber. Von einer politisch reaktionären und mit der Demokratischen Partei verbündeten Bürokratie dominiert, werden sie unvermeidlich zum Mittel, mit dem die herrschende Elite ihre Forderungen gegen die Arbeiterklasse durchsetzt.« Die WSWS rief zu »einer neuen sozialistischen Bewegung« auf, »die in der Lage ist, die Arbeiterklasse auf der Grundlage einer kompromisslos antikapitalistischen Linie zu vereinen«.[33]

Am 24. Dezember veröffentlichte die WSWS eine weitere wichtige Erklärung (abermals gedruckt und massenhaft verteilt), die weitere Einzelheiten über die Sabotage des Streiks des Ortsverbands 100 durch die Gewerkschaften enthielt.[34]

Euer Angriff auf das Eingreifen der Partei in den Verkehrsarbeiterstreik ist vollkommen unbegründet. Ihr geht davon aus, dass eure Leser die schriftlichen Dokumente nicht kennen. Eine Überprüfung der Reaktion der WSWS auf den Kampf der Verkehrsarbeiter zeigt, dass sie in den zwei Wochen zwischen dem 10. und 24. Dezember sechs wichtige Erklärungen und acht weitere Artikel veröffentlicht hat, die über die aktuellen Ereignisse berichteten, Verkehrsarbeiter interviewten oder sich mit den sozialen Fragen beschäftigten, die sich aus der Klassenspaltung in New York City ergaben. Acht dieser vierzehn Beiträge wurden gedruckt und massenhaft verteilt. Während derselben Zeit berichtete die WSWS auch weiterhin präzise und ausführlich über andere wichtige nationale und internationale Ereignisse.

So sieht die Bilanz aus, die angeblich die »Enthaltsamkeit« der SEP beweist! Unsere Antwort auf den Verkehrsarbeiterstreik hat gezeigt, welche entscheidende Rolle die WSWS dabei spielt, in den Kämpfen der Arbeiterklasse eine neue politische Strategie zu entwickeln. Die Gewerkschaft hatte während derselben Zeit keine einzige Erklärung veröffentlicht und massenhaft verbreitet, von einer täglichen Analyse des laufenden Kampfs ganz zu schweigen. Die WSWS allein war nicht in der Lage, die Sabotage der Bürokratie zu durchbrechen. Doch sie leistete einen bedeutenden Beitrag zur Hebung des Klassenbewusstseins der Arbeiter und zur Vorbereitung künftiger Siege.

Ich bin nicht so unhöflich, mich nach dem praktischen Beitrag zu erkundigen, den Genosse Steiner zum Kampf geleistet hat. Es fällt aber auf, dass ihr uns nicht sagt, worin eure Aktivitäten in dieser Zeit bestanden haben. Was, wenn überhaupt, habt ihr gemacht? Was habt ihr geschrieben? Habt ihr eine Erklärung entworfen, vielleicht unter dem Titel »Der Verkehrsarbeiterstreik und die Utopie«? Vielleicht haben euch Schwierigkeiten der einen oder anderen Art daran gehindert, direkt in den Streik einzugreifen. Wenn dem so ist, besteht kein Grund zur Entschuldigung. Dennoch ist es enttäuschend, dass ihr im Rahmen eurer Kritik nicht die Gelegenheit wahrgenommen habt, zu erklären, und sei es auch nur theoretisch, wie der Utopismus in Aktion ausgesehen hätte. Wir sind daher berechtigt, den Schluss zu ziehen, dass eure utopischen Schemata weitgehend für Diskussionen innerhalb kleinbürgerlicher radikaler Zirkel bestimmt sind. Den Arbeitern dagegen habt ihr nichts zu bieten außer der faden Brühe des Gewerkschaftlertums.

8. Die WSWS und »politische Enthüllungen«

Kehren wir zu eurer Kritik meiner Auffassung des Kampfs für sozialistisches Bewusstsein zurück. Zu meinem Vortrag über Lenins »Was tun?« erklärt ihr (wiederum ohne mich zu zitieren):

Durch das Unterstreichen des Ausdrucks »politische Enthüllungen« versucht North Lenin so zurechtzubiegen, dass er damit seine Enthaltsamkeit rechtfertigen kann. Lenin stellte mit diesem Ausdruck seine Auffassung über die Entwicklung von Klassenbewusstsein der Auffassung der Ökonomisten entgegen, die sich auf Brot-und-Butter-Fragen konzentrierten. North stürzt sich darauf, weil er scheinbar die journalistische Existenz der WSWS rechtfertigt. Doch es ist Unsinn zu glauben, Lenin hätte diesen Ausdruck als eine Art Allzweckrezept für den Umgang mit derart komplexen Fragen wie der Entwicklung von Klassenbewusstsein verstanden.

Die schlimmste Polemik, Genossen Steiner und Brenner, ist eine, die sich an die Ignoranz ihrer Leser richtet und annimmt, diese wüssten nichts. Das ist eure Methode. Wie schon bemerkt, zitiert ihr meine Beiträge niemals genau und im richtigen Zusammenhang. Euer Ziel ist es nicht, den Leser zu erziehen, sondern ihn zu täuschen und in die Irre zu führen. Ihr greift meine Analyse von »Was tun?« an, zitiert aber weder aus meinem Vortrag noch aus Lenins bahnbrechendem Werk. »Politische Enthüllungen« ist kein Ausdruck, den ich »betone« (d. h. übertreibe), um damit Lenins Autorität für die Arbeit der WSWS zu missbrauchen. Dieser Ausdruck ist Teil der Überschrift des dritten Abschnitts von Kapitel III. Das Kapitel trägt den Titel »Trade-unionistische und sozialdemokratische Politik« und der Abschnitt »Die politischen Enthüllungen und die ›Erziehung zur revolutionären Aktivität‹«. Lenin benutzt den Ausdruck »politische Enthüllungen« nicht nur als Phrase, er ist ein zentraler Baustein seiner Theorie des sozialistischen Bewusstseins, den er über mehrere Jahre hinweg im Kampf gegen den Ökonomismus entwickelt hat. Der Ökonomismus war die spezifische Form des bernsteinschen Revisionismus in Russland. Während die Sozialdemokraten großes Gewicht auf die politische Erziehung der Arbeiterklasse legten, der Lenin und Plechanow überragende Bedeutung beimaßen, versuchte der Ökonomismus, die politische Erziehung durch eine Agitation über rein ökonomische Fragen nach herkömmlicher gewerkschaftlicher Art zu ersetzen. Im dritten Abschnitt von Kapitel III schreibt Lenin:

Eine der Grundbedingungen für die notwendige Erweiterung der ­politischen Agitation ist aber die Organisierung allseitiger politischer Enthüllungen. Anders als durch diese Enthüllungen kann das politische Bewusstsein und die revolutionäre Aktivität der Massen nicht herangebildet werden. Darum ist diese Art Tätigkeit eine der wichtigsten Funktionen der gesamten internationalen Sozialdemokratie, denn auch die politische Freiheit beseitigt keineswegs die Sphäre, auf die diese Enthüllungen gerichtet sind, sondern verschiebt sie nur.[35]

Lenin fährt fort:

Das Bewusstsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Missbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewusstsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden.[36]

Am Ende desselben Absatzes stellt Lenin fest: »Diese allseitigen politischen Enthüllungen sind die notwendige und die wichtigste Vorbedingung für die Erziehung der Massen zur revolutionären Aktivität.«[37]

Um die Arbeit des IKVI zu verleumden, sprecht ihr verächtlich von der »journalistischen Existenz« der WSWS und setzt politische Enthüllungen mit bloßem »Journalismus« gleich. Man kann hier zu Recht fragen, seit wann Journalismus, der Beruf vieler revolutionärer Marxisten, ein Schimpfwort ist. Das wenige Geld, das Marx verdiente, stammte aus seiner journalistischen Arbeit. Vor 1917 gab Trotzki »Journalist« als Berufsbezeichnung an. Zahllose andere Marxisten übten diesen Beruf aus. Man kann frei nach Oscar Wilde sagen, journalistische Tätigkeit sei weder moralisch noch amoralisch. Die Frage ist, ob man sie gut oder schlecht ausübt, als gewissenhafter Beobachter und Analytiker oder als Propagandist und Apologet der Interessen der herrschenden Elite.

Eure abschätzigen Bemerkungen appellieren an politische Rückständigkeit und an Vorurteile gegen Intellektuelle. Ihr greift das Internationale Komitee an, weil es ein Organ geschaffen hat, das seine Analysen und sein Programm einem weltweiten Publikum sozialistischer und politisch fortschrittlicher Arbeiter, Intellektueller und Jugendlicher vorstellt. Eine derart wichtige Arbeit kann nur jemand verunglimpfen, der den Kampf für den Marxismus und für sozialistische Ideen ablehnt. Wollt ihr die politische Analyse lieber der reaktionären bürgerlichen Presse überlassen oder den linksliberalen Ratgebern der Demokratischen Partei mit ihren Publikationen »Salon« und »The Nation« (die kürzlich beträchtliche Mittel in die Entwicklung ihrer Website gesteckt hat) oder den zahlreichen desorientierten radikalen kleinbürgerlichen Gruppen?

Seit wann halten es Marxisten für unangebracht, sich auf die Veröffentlichung eines theoretischen und politischen Organs zu konzentrieren? Ihr wisst sehr genau, dass die Gründung einer politischen Zeitung, der »Iskra«, für die Entwicklung der sozialistischen Bewegung Russlands einen Meilenstein bedeutete. Lenin widmete dieser Aufgabe Jahre seines frühen politischen Lebens. 1901 schrieb er im Artikel »Womit beginnen?«:

Unserer Meinung nach muss der Ausgangspunkt der Tätigkeit, der erste praktische Schritt zur Schaffung der gewünschten Organisation, schließlich der Leitfaden, anhand dessen wir diese Organisation un­beirrt entwickeln, vertiefen und erweitern könnten – die Schaffung einer gesamtrussischen politischen Zeitung sein. Wir brauchen vor allem eine Zeitung – ohne sie ist jene systematische Durchführung einer prinzipienfesten und allseitigen Propaganda und Agitation unmöglich, die die ständige und wichtigste Aufgabe der Sozialdemokratie im Allgemeinen und eine besonders dringliche Aufgabe des gegenwärtigen Moments darstellt, wo das Interesse für Politik, für Fragen des Sozialismus in den breitesten Bevölkerungsschichten wach geworden ist. … Ohne ein politisches Organ ist im heutigen Europa eine Bewegung, die die Bezeichnung politisch verdient, undenkbar. Ohne ein solches Organ ist unsere Aufgabe – alle Elemente der politischen Unzufriedenheit und des Protestes zu konzentrieren und mit ihnen die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu befruchten – absolut undurchführbar. Wir haben den ersten Schritt getan, wir haben in der Arbeiterklasse die Leidenschaft für »ökonomische« Enthüllungen, Enthüllungen über die Zustände in den Fabriken, geweckt. Wir müssen den nächsten Schritt tun: in allen einigermaßen bewussten Volksschichten die Leidenschaft für politische Enthüllungen wecken.[38]

Wohl weil ihr spürt, dass eure Ablehnung von »politischen Enthüllungen« theoretisch leicht zu widerlegen ist, wechselt ihr plötzlich das Thema und gebt zu: »Es ist nicht zu Lenins Nachteil, wenn wir feststellen, dass sich die Zeiten seit 1902 geändert haben: Die heutigen kleinbürgerlichen Radikalen sind, anders als ihre ökonomistischen Vorläufer, von Brot-und-Butter-Fragen und von allem, was mit der Arbeiterklasse in Verbindung steht, weit entfernt.«

Ihr schafft es, in einem einzigen Satz ein hohles Klischee, eine unlogische Schlussfolgerung und eine völlig falsche Aussage unterzubringen. Ihr erklärt uns, »die Zeiten« hätten »sich geändert«. Wir wissen alle, dass wir im Jahr 2006 leben und nicht im Jahr 1902. Aber was hat heute die grundsätzliche Bedeutung verringert, die Lenin der Entwicklung des politischen Bewusstseins der Arbeiterklasse zumaß und die er theoretisch begründete? Der Begriff »politische Enthüllungen« ergab sich aus der Analyse des Problems des proletarischen Klassenbewusstseins, eines Problems, das sich direkt aus dem Charakter der kapitalistischen Gesellschaft ergibt. Diese Analyse verlöre nur an Bedeutung, wenn sich die kapitalistische Produktionsweise und der Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft strukturell derart grundlegend verändert hätten, dass sich sozialistisches Klassenbewusstsein auch ohne den zusätzlichen Impuls marxistischer politischer Enthüllungen entwickeln könnte. Wäre dies der Fall, müssten wir auch die Bedeutung von Lenins allgemeineren Aussage neu überdenken, sozialistisches Bewusstsein könne sich nicht spontan entwickeln, sondern müsse von außen in die Arbeiterklasse hineingebracht werden.

Ihr nennt den Unterschied zwischen den damaligen und den heutigen kleinbürgerlichen Radikalen als wichtigen Unterschied zu 1902, der die Bedeutung politischer Enthüllungen mindere. Im Gegensatz zu den alten Ökonomisten seien die heutigen Radikalen »von Brot-und-Butter-Fragen und von allem, was mit der Arbeiterklasse in Verbindung steht, weit entfernt«.

Zunächst einmal hängt die Bedeutung von Lenins Theorie des Klassenbewusstseins nicht davon ab, in welcher Form sich die kleinbürgerlichen Radikalen politisch engagieren oder nicht engagieren. Sie beruht auf der objektiven Struktur und den gesellschaftlichen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft. Zweitens ist euer Standpunkt faktisch falsch. In der heutigen Gewerkschaftsbürokratie wimmelt es von Elementen aus der Mittelklasse, die aus den radikalen politischen Organisationen der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre hervorgegangen sind. Der Vorsitzende der SEIU, Andrew Stern, ist nur einer von zahlreichen Ex-Radikalen, die in den Chefetagen der Arbeiterbürokratie Karriere gemacht haben. Die Bewegung »Neue Richtung«, die den Ortsverband 100 der TWU kontrolliert, ist eine Schöpfung unterschiedlicher radikaler Tendenzen. Die kleinbürgerlich-radikale Tendenz »Solidarität« ist tief in die Bürokratien verschiedener Gewerkschaften integriert. Und keine geringere als Nancy Fields Wohlforth, an die ihr euch sicher noch erinnern werdet, ist vor Kurzem in den Vorstand der AFL-CIO gewählt worden. Ihr Werdegang bestätigt voll und ganz die Einschätzung, die wir beide, Genosse Steiner, vor über dreißig Jahren in der gemeinsam verfassten Broschüre »Die Vierte Internationale und der Renegat Wohlforth« von Fields und ihrem Ex-Mann Tim Wohlforth gemacht haben. Ich rate dir, diese Arbeit noch einmal zu lesen.

Soviel zur Behauptung, die kleinbürgerlichen Radikalen seien »von allem, was mit der Arbeiterklasse in Verbindung steht, weit entfernt«. Das Gegenteil ist der Fall: Sie haben sich zu fanatischen Anhängern des gewerkschaftlichen Opportunismus in seiner reaktionärsten Form bekehrt und versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Arbeiterklasse sozialistische Aktivitäten entfaltet.

Euer nächstes Argument gegen die WSWS ist schlicht absurd. Ihr behauptet, politische Enthüllungen fänden sich auf einer »Unzahl radikaler Websites im Internet und in dem immer beliebteren Medium des Dokumentarfilms. Michael Moore ist durch ›politische Enthüllungen‹ berühmt geworden. Aber das ist immer noch weit weg von Klassenbewusstsein, was sich unangenehm daran gezeigt hat, wie ein Film wie ›Fahrenheit 9/11‹ benutzt wurde, um für die Demokraten zu werben.«

Haltet ihr das für ein ernsthaftes Argument gegen die Arbeit der WSWS? Was sollen wir aus eurem unseriösen logischen Schluss für Folgerungen ziehen: 1. Die WSWS veröffentlicht politische Enthüllungen, 2. Michael Moore veröffentlicht politische Enthüllungen, daher sind 3. die Politik der WSWS und die Politik Michael Moores identisch? Oder vielleicht diese: 1. Kleinbürgerliche Radikale veröffentlichen politische Enthüllungen, 2. WSWS-Autoren veröffentlichen politische Enthüllungen, daher sind 3. WSWS-Autoren kleinbürgerliche Radikale?

Dieser Teil eures Dokuments endet mit der erstaunlichen Aussage: »Wäre Lenin heute am Leben, dann würde er vermutlich sagen, ›politische Enthüllungen‹ seien zwar schön und gut, die schreiende Notwendigkeit für Marxisten bestehe aber darin, alles zu tun, um das enorme Führungsvakuum bei Kämpfen wie dem Verkehrsarbeiterstreik zu füllen.« Lenin als Gewerkschaftsaktivist! Wenn das wahr wäre, würde Marx, wäre er noch am Leben, vermutlich die Geldhandelsabteilung der Deutschen Bank leiten, und Engels wäre vielleicht Vorstandsvorsitzender bei Daimler Benz. Diese Reinkarnationen wären dann allerdings nicht mehr Marx, Engels und Lenin.

9. Die Präsidentenwahl 2004

Im folgenden Abschnitt behauptet ihr, ich sei wegen meiner angeblich objektivistischen und mechanischen Auffassung des Bewusstseins unfähig gewesen, die Ergebnisse der Präsidentenwahl 2004 zu erklären, ich hätte sie für »unerklärlich« gehalten. Ausnahmsweise zitiert ihr einen vollständigen Satz, und zwar aus einem Vortrag, den ich im November 2004 kurz nach der Wahl über deren Ergebnis hielt. Ich erwähnte darin, dass Bush in den am meisten verarmten Bundesstaaten die Mehrheit der Stimmen gewonnen habe: »Die Behauptung, diese Wähler hätten die Republikaner unterstützt, weil ihnen ›Werte‹ wichtiger seien als ihre eigenen materiellen Interessen, ersetzt eine wissenschaftliche soziologische Untersuchung durch Mystik.« Hier endet das Zitat, und ihr verkündet (ohne Seitenangabe): »Damit bleibt völlig unverständlich, was in der Wahl passiert ist, denn irgendwelche Werte müssen dabei eine Rolle gespielt haben.«

Hätte ich nur den von euch zitierten Satz gesagt, dann wäre er als Erklärung für Bushs Wahlsieg in den am meisten verarmten Staaten natürlich unzureichend. Tatsächlich stand er jedoch am Anfang einer ausführlichen Analyse, die ihr unter den Tisch fallen lasst. Unmittelbar nach diesem Satz fuhr ich fort:

Abstrakte Hinweise auf »Werte« – deren exakte Bedeutung niemand kennt – tragen wenig zur Klärung bei, weshalb Arbeiter unter den Einfluss der Republikanischen Partei und ihres Gefolges von religiösen Marktschreiern und moralisierenden Schwindlern geraten sind. Eine überzeugendere Erklärung lautet, dass der nahezu vollständige Zusammenbruch der alten Arbeiterbewegung in Staaten, die einst Hochburgen einer militanten Gewerkschaftsbewegung waren, Millionen Arbeiter zurückgelassen hat, die keine Möglichkeit mehr haben, um sozialen Problemen entgegenzutreten und ihre Interessen als Klasse zu verteidigen. Betrachten wir die gesellschaftlichen Erfahrungen von einem einzigen Teil der amerikanischen Arbeiterklasse.

Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts tobten in West-Virginia und Kentucky sowie in bedeutenden Teilen von Virginia, Tennessee, Arkansas, Ohio und Indiana immer wieder Kämpfe von Bergarbeitern, die in der Gewerkschaft UMWA organisiert waren. Die Bergarbeiter waren wohl der klassenbewussteste Teil der amerikanischen Arbeiterklasse. Sie kämpften unzählige Male gegen mächtige Kohleunternehmen und trotzten dem Weißen Haus. Aber in den 1980er-Jahren erlitten die Bergarbeiter eine Reihe schwerer Niederlagen, an denen der Verrat der Gewerkschaftsbürokratie die Hauptschuld trug. Die UMWA schrumpfte zu einer inhaltslosen, bedeutungslosen Hülle. Im Bergbau wurden Tausende Arbeitsplätze vernichtet.

Arbeitslos, abgeschnitten von den tief verwurzelten sozialen Beziehungen und Kämpfen, die das Klassenbewusstsein über Generationen am Leben erhalten hatten, entfremdet von einer Gewerkschaft, die sie im Stich gelassen hatte, wurden die militanten Arbeiter von gestern empfänglich für die geübten Seelenfänger der Missionsindustrie, die ständig auf der Suche nach neuen Kunden sind. Die Kinder dieser Arbeiter, die vollkommen außerhalb der organisierten Arbeiterbewegung aufgewachsen sind und nichts oder kaum etwas über die Traditionen des Klassenkampfs wissen, stehen vor beträchtlichen Hindernissen, die der Entwicklung von Klassenbewusstsein im Wege stehen. Woher sollen sie die Informationen und Einsichten erhalten, die zur Entwicklung einer kritischen Haltung gegenüber der bestehenden Gesellschaft beitragen und das Verständnis fördern, dass eine bessere und humanere Gesellschaft – in dieser Welt und in ihrer Lebenszeit – möglich ist? Sicher nicht von den bestehenden politischen Parteien und aus der Jauchegrube der Massenmedien.

Das heißt nicht, dass der durchschnittliche amerikanische Arbeiter die Propaganda schluckt, der er vonseiten der Massenmedien und des Parteiapparats der Republikaner pausenlos ausgesetzt ist. Nicht auf Dauer. Er sieht genug vom Leben, um zu wissen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Wenn ein Arbeiter von »Werten« spricht, haben sie für ihn eine ganz andere Bedeutung als für Enron-Chef Kenneth Lay oder für George Bush.

Es gibt mittlerweile mehrere Berichte, die anzweifeln, ob die »Werte«-Frage in der Wahl 2004 wirklich eine so große Rolle gespielt hat. Scheinbar waren die Umfrageergebnisse, auf denen die Behauptungen unmittelbar nach der Wahl beruhten, entweder irreführend, oder sie wurden falsch interpretiert. Ich bin sicher, dass das zutrifft. Aber wichtiger ist, dass die »Werte«-Frage in einem politischen Vakuum hochkam, das entstand, weil keine der beiden Parteien die tatsächlichen sozialen, ökonomischen und politischen Interessen der breiten Masse der amerikanischen Arbeiter artikuliert hat. Die Demokraten, die Repu­blikaner und die Massenmedien bilden zusammen einen großen Chor, der entzückte Hymnen auf den Ruhm des amerikanischen Kapitalismus singt.

Das ist kein vorübergehendes Problem, das durch eine Umschichtung des Personals oder die Wahl eines besseren Kandidaten überwunden werden kann, sondern ein Ergebnis der Evolution des amerikanischen Kapitalismus – der außerordentlichen Vermögenskonzentration in relativ wenigen Händen, der extremen sozialen Ungleichheit, des raschen Niedergangs der traditionellen »Mittelschicht«, die einst als Schiedsrichter im Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Arbeitern diente und eine wichtige Basis für den Sozialreformismus bildete, und schließlich des Verschwindens jeder nennenswerten Gruppe innerhalb der herrschenden Elite, die ernsthaft für den Erhalt traditioneller bürgerlich-demokratischer Herrschaftsformen eintritt.[39]

Es ist wohl eindeutig, dass ich das Ergebnis der Wahlen nicht für »unerklärlich« hielt. Ihr habt es ganz einfach vorgezogen, meine Erklärung nicht zu zitieren. Damit endet die Fälschung aber noch nicht. Ihr behauptet, ich ginge als »mechanischer Materialist« davon aus, dass »das Bewusstsein die Realität, durch die es geformt wurde, richtig versteht, d. h. dass sich die objektiven Bedingungen direkt in ein korrektes Bewusstsein dieser Bedingungen übersetzen«. Eine solche Auffassung ist natürlich falsch. Doch ihr wisst genau, dass ich nie etwas Derartiges gesagt habe. Tatsächlich nutzte ich im vergangenen Sommer einen beträchtlichen Teil meines dritten Vortrags, um zu erklären, warum das spontan in der Arbeiterklasse entstehende Bewusstsein kein sozialistisches Bewusstsein ist. Weil ihr dem politischen Gegner in eurer skrupellosen Polemik Standpunkte unterschiebt, die das Gegenteil dessen sind, was er tatsächlich glaubt und gesagt hat, sehe ich mich erneut gezwungen, einen längeren Auszug aus meinem Vortrag zu zitieren:

Inwieweit sind sich Menschen, die arbeiten gehen, des weltweiten Geflechts wirtschaftlicher Beziehungen bewusst, von dem ihre eigene Arbeit ein winziger Bestandteil ist? Man kann davon ausgehen, dass selbst der intelligenteste Arbeiter nur eine vage Vorstellung von der Beziehung hat, in der seine Arbeit oder sein Unternehmen zu den komplexen Abläufen der modernen transnationalen Produktion und des weltweiten Handels mit Waren und Dienstleistungen steht. Der einzelne Arbeiter ist auch nicht in der Lage, die Geheimnisse der internationalen kapitalistischen Finanzwelt, die Rolle globaler Hedge Fonds und die verborgenen, selbst für Experten auf diesem Gebiet oft rätselhaften Wege zu ergründen, auf denen täglich Dutzende Milliarden Dollar Vermögenswerte über internationale Grenzen hinweg bewegt werden. Die Gegebenheiten der modernen kapitalistischen Produktion, des Handels und der Finanzen sind so komplex, dass selbst Unternehmensleiter und führende Politiker auf die Analysen und Ratschläge großer Forschungseinrichtungen angewiesen sind, die die verfügbaren Daten in der Regel unterschiedlich deuten.

Aber das Problem des Klassenbewusstseins beschränkt sich nicht auf die offensichtliche Schwierigkeit, die komplexen Erscheinungen des modernen Wirtschaftslebens zu verstehen und zu meistern. Grundlegender ist, dass die genaue gesellschaftliche Beziehung zwischen einem einzelnen Arbeiter und seinem Arbeitgeber, ganz zu schweigen von der Beziehung zwischen der gesamten Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, nicht auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung und der unmittelbaren Erfahrung zu begreifen ist.

Selbst ein Arbeiter oder eine Arbeiterin, die überzeugt sind, dass sie ausgebeutet werden, können aufgrund ihrer eigenen bitteren Erfahrung die gesellschaftlichen und ökonomischen Mechanismen nicht wahrnehmen, auf denen diese Ausbeutung beruht. Der Begriff der Ausbeutung ist überdies nicht leicht zu verstehen; er lässt sich nicht direkt aus dem instinktiven Gefühl ableiten, man werde schlecht bezahlt. Der Arbeiter, der sich um eine Stelle bewirbt, nimmt nicht wahr, dass er seine Arbeitskraft zum Kauf anbietet oder dass diese Arbeitskraft die besondere Eigenschaft besitzt, einen höheren Wert zu erzeugen als der Preis (Lohn), den sie selbst gekostet hat. Der Arbeiter nimmt nicht wahr, dass der Profit aus diesem Unterschied zwischen den Kosten der Arbeitskraft und dem durch sie erzeugten Wert gewonnen wird.

Wenn der Arbeiter eine Ware für eine bestimmte Summe Geld kauft, ist er sich auch nicht bewusst, dass es sich bei diesem Austausch dem Wesen nach nicht um eine Beziehung zwischen Dingen (ein Mantel oder eine andere Ware gegen eine bestimmte Summe Geld), sondern um eine Beziehung zwischen Menschen handelt. Er versteht den Charakter des Geldes nicht, wie es historisch als Ausdruck der Wertform entstanden ist, und wie es in einer Gesellschaft, in der die Produktion und der Austausch von Waren verallgemeinert worden sind, die tiefer liegenden sozialen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft verschleiert.

Das eben Gesagte könnte als allgemeine Einführung in die theoretische und erkenntnistheoretische Grundlage von Marx’ wichtigstem Werk, dem »Kapital«, dienen. Im Schlussteil des ersten Kapitels des ersten Bands entwickelt Marx die Theorie des Warenfetischismus. Sie erklärt die Ursache der Mystifikation der sozialen Beziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft, den Grund, weshalb in diesem Wirtschaftssystem die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen notwendigerweise als Beziehungen zwischen Dingen erscheinen. Auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmung und unmittelbarer Erfahrung ist es für einen Arbeiter nicht ersichtlich, und kann es auch nicht sein, dass der Wert jeder Ware der kristallisierte Ausdruck der Summe abstrakter Arbeit ist, die in ihrer Produktion verausgabt wurde. Die Entdeckung des Wesens der Wertform war ein historischer Meilenstein des wissenschaftlichen Denkens. Ohne diese Entdeckung wäre es unmöglich gewesen, die objektiven sozialen und ökonomischen Grundlagen des Klassenkampfs und deren revolutionäre Konsequenzen zu verstehen.

Ein Arbeiter mag die sozialen Auswirkungen des Systems, in dem er lebt, hassen, er ist aber nicht in der Lage, aufgrund seiner unmittelbaren Erfahrung die Ursprünge, die internen Widersprüche und die historische Begrenztheit dieses Systems zu begreifen. Die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, das Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit, die Unvermeidlichkeit des Klassenkampfs und dessen revolutionärer Konsequenzen wurden erst dank der wissenschaftlichen Arbeit erkennbar, mit der Marx’ Name für immer verbunden sein wird. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und das Analyseverfahren, mit dem sie erzielt wurden, müssen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden. Das ist die Aufgabe der revolutionären Partei.[40]

Diese wörtlich aus den Vorträgen des vergangenen Sommers zitierten Absätze vertreten genau das Gegenteil von dem, was ihr mir unterstellt.

10. Marxismus und Aufklärung

Eine prinzipielle Polemik setzt voraus, dass die Argumente des Gegners richtig dargestellt werden. Dass ihr dazu nicht in der Lage seid und euch gezwungen seht, zu täuschen und zu fälschen – also zu lügen –, hat ernste und beunruhigende politische Implikationen. Trotzki hat darauf hingewiesen, dass die Lüge im politischen Leben eine wichtige Aufgabe erfüllt. Sie dient dazu, gesellschaftliche Interessen zu verschleiern und Schwächen und Widersprüche politischer Standpunkte zu verbergen. Eure unehrlichen Methoden ergeben sich aus eurem Bemühen, öffentlich als Marxisten dazustehen, obwohl ihr die theoretischen und politischen Grundlagen des Marxismus über Bord geworfen habt – und das keineswegs unbewusst. Eure Meinungsverschiedenheiten mit dem Internationalen Komitee betreffen nicht vereinzelte Programmpunkte, sondern grundlegende Fragen der philosophischen Weltanschauung, auf die sich der Kampf für den Sozialismus gründet.

Bevor ihr nun aufspringt, um gegen diese »Verunglimpfung« eurer revolutionären Ehre zu protestieren, will ich auf einige Abschnitte in eurem Dokument eingehen, die der historischen Weltsicht des Marxismus völlig fremd sind. Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht eure Äußerung, meine Kritik der Postmoderne diene dazu, »einer unkritischen Verteidigung der Aufklärung das Wort zu reden«.

Ihr bezieht euch auf eine Passage aus meinem ersten Vortrag, die ihr aber nicht zitiert. Sie befindet sich in dem Abschnitt mit dem Titel »Historisches Bewusstsein und Postmodernismus«. Ich sage darin ­Folgendes:

Die von uns vertretene Geschichtsauffassung weist der Kenntnis und theoretischen Aneignung historischer Erfahrungen im Kampf für die Befreiung des Menschen eine entscheidende Rolle zu. Sie steht damit in einem unversöhnlichen Gegensatz zu sämtlichen vorherrschenden Strömungen des bürgerlichen Denkens. Der politische, wirtschaftliche und soziale Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft spiegelt sich auch in ihrem intellektuellen Niedergang wider. In Zeiten der politischen Reaktion, sagte Trotzki einmal, fletscht die Dummheit die Zähne.

Die gewieftesten und zynischsten akademischen Vertreter des bürgerlichen Denkens, die Postmodernisten, treten heute für eine ganz besondere Form der Dummheit ein: Für die Unkenntnis und Verachtung der Geschichte. Ihre Ablehnung der Bedeutung der Geschichte und der entscheidenden Rolle, die ihr alle fortschrittlichen Schulen des gesellschaftlichen Denkens zuschreiben, ist eng mit einem weiteren Element ihrer theoretischen Auffassung verknüpft: Der Leugnung und ausdrücklichen Zurückweisung der objektiven Wahrheit als Ziel philosophischer Forschung.

Was ist Postmodernismus? Ich möchte hierzu einen prominenten akademischen Verteidiger dieser Strömung zitieren, Professor Keith Jenkins:

»Wir leben heute im allgemeinen Zustand der Postmoderne. Wir haben gar keine andere Wahl. Die Postmoderne ist nicht eine ›Ideologie‹ oder ein Standpunkt, den wir uns auswählen können oder nicht, die Postmoderne ist ganz einfach unser Zustand: Sie ist unser Schicksal. Und dieser Zustand ist wohl durch das generelle Versagen des Experiments im gesellschaftlichen Leben verursacht worden, das wir Moderne nennen – ein Versagen, das wir heute, da sich Staub über das 20. Jahrhundert senkt, sehr klar ausmachen können. Es ist, gemessen an seinen eigenen Kriterien, ein generelles Versagen des um das 18. Jahrhundert in Europa begonnenen Versuchs, durch den Einsatz von Vernunft, Wissenschaft und Technik ein Niveau des persönlichen und gesellschaftlichen Wohlergehens in Gesellschaftsformationen zu erreichen, von denen man sagen könnte, sie hätten sich bemüht, ›Menschenrechtsgemeinschaften‹ zu werden, indem sie Gesetze verabschiedet haben, die auf eine ständig umfassendere Emanzipation ihrer Bürger oder Untertanen abzielten.

… ›Reale‹ Voraussetzungen der Art, wie sie zur Untermauerung des Experiments der Moderne angenommen wurden, gibt es nicht – und hat es nie gegeben.« (Keith Jenkins, »On ›What is History?‹ From Carr and Elton to Rorty and White«, London und New York 1995, S. 6–7, aus dem Englischen.)

Ich möchte diese Passage »dekonstruieren«. Seit mehr als zweihundert Jahren, seit dem 18. Jahrhundert, hat es Menschen gegeben, die, inspiriert durch die Wissenschaft und die Philosophie der Aufklärung, an den Fortschritt und an die Möglichkeit der Vervollkommnung des Menschen glaubten. Gestützt auf ein, wie sie glaubten, wissenschaftliches Verständnis objektiver historischer Gesetzmäßigkeiten haben sie nach einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft gestrebt. Es gab Marxisten, die glaubten, die Geschichte sei ein gesetzmäßiger Prozess, bestimmt durch sozioökonomische Kräfte, die außerhalb des subjektiven Bewusstseins der Individuen existieren, die der Mensch jedoch entdecken, verstehen und zum Wohle des menschlichen Fortschritts beeinflussen kann.

All diese Vorstellungen, so erklären uns die Postmodernisten, haben sich als naive Illusionen erwiesen. Wir wissen es heute besser: Es gibt keine »Geschichte« als solche. Es gibt sie nicht einmal im Sinne eines objektiven Prozesses. Es gibt lediglich subjektive »Erzählungen« oder »Diskurse« mit unterschiedlichem Vokabular, das dem einen oder anderen subjektiv bestimmten Zweck dient, was immer dieser Zweck auch sein mag.

So gesehen ist allein schon die Vorstellung, »Lehren« aus der »Geschichte« ziehen zu wollen, ein fruchtloses Vorhaben. Es gibt nichts, das man studieren, nichts, das man lernen könnte. Jenkins erklärt:

»Wir müssen also verstehen, dass wir in gesellschaftlichen Formationen leben, die keine ontologischen, epistemologischen oder ethischen Gründe bieten, die rechtfertigen, dass unsere Auffassungen mehr wären als eine auf sich selbst bezogene (rhetorische) Konversation … Folglich erkennen wir heute, dass es niemals so etwas wie eine Vergangenheit gegeben hat, noch geben wird, die eine Art Wesen zum Ausdruck bringt.« (ebd., S. 7–9.)

In eine verständliche Sprache übersetzt sagt Jenkins: 1. Das Funktionieren menschlicher Gesellschaften, vergangener oder zukünftiger, kann nicht mit Hilfe von Gesetzen verstanden werden, die entdeckt werden können oder ihrer Entdeckung harren. 2. Es gibt keine objektive Grundlage für das, was Menschen über die Gesellschaft, in der sie leben, denken, sagen oder tun. Leute, die sich Historiker nennen, mögen diese oder jene Interpretation der Vergangenheit vorbringen. Doch das Ersetzen einer Interpretation durch eine andere bedeutet keinerlei Fortschritt in Richtung größerer objektiver Wahrheit im Vergleich zu dem zuvor Geschriebenen – denn es gibt keine objektive Wahrheit, der man näher kommen könnte. Die eine Weise, über die Vergangenheit zu sprechen, löst lediglich die andere ab – aus Gründen, die den subjektiv wahrgenommenen Zwecken des Historikers entsprechen.

Die Vertreter dieser Sichtweise verkünden das Ableben der Moderne, doch sie weigern sich, die historischen und politischen Urteile zu hinterfragen, auf denen ihre Schlüsse beruhen. Doch sie haben natürlich politische Auffassungen, die in ihren theoretischen Ansichten zum Ausdruck kommen. So hat Professor Hayden White, ein führender Vertreter des Postmodernismus, geschrieben:

»Nun bin ich gegen Revolutionen, gleichgültig, ob sie von ›oben‹ oder von ›unten‹ in der sozialen Hierarchie angezettelt werden, und gleichgültig auch, ob sie von Anführern gesteuert werden, welche vorgeben, eine Sozial- und Geschichtswissenschaft zu besitzen, oder gar meinen, die politische ›Spontaneität‹ zu zelebrieren.« (Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1990, S. 84.)

Eine philosophische Auffassung verliert aufgrund der persönlichen poli­tischen Ansichten ihrer Vertreter nicht automatisch ihre Legitimation. Doch die anti-marxistische und anti-sozialistische Stoßrichtung des Postmodernismus ist so augenfällig, dass es praktisch unmöglich ist, seine theoretischen Auffassungen von seiner politischen Perspektive zu trennen.[41]

Ihr greift diese Analyse an, und erwidert:

Jeder, der das von der Aufklärung hinterlassene Erbe der Vernunft verteidigt, ist fortschrittlich, und jeder, der dagegen ist, ist rückschrittlich. Doch diese krude Dichotomie verdunkelt die wichtige Tatsache, dass der Marxismus im Kampf um die Vernunft an zwei Fronten kämpfen muss: Gegen den Irrationalismus (ob nun in Form des religiösen Mystizismus oder des Nihilismus Nietzsche-Heidegger’scher Prägung und seiner postmodernen Spielarten) und gegen die weitaus weiter verbreitete »Vernunft« der bürgerlichen Gesellschaft, die (insbesondere in Form des Pragmatismus und des Empirismus) die Klassenherrschaft rationalisiert. In letzterem Sinne ist der Marxismus eine dialektische Negation der Aufklärung: Marx entfernte die »Vernunft« der Aufklärungsphilosophen und entdeckte darunter die Rechtfertigung einer neuen Form von Klassenunterdrückung.

Das ist ein völliges Durcheinander. Zunächst ist euer Gebrauch des Begriffs »jeder« so unklar, dass der Leser nicht genau feststellen kann, welche Strömungen ihr damit meint. In dem Abschnitt, dem ihr widersprecht, greife ich die Grundauffassung der Postmoderne an, laut der das Projekt der »Moderne«, das von der Möglichkeit des menschlichen Fortschritts überzeugt war, gescheitert ist. Dieser Glaube an die Möglichkeit des menschlichen Fortschritts ging bis auf die Aufklärung zurück und hatte einen großen Teil des 20. Jahrhunderts überdauert. Eure Reaktion auf diesen Teil meines Vortrags kann nur heißen, dass ihr euch mit den Auffassungen identifiziert, die ich kritisiere. Ihr erklärt aber nicht, welche Verteidiger des aufklärerischen Erbes der Vernunft und des Vertrauens in die Möglichkeit menschlichen Fortschritts ihr für rückschrittlich, und welche Gegner dieses Erbes ihr für fortschrittlich haltet. Und, wenn ich fragen darf, in welcher Schrift eines großen Marxisten findet man eine Verurteilung der Denker der Aufklärung oder ein Lob für ihre Gegner?

Ihr erweckt in diesem Absatz den grob vereinfachenden Eindruck, die Vernunft der Aufklärer habe lediglich der Rechtfertigung der Klassenunterdrückung gedient, und vermengt die theoretischen Auseinandersetzungen, die das geistige Fundament für die großen bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts legten, mit der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaften, die schließlich aus diesen Aufständen hervorgingen, zu einem einzigen undifferenzierten und unhistorischen Prozess. Ungeachtet der historisch bedingten Illusionen der Denker der Aufklärung – insbesondere ihrer Vorstellung, die Befreiung des »Dritten Standes« bedeute die Befreiung der ganzen Menschheit – bereitete ihre theoretische Arbeit schließlich den geistigen und (innerhalb gewisser Grenzen) auch den moralischen Boden für den sozialistischen Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft. Die revolutionären Denker des 17. und 18. Jahrhunderts schmiedeten Waffen, die die sozialistische Bewegung und die aufkommende Arbeiterklasse schließlich gegen die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts richten sollten. Der Verrat der Ideale der Aufklärung durch die Bourgeoisie in der Zeit nach der Französischen Revolution gab einen wichtigen theoretischen Anstoß zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Eure Behauptung, die Philosophen der Aufklärung hätten die »Rechtfertigung einer neuen Form von Klassenunterdrückung« geliefert, ist grotesk einseitig und grundlegend falsch. Ihr ignoriert, dass einige Denker der Aufklärung implizit kommunistische Theorien vertraten, und scheint euch nicht darüber bewusst zu sein, dass die materialistische Philosophie der Aufklärung ungeachtet ihrer Beschränktheit zur Zurückweisung von Eigentum und Ungleichheit neigte.

In seinem Kommentar zum französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts schrieb Marx in »Die heilige Familie«:

Es bedarf keines großen Scharfsinnes, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflusse der äußern Umgebung auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen.[42]

Euer Hinweis auf die »Vernunft« der bürgerlichen Gesellschaft, die Marxisten eurer Ansicht nach bekämpfen müssen, ist konfuse und irreführend. Im Verlauf der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und mit dem Anwachsen der Klassengegensätze neigte die Bourgeoisie zunehmend dazu, die »Vernunft« zugunsten subjektivistischer und irrationalistischer Philosophien aufzugeben. Diese Ablehnung der Vernunft durch die Bourgeoisie zeigte sich im schwindenden Ansehen Hegels nach den gescheiterten Revolutionen von 1848 und 1849, als er von Schopenhauer und später von Nietzsche als Galionsfigur der Philosophie abgelöst wurde. Die großen Marxisten haben das revolutionäre Erbe der aufklärerischen Vernunft stets für sich beansprucht. Sie verstanden darunter die Fähigkeit des Menschen, Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu beenden, wenn er sein Handeln auf ein wissenschaftliches Verständnis der Gesetze von Natur und Gesellschaft stützt. Trotzki berief sich auf dieses Erbe, als er 1937 vor der Untersuchungskommission zu den Moskauer Prozessen unter Vorsitz des amerikanischen Philosophen John Dewey seine Schlussrede hielt:

Geschätzte Kommissionsmitglieder! Die Erfahrung meines Lebens, in dem es zahlreiche Erfolge oder Niederlagen gab, hat meinen Glauben an die klare und helle Zukunft des Menschen nicht zerstört. Sie hat diesem Glauben im Gegenteil eine unbeugsame Kraft verliehen. Dieser Glaube an Vernunft, an Wahrheit und an menschliche Solidarität, den ich im Alter von achtzehn Jahren mit mir in die Arbeiterviertel der russischen Provinzstadt Nikolajew nahm – diesen Glauben habe ich mir voll und ganz bewahrt.[43]

Mit euren Ausfällen gegen die Aufklärung stellt ihr euch nicht in die Tradition von Marx, sondern in die Tradition der demoralisierten kleinbürgerlichen Theoretiker der Frankfurter Schule – besonders der Ansichten, die ursprünglich von Max Horkheimer und Theodor Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« formuliert wurden. Dieses Werk macht die Aufklärung des 18. Jahrhunderts für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Es führt die menschliche Vernunft, die Wissenschaft, die Technologie und selbst den sozialen Fortschritt als Faktoren an, die zum Triumph des Faschismus beitrugen. Die Hauptargumente der »Dialektik der Aufklärung« fasste Genosse Peter Schwarz vergangenen Sommer in einem Vortrag in Ann Arbor zusammen. Euer Dokument erwähnt diese Analyse nicht. Das Jonglieren mit Begriffen wie »dialektische Negation« und »dialektischer Bruch« macht euren Angriff auf die Aufklärung weder stichhaltiger noch tiefer. Es zeigt aber, dass ihr eine pseudo-hegelianische Phraseologie benutzt, um antimarxistische Auffassungen zu rechtfertigen.

11. Der Ursprung der Kampagne für »Utopia«

Mit eurem Angriff auf das Internationale Komitee wollt ihr beweisen, dass unsere Weigerung, eurem pseudo-utopischen Unterfangen einen wichtigen Platz in unserem revolutionären Programm einzuräumen, ein Ergebnis der »abstumpfenden Auswirkungen des Objektivismus auf den Kampf für sozialistisches Bewusstsein« sei. Außerdem behauptet ihr, meine »scharfe Zurückweisung des Utopismus« zeige, dass »der Marxismus noch immer an einem falschen, reduktiven Materialismus krankt, der ›die menschlichen Faktoren missachtet‹ und den Kampf für sozialistisches Klassenbewusstsein gering schätzt«.

An dieser Stelle ist es notwendig, noch einmal nachzuvollziehen, wie ihr im Verlauf der letzten zehn Jahre zu dieser vernichtenden Anschuldigung gegen das Internationale Komitee und meine eigenen theoretischen und politischen Ansichten gelangt seid.

Der erste ernsthafte Hinweis darauf, dass wir uns in verschiedene politische Richtungen bewegen, kam 1998. Damals hattest du, Genosse Brenner, der »World Socialist Web Site« einen langen Artikel zum Thema Sexualität und Geschlechterrollen geschickt, den wir nicht veröffentlichten. Es schien uns, dass der Artikel auf höchst spekulativen und zweifelhaften Behauptungen basierte, die die Bedeutung der Biologie für die sexuelle Orientierung minimierten, wenn nicht ganz leugneten. Nichts deutete darauf hin, dass der Artikel auf einem ernsthaften Studium der Evolutionsbiologie oder der Anthropologie beruhte. Genosse Walsh, der den Artikel durchsah, machte dich auf einige dieser Bedenken aufmerksam. Daraufhin sandtest du uns am 28. Juni 1998 eine lange Antwort, die unsere Einwände gegen deinen Artikel nicht entkräftete, sondern Bedenken über deine neue programmatische Orientierung weckte.

Du schriebst uns, es sei dringend notwendig, eine »alternative Gendertheorie« zu entwickeln. Dies werde »tiefe Auswirkungen auf jedes sozialistische Projekt zur Umstrukturierung der Familie« haben. Für Marxisten stehe »in dieser Frage viel auf dem Spiel«, und unser Standpunkt zu dieser Frage könne »unseren Bemühungen, Unterstützung für die sozialistische Revolution zu gewinnen, förderlich – oder hinderlich – sein«.

Vor dem Erhalt deines Briefs war keinem von uns in den Sinn gekommen, dass ein dringender Bedarf nach einem »sozialistischen Projekt zur Umstrukturierung der Familie« bestehe, geschweige denn nach einer neuen Auffassung des Genders oder nach einer »marxistischen Theorie der Sexualität«. Darüber hinaus war Genosse Brenners Brief in einem Stil verfasst, dessen literarische Ästhetik stark zu wünschen übrig ließ. Er war bewusst darauf ausgelegt, den Leser auf unreife Weise zu schockieren. Und er enthielt nicht ein einziges Zitat aus einem wissenschaftlichen Text, um seine extravaganten und reißerischen Argumente zu untermauern.[44]

Obwohl wir über Umwege hörten, dass du unzufrieden über unsere Entscheidung seist, deinen Artikel nicht zu veröffentlichen, kamen erst im Jahr 2002 neue Differenzen auf. Am 30. Mai 2002 veröffentlichte die WSWS einen Brief von Genosse Nick Beams, dem nationalen Sekretär der australischen Socialist Equality Party. Als Mitglied der Internationalen Redaktion der WSWS beantwortete er darin Fragen eines Lesers über das Leben im Sozialismus. Die Fragen berührten eine weite Spanne von Themen, unter anderem das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Effizienz und Vollbeschäftigung, das Problem der individuellen Motivation und Initiative, die Zukunft von Kleinunternehmen, die Entscheidungsfindung durch die Regierung, die genaue Lage einer zukünftigen Welthauptstadt, die moralischen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft und den Einfluss des Sozialismus auf Familie, Menschenrechte und Ökologie. Es waren typische Fragen der Art, wie sie in politischen Diskussionen mit Menschen aufkommen, die gerade erst Bekanntschaft mit dem Sozialismus gemacht haben. Solche Fragen verdienen eine ernsthafte Antwort. Marxisten verstehen aber auch, wie wichtig es ist, im Interesse der politischen und theoretischen Klärung darauf hinzuweisen, dass der Sozialismus nicht aus einer Reihe im Voraus festgelegter Rezepte besteht. Wir würden nicht unter allen Umständen Abstand davon nehmen, über die Zukunft im Sozialismus zu spekulieren. Doch als historische Materialisten verstehen wir die Grenzen derartiger Spekulationen: Sie müssen sich in jedem Fall auf eine tiefgründige Analyse der realen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr hervorgebrachten gesellschaftlichen Beziehungen stützen. Darüber hinaus werden die wichtigsten Merkmale einer sozialistischen Gesellschaft das Ergebnis der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse sein und sich nicht in Übereinstimmung mit einem Schema entwickeln, das die Führer im Voraus ausarbeiten.

Um ein Bild der sozialistischen Gesellschaft gebeten, argumentierte Beams entsprechend. Er schrieb: »Die sozialistische Gesellschaft wird sich nicht in Übereinstimmung mit einer Reihe von Vorschriften und Regeln entwickeln, die ein Individuum, eine politische Partei oder eine Regierungsinstitution vorher festgelegt haben. Sie wird sich vielmehr auf der Grundlage des Handelns ihrer Mitglieder entwickeln, die zum ersten Mal in der Geschichte ihre eigene gesellschaftliche Organisation bewusst und als Teil ihres Alltagslebens gestalten werden – frei von der Herrschaft und den Vorschriften des freien Marktes oder einer über ihnen stehenden bürokratischen Autorität.« Beams betonte auch, die materielle Voraussetzung für eine Gesellschaft, die nach der wirklichen Emanzipation des Menschen strebe, sei »die Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität bis zu einem Punkt, an dem die große Mehrheit der Menschheit nicht länger den längsten Teil ihres Arbeitstages darauf verwenden muss, die Mittel zu ihrer Selbsterhaltung zu erzeugen. Der große Beitrag des Kapitalismus zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation besteht darin, dass er durch die kontinuierliche Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität die notwendigen materiellen Voraussetzungen für eine derartige, wirkliche Emanzipation des Menschen geschaffen hat.« Beams legte dann kurz dar, wie eine sozialistische Gesellschaft auf der Grundlage dieser materiellen Verhältnisse einige der vom Briefschreiber gestellten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen angehen würde. Doch was die Frage der Moral betrifft, schrieb Beams: »Der Marxismus hat es immer abgelehnt, irgendein moralisches Dogma zu verfügen, und stets darauf hingewiesen, dass die Moral, insofern die Gesellschaft immer in Klassen gespalten war, eine Klassenfrage ist. Moralische Werte rechtfertigen entweder die Interessen einer herrschenden Schicht, oder sie verkörpern die Interessen der unterdrückten Klassen. Wenn die Klassengesellschaft überwunden ist, wird sich eine neue Moralität entwickeln.« Diese Antwort war selbstverständlich nicht als letztes Wort zum Thema Marxismus und Moralität gedacht. Als kurze Antwort auf einen Leserbrief war sie jedoch völlig angemessen und korrekt. In ähnlicher Weise beschränkte sich Beams zum Thema Familie, einem äußerst komplexen Gegenstand, auf die zutreffende Feststellung: »Die sozialistische Gesellschaft wird keinerlei Vorschriften machen. Doch werden die Menschen die materiellen Mittel zur Verfügung haben, frei in diejenigen Verhältnisse zueinander zu treten, die sie für sinnvoll halten.«[45]

Du schriebst darauf am 24. Juli 2002 einen Brief, Genosse Brenner, der Beams Antwort auf die Fragen des Lesers strikt ablehnte. »Es ist unmöglich«, schriebst du, »aus Beams’ Antwort eine Vorstellung über den Stellenwert der Utopie in der Weltsicht des zeitgenössischen Marxismus zu bekommen.« Die kurze Antwort darauf – wenn auch nicht die, die du hören möchtest – lautet, dass die Utopie exakt den Stellenwert einnimmt, der ihr in einem ernsthaften revolutionären Programm zukommt, das auf einer Analyse der sozioökonomischen Grundlagen des Kapitalismus und der Gesetze der historischen Entwicklung fußt: Sie ist nicht Teil eines marxistischen Programms.

Wir werden etwas später genauer darauf eingehen, wollen jedoch zunächst zu deinem Brief zurückkehren. Du protestierst, Beams habe dem Leser nicht angemessen geantwortet, und erklärst: »Alle seine [des Lesers] Fragen laufen im Wesentlichen auf eine Frage hinaus: Was würden Sozialisten tun, wenn sie die Gesellschaft lenkten? Eine Bewegung, die zu einer Revolution aufruft, braucht eine überzeugende Antwort auf diese Frage, das heißt, sie braucht Taktiken zu einer ganzen Palette gesellschaftlicher Fragen sowie eine klare Vision der Gesellschaft, die das revolutionäre Programm hervorbringen soll. Andernfalls ist der Aufruf zur Revolution unseriös.«

Die Behauptung, es fehle der Vierten Internationale und ihren Sektionen ein Programm, es mangele uns an »Taktiken zu einer ganzen Palette gesellschaftlicher Fragen«, und unsere Bewegung rufe zur Revolution auf, ohne eine klare Vorstellung darüber zu haben, welche Art Gesellschaft wir als Alternative zum Kapitalismus vorschlagen, ist völlig ungerechtfertigt. Es gibt keine andere Partei, die derart umfassende programmatische Aussagen veröffentlicht hat wie das Internationale Komitee der Vierten Internationale.

Eine umfassende Sammlung der programmatischen Dokumente der Vierten Internationale und ihrer Sektionen (zurückreichend bis 1938) würde Dutzende von Bänden füllen. Um der Kürze willen werde ich mich auf ein Beispiel unserer programmatischen Standpunkte beschränken. Es ist dem Bericht entnommen, in dem ich im Juni 1995 die Umwandlung der Workers League in die Socialist Equality Party vorschlug:

Das Ziel der Partei sollte in ihrem Namen klar genannt werden, und zwar in einer Weise, dass die Arbeiter es verstehen und sich mit ihm identifizieren können. Ich schlage vor, dass wir an diesem Punkt mit den Vorbereitungen beginnen, die Workers League in die Socialist Equality Party umzuwandeln.

Wenn wir diese Partei der Arbeiterklasse vorstellen, müssen wir erklären, dass ihr Ziel die Errichtung einer Arbeiterregierung ist: Damit meinen wir eine Regierung der Arbeiter, durch die Arbeiter und für die Arbeiter. Eine solche Regierung wird die politische Macht, die sie wenn möglich mit demokratischen Mitteln erringen will, dazu benutzen, das wirtschaftliche Leben im Interesse der Arbeiterklasse zu reorganisieren, die gesellschaftlich zerstörerischen Marktkräfte des Kapitalismus durch demokratisch-gesellschaftliche Planung zu überwinden und zu ersetzen, die Produktion radikal zu reorganisieren, um die dringenden sozialen Bedürfnisse der arbeitenden Menschen zu befriedigen und eine radikale und sozial gerechte Umverteilung des Reichtums zugunsten der arbeitenden Bevölkerung zu erreichen und dadurch die Grundlage für den Sozialismus zu legen.

Wir werden betonen, dass diese Ziele der Socialist Equality Party nur im Bündnis mit und als integraler Teil einer bewusst internationalistischen Bewegung der Arbeiterklasse verwirklicht werden können. Es kann keine soziale Gleichheit und soziale Gerechtigkeit für die amerikanischen Arbeiter geben, solange multinationale und transnationale Konzerne ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern unterdrücken. Es gibt außerdem keine funktionierende nationale Strategie, auf die der Klassenkampf gegründet werden kann. Die Arbeiterklasse muss der internationalen Strategie der transnationalen Konzerne konsequent und systematisch ihre eigene internationale Strategie entgegensetzen. In dieser entscheidenden Frage, die den Härtetest für ein sozialistisches Programm darstellt, kann es keinen Kompromiss geben.

In ihrem Bemühen, die Arbeiterklasse politisch zu organisieren, muss die Socialist Equality Party auf die dringenden Bedürfnisse der Massen reagieren, die aus den sozialen Bedingungen hervorgehen. In einer Zeit, in der das internationale Kapital eine pausenlose Offensive gegen die Arbeiterklasse führt, nehmen die sozialen Forderungen, die den grundlegenden Bedürfnissen der Arbeiterklasse entsprechen, einen revolutionären Charakter an. Schließlich hätten die alten Organisationen reformistische Forderungen nicht aufgegeben, wenn es noch möglich wäre, sie mit reformistischen Mitteln zu erreichen. Jede, auch die einfachste Forderung der Arbeiterklasse führt zu einer Konfrontation zwischen der Arbeiterklasse und dem kapitalistischen Staat.

Wir müssen die Forderungen, die wir in unser Programm aufnehmen werden, detailliert darstellen. Es ist aber nicht notwendig, ein Programm zu schreiben, als ob es ein Entwurf für die sozialistische Zukunftsutopie wäre, vielmehr muss es die Arbeiterklasse mit einem verbindenden Ziel ausstatten, das mit ihren objektiven Interessen übereinstimmt. Außerdem muss es eine Saite im Bewusstsein der Massen zum Klingen bringen. Die Forderung nach sozialer Gleichheit fasst nicht nur das grundlegende Ziel der sozialistischen Bewegung zusammen. Sie belebt auch die egalitären Traditionen, die so tief in den echt demokratischen und revolutionären Traditionen der amerikanischen Arbeiter verwurzelt sind. Alle großen sozialen Kämpfe der amerikanischen Geschichte hatten auf ihr Banner die Forderung nach sozialer Gleichheit geschrieben. Es ist kein Zufall, dass heute, unter den vorherrschenden Bedingungen politischer Reaktion, dieses Ideal gnadenlos angegriffen wird.[46]

Wenn du dem Internationalen Komitee vorwirfst, ihm fehle ein Programm, dann meinst du in Wahrheit, dass die marxistische Auffassung eines Programms und seiner Beziehung zum Kampf um die Arbeitermacht deiner eigenen widerspricht. Du glaubst, wie wir sehen werden, die revolutionäre Bewegung solle »sozialistische« Enzykliken zu Themen veröffentlichen, die weit außerhalb des Rahmens eines politischen Programms liegen – wie der angemessenen Form der nachrevolutionären Familie und dem Charakter der Sexualität im Kommunismus. Du bist, Genosse Brenner, nicht sonderlich an Forderungen interessiert, die sich inhaltlich aus den objektiven Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft ergeben und die politischen und sozioökonomischen Interessen der Arbeiterklasse und ihres Kampfs gegen kapitalistische Unterdrückung, Ausbeutung und Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Du verstehst unter einem Programm stattdessen, um deinen Brief zu zitieren, »einen sozialistischen Traum, der in der Vorstellung von Millionen Menschen den Sozialismus mit einem glücklichen Leben verknüpft«. Das ist der Kern deines Rufs nach einer Wiederbelebung des Utopismus.

Als Beams am 29. August 2002 auf Brenners Beschwerdebrief antwortete, konzentrierte er sich auf eine wichtige Frage:

Was ich betont habe, und was du so nachdrücklich ablehnst, ist, dass die sozialistische Gesellschaft keine Gesellschaft ist, die von Sozialisten gelenkt wird. Sie ist vielmehr eine Gesellschaftsform, in der die Arbeiterklasse, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, zum ersten Mal in der Geschichte die wirtschaftliche und politische Macht in ihre eigenen Hände nimmt. Hierin steckt eine sehr wichtige Grundauffassung: Die Emanzipation der Arbeit wird nicht durch eine Reihe von Vorschriften verwirklicht, die eine Autorität von oben erlässt, sondern durch die Massen selbst.

In Antwort auf diesen Brief von Nick Beams hast du dein Manifest über die Utopie geschrieben. Du hast uns mitgeteilt, dass dieses Dokument zweierlei beabsichtige: Zum ersten, »ernstlich fehlgeleitete« Auffassungen über das Verhältnis von Marxismus und Utopismus zu berichtigen, und zweitens, »die Spannung zwischen Wissenschaft und Utopismus zu untersuchen, die Letzteren zu einem regelrechten Tabu« für die marxistische Bewegung habe werden lassen. Nach der Warnung, dass eine »endgültige Behandlung all dieser Themen eine Diskussion in Buchlänge erfordern würde«, hast du dich auf 27.393 Worte beschränkt. Dies, versichertest du uns, reiche aus, »um zu beweisen, dass die Erneuerung der Aufmerksamkeit für den Utopismus lebenswichtig für eine Wiedergeburt der sozialistischen Kultur in der Arbeiterklasse« sei.

12. Marx, Engels und Utopismus

Wie bereits erwähnt, behauptest du, Beams‘ »ernstlich fehlgeleitete« Ansichten über den Utopismus seien »bezeichnend für eine vorherrschende (und seit langem bestehende) Auffassung innerhalb der marxistischen Bewegung …« Außerdem erwüchsen Beams’ Irrtümer aus der »Spannung zwischen Wissenschaft und Utopismus, die Letzteren zu einem regelrechten Tabu« habe werden lassen. Du erklärst, Beams sei der letzte in einer langen, bis zur Zweiten Internationale im 19. Jahrhundert zurückreichenden Reihe von Revisionisten, die im Interesse ihrer eigenen, antirevolutionären und reformistischen Ziele fälschlicherweise behauptet hätten, dass Marx und Engels den Utopismus ablehnten. Dann zitierst du einen Auszug aus der Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich«, die Marx 1871 zur Verteidigung der Pariser Kommune verfasst hatte, und bemerkst:

Das Verhältnis zwischen Utopismus und Marxismus wird in dieser Passage merklich anders dargestellt, als dies Marxisten für gewöhnlich tun. Mit Letzterem meine ich die Ansicht, der Utopismus sei irrelevant geworden, nachdem der Marxismus den Sozialismus zur Wissenschaft gemacht habe. Diese Ansicht stützt sich hauptsächlich auf Engels’ »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«. Es steht außer Zweifel, dass er und Marx den utopischen Sozialismus hier und anderswo einer gründlichen Kritik unterzogen, die für das gesamte Projekt eines wissenschaftlichen Sozialismus von entscheidender Bedeutung war. Doch diese Kritik hat den Utopismus ebenso wenig irrelevant gemacht, wie das Aufkommen des Marxismus die Philosophie Hegels oder die politische Ökonomie Ricardos irrelevant gemacht hat.[47]

Die Einführung des Worts »irrelevant« ist ein terminologischer Taschenspielertrick. Die Frage ist nicht, ob die Ideen der großen utopischen Sozialisten »irrelevant« seien. So etwas hat Nick Beams nicht behauptet. »Irrelevant« ist kein Begriff, den Studierende der Geistesgeschichte auf die großen Denker der Vergangenheit anwenden. Jede neue Generation von Denkern steht auf den Fundamenten, die ihnen die vorangegangene hinterlassen hat. Ein tiefes Verständnis des Marxismus erfordert die kritische Aneignung der gesamten vorangegangenen Geschichte des sozialistischen Denkens, von Plato bis zu den utopischen Denkern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Doch die Anerkennung der Beiträge früherer Denker bedeutet nicht, dass ihre Theorien in ihrer historisch gegebenen Form unter den gegenwärtigen Bedingen nutzbar sind.

Marx und Engels anerkannten bei zahlreichen Gelegenheiten, welchen enormen geistesgeschichtlichen Dank der moderne, wissenschaftliche Sozialismus den großen Utopisten Saint-Simon, Fourier und Owen schuldet. Sie erklärten auch sehr ausführlich den historisch bedingten Charakter und die Grenzen der Beiträge ihrer Vorgänger. Engels schrieb, die Utopisten »waren Utopisten, weil sie nichts andres sein konnten zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktion noch so wenig entwickelt war. Sie waren genötigt, sich die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopfe zu kon­struieren, weil diese Elemente in der alten Gesellschaft selbst noch nicht allgemein sichtbar hervortraten; sie waren beschränkt für die Grundzüge ihres Neubaus auf den Appell an die Vernunft, weil sie eben noch nicht an die gleichzeitige Geschichte appellieren konnten.«[48]

Deine Behauptung, die Ansichten von Marx und Engels zum Thema Utopismus seien von nachfolgenden Generationen fehlgedeutet und ihre angebliche Feindschaft gegen den Utopismus übertrieben worden, entbehrt jeder Grundlage. Wer Zugang zu ihren Gesammelten Werken hat, kann mit Leichtigkeit zahllose Zitate finden, in denen sie ihre kritische Haltung zum Utopismus präzise formulieren. Sie zollten seinem Beitrag zur Entwicklung des modernen Sozialismus den notwendigen Respekt, bestanden aber darauf, dass der Utopismus der Vergangenheit der revolutionären sozialistischen Bewegung angehöre, und nicht ihrer Gegenwart oder Zukunft. Genau diesen Standpunkt vertritt auch die von dir zitierte Passage aus dem »Bürgerkrieg in Frankreich«. Wie du, Genosse Brenner, behaupten kannst, diese Passage belege deine verzerrte Interpretation des Marxismus, übersteigt meinen Verstand. Sie erklärt, dass die Epoche des Utopismus genau zu dem Zeitpunkt endete, an dem die Entwicklung des Kapitalismus die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft ins Leben rief. Das wird noch deutlicher, wenn man die deinem Zitat vorangehenden vier Sätze hinzunimmt:

Alle sozialistischen Gründer von Sekten gehören einer Zeit an, in der weder die Arbeiterklasse genügend geübt und organisiert war durch die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst, um auf der Bühne der Weltgeschichte als historischer Akteur aufzutreten, noch die materiellen Bedingungen ihrer Emanzipation in der alten Welt selbst genügend herangereift waren. Ihr Elend bestand, aber noch nicht die Bedingungen für ihre eigene Bewegung. Die utopischen Gründer von Sekten, die in ihrer Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft das Ziel der sozialen Bewegung klar beschrieben – die Beseitigung des Systems der Lohnarbeit mit allen seinen ökonomischen Bedingungen der Klassenherrschaft –, fanden weder in der Gesellschaft selbst die materiellen Bedingungen ihrer Umgestaltung, noch in der Arbeiterklasse die organisierte Macht und das Bewusstsein der Bewegung. Sie versuchten, die fehlenden historischen Bedingungen der Bewegung durch phantastische Bilder und Pläne einer neuen Gesellschaft zu kompensieren, in deren Propaganda sie das wahre Mittel des Heils sahen.[49]

An diesem Punkt nimmst du das Zitat auf:

Von dem Moment an, da die Bewegung der Arbeiterklasse Wirklichkeit wurde, schwanden die phantastischen Utopien, nicht weil die Arbeiterklasse das Ziel aufgegeben hatte, das diese Utopisten anstrebten, sondern weil sie die wirklichen Mittel gefunden hatte, sie zu verwirklichen, weil an die Stelle phantastischer Utopien die wirkliche Einsicht in die historischen Bedingungen der Bewegung trat und die Kräfte für eine Kampforganisation der Arbeiterklasse sich immer mehr zu sammeln begannen. Aber die beiden Endziele der von den Utopisten verkündeten Bewegung sind auch die von der Pariser Revolution und von der Internationale verkündeten Endziele. Nur die Mittel sind verschieden, und die wirklichen Bedingungen der Bewegung sind nicht mehr von utopischen Fabeln umwölkt.[50]

Für jeden, der lesen kann, ist Marx‘ Argument völlig klar: Der Utopismus gehört zu einem früheren Entwicklungsstadium des Sozialismus, das durch die Entwicklung des Kapitalismus und das Aufkommen einer Massenarbeiterklasse überholt und abgelöst worden ist.

Für Marx war die Pariser Kommune des Jahres 1871 die höchste historische Bestätigung des Kampfs, die sozialistische Theorie auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, den er nahezu dreißig Jahre lang gegen zahlreiche Spielarten des Utopismus geführt hatte. Die theoretische Arbeit, die Marx und Engels zwischen 1843 und 1847 leisteten, schuf die philosophischen und politischen Grundlagen der modernen sozialistischen Bewegung. Ihre wichtigsten Errungenschaften waren die Kritik des hegelschen Idealismus und die darauf basierende Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung. Ihren Höhepunkt fand diese Periode intensiver geistiger Arbeit im »Kommunistischen Manifest«. Während der folgenden zwanzig Jahre widmete Marx sich fast ausschließlich der wissenschaftlichen Untermauerung der darin vertretenen revolutionären Perspektive. Er tat dies hauptsächlich, indem er 1. die materialistische Geschichtsauffassung erfolgreich als Werkzeug der politischen Analyse einsetzte (was es möglich machte, politische Ereignisse wie den Staatsstreich Louis Bonapartes vom Dezember 1851 zu entmystifizieren und rational zu verstehen), und 2. die ökonomischen Bewegungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft entdeckte, was 1867 mit der Veröffentlichung des ersten Bands des »Kapitals« seinen Höhepunkt fand.

Die brillanteste Darstellung der Ursprünge des Marxismus findet sich in Engels’ »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«. Ich beschränke mich auf die bedeutendsten Passagen:

Hegel hatte die Geschichtsauffassung von der Metaphysik befreit, er hatte sie dialektisch gemacht – aber seine Auffassung der Geschichte war wesentlich idealistisch. Jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewusstsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewusstsein zu erklären.

Hiernach erschien jetzt der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandner Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie. Seine Aufgabe war nicht mehr, ein möglichst vollkommnes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen, dem diese Klassen und ihr Widerstreit mit Notwendigkeit entsprungen, und in der dadurch geschaffnen ökonomischen Lage die Mittel zur Lösung des Konflikts zu entdecken. Mit dieser materialistischen Auffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neueren Naturwissenschaft. Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Je heftiger er gegen die von ihr unzertrennliche Ausbeutung der Arbeiterklasse eiferte, desto weniger war er imstande, deutlich anzugeben, worin diese Ausbeutung bestehe und wie sie entstehe. Es handelte sich aber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Dies geschah durch die Enthüllung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; dass der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr herausschlägt, als er für sie bezahlt hat; und dass dieser Mehrwert in letzter Instanz die Wertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen anhäuft. Der Hergang sowohl der kapitalistischen Produktion wie der Produktion von Kapital war erklärt.

Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.[51]

Während der frühen Jahre der deutschen Sozialdemokratie reagierten Marx und Engels äußerst scharf auf jede Tendenz, Abstand von diesen theoretischen Errungenschaften zu nehmen. Im Klima der politischen Reaktion nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 und der Konsolidierung des bismarckschen Kaiserreichs mussten sie sich wiederholt mit politisch-ideologischen Strömungen auseinandersetzen, die versuchten, veraltete Lehren neu zu beleben, die sie bereits Jahrzehnte zuvor widerlegt hatten. Am 19. Oktober 1877 beschwerte sich Marx in einem Brief verärgert bei seinem Freund Adolph Sorge, der in Hoboken, New Jersey lebte:

In Deutschland macht sich in unserer Partei, nicht so sehr in der Masse, als unter den Führern (höherklassigen und »Arbeitern«) ein fauler Geist geltend. Der Kompromiss mit den Lassalianern hat zu Kompromiss auch mit anderen Halbheiten geführt, in Berlin (via Most) mit Dühring und seinen »Bewunderern«, außerdem aber mit einer ganzen Reihe halbreifer Studiosen und überweiser Doctores, die dem Sozialismus eine »höhere, ideale« Wendung geben wollen, d. h. die materialistische Basis (die ernstes, objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch moderne Mythologie mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité. Herr Dr. Höchberg,[52] der die »Zukunft« herausgibt, ist ein Vertreter dieser Richtung und hat sich in die Partei »eingekauft« – ich unterstelle, mit den »edelsten« Absichten, aber ich pfeife auf »Absichten«. Etwas Miserableres wie sein Programm der »Zukunft« hat selten mit mehr »bescheidner Anmaßung« das Licht erblickt.

Die Arbeiter selbst, wenn sie wie Herr Most et Cons. das Arbeiten aufgeben und Literaten von Profession werden, stiften stets »theoretisch« Unheil an und sind stets bereit, sich an Wirrköpfe aus der angeblich »gelehrten« Kaste anzuschließen. Namentlich, was wir seit Jahrzehnten mit so viel Arbeit und Mühe aus den Köpfen der deutschen Arbeiter gefegt und was selben das theoretische Übergewicht (daher auch das praktische) über Franzosen und Engländer gab – der utopische Sozialismus, das Phantasiegespiel über den künftigen Gesellschaftsaufbau – grassiert wieder und in einer viel nichtigeren Form, nicht nur verglichen mit den großen französischen und englischen Utopisten, sondern mit – Weitling.[53] Es ist natürlich, dass der Utopismus, der vor der Zeit des materialistisch-kritischen Sozialismus Letzteren in nuce in sich barg, jetzt wo er post festum kommt, nur noch albern sein kann, albern, fad und von Grund aus reaktionär.[54]

Dieser Abschnitt fasst prägnant zusammen, was Marx von Versuchen hielt, den Utopismus wieder in die sozialistische Bewegung einzuführen. Es stimmt, Genosse Brenner, dass Beams’ Ablehnung des Utopismus eine, wie du schreibst, »vorherrschende (und seit langem bestehende) Auffassung innerhalb der marxistischen Bewegung« ist. Aber wenn diese Auffassung »fehlgeleitet« ist, dann lehnst du in erster Linie Marx und Engels ab, und nicht Nick Beams.

13. Die idealistische Methode des Utopismus

Ideen entwickeln sich nach einer bestimmten historischen Logik. Als Produkte ihrer Zeit waren die Ideen der großen progressiven Utopisten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in der materialistischen Philosophie der damaligen Epoche verwurzelt. Doch dieser Materialismus war vorwiegend mechanisch, statisch und unhistorisch. Er konnte daher die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht angemessen erklären. Am deutlichsten zeigten sich die Grenzen dieses Materialismus daran, wie die Utopisten das Verhältnis zwischen dem Bewusstsein und der Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Ideale auffassten. Die französischen Materialisten des späten 18. Jahrhunderts bestanden darauf, dass der Mensch das Produkt seines gesellschaftlichen Umfelds sei. Sowohl seine Tugenden wie seine Laster hätten hier ihre objektive Quelle. Daher erfordere eine Veränderung des Bewusstseins eine Veränderung des gesellschaftlichen Umfelds, in dem es sich entwickelt habe. Doch das warf eine weitere Frage auf: Wie konnte man dieses gesellschaftlichen Umfeld verändern? Und hier standen die französischen Materialisten vor einem Rätsel, auf das ihre Philosophie keine Antwort wusste. Der Mensch ist das Produkt seines Umfelds. Und das gesellschaftliche Umfeld ist, behaupteten sie, das Produkt … der öffentlichen Meinung! Wohin führte dieser Schluss die Materialisten des 18. Jahrhunderts? Wenn der Mensch das Produkt des gesellschaftlichen Umfelds ist, sollte daraus folgen, dass auch die öffentliche Meinung ein Produkt dieses Umfelds ist. Doch die Materialisten drehten das Argument einfach um und machten aus dem gesellschaftlichen Umfeld ein Produkt der öffentlichen Meinung! So landeten die französischen Philosophen – ungeachtet der materialistischen Grundlagen ihrer Erkenntnistheorie – bei der idealistischen Schlussfolgerung, Veränderungen des gesellschaftlichen Umfelds beruhten primär auf Veränderungen im Denken, oder, wie die französischen Materialisten es gerne darstellten, der »menschlichen Natur«.

Im Rahmen des französischen Materialismus konnte das Rätsel »gesellschaftliches Umfeld – öffentliche Meinung« nicht gelöst werden. Eine Lösung war nur möglich, wenn es von der »öffentlichen Meinung« unabhängige, objektive Faktoren gab, die sowohl das gesellschaftliche Umfeld bestimmten als auch Inhalt und Ausrichtung des gesellschaftlichen Bewusstseins formten. Die Entdeckung solcher objektiver Faktoren war die außerordentliche Errungenschaft der von Marx und Engels erarbeiteten materialistischen Geschichtsauffassung.

Was hat all dies mit deinem Dokument zu tun, Genosse Brenner? Indem du für die Wiederbelebung des Utopismus eintrittst, reproduzierst du mehr oder weniger das theoretische Rätsel, vor dem die Materialisten des 18. Jahrhunderts standen. Doch während ihre Irrtümer den Reiz des Ursprünglichen und Genialen hatten, sind deine 250 Jahre später einfach albern. »Der zentrale Punkt, den ich mache«, schreibst du, »lautet, dass die Utopie gerade deshalb so wichtig ist, weil das Proletariat das einzig vorstellbare revolutionäre Subjekt der Geschichte ist: Es wird niemals eine Neubelebung des Klassenbewusstseins geben, wenn der Sozialismus nicht wieder zu einem großen gesellschaftlichen Ideal wird, zum Brennpunkt der Hoffnungen und Träume der breiten Masse von Arbeitern, Jugendlichen und Intellektuellen.« (Hervorhebung hinzugefügt)

Untersuchen wir dieses Argument mit der Aufmerksamkeit, das es verdient: »Es wird niemals eine Neubelebung des Klassenbewusstseins geben, wenn der Sozialismus nicht wieder zu einem großen gesellschaftlichen Ideal wird.« Aber der Sozialismus kann nur »zum Brennpunkt der Hoffnungen und Träume der breiten Masse von Arbeitern, Jugendlichen und Intellektuellen« werden, wenn bereits eine kolossale Entwicklung des Klassenbewusstseins stattgefunden hat. Auf ihren Kern zurückgeführt, macht deine Formel die Wiederbelebung des Klassenbewusstseins von der Wiederbelebung von Idealen abhängig, das heißt von einem Aspekt oder Bestandteil des Sozialismus. Du hättest ebenso gut schreiben können: »Es wird niemals eine Neubelebung des Sozialismus (als fortgeschrittener Ausdruck des Klassenbewusstseins) geben, wenn der Sozialismus nicht wieder zu einem großen gesellschaftlichen Ideal wird.« Eine reine Tautologie. Du gibst keine Antwort auf die offensichtliche Frage: Wie wird der Sozialismus »zu einem großen gesellschaftlichen Ideal«? Gibt es objektive, vom Bewusstsein unabhängige Umstände, die einer solchen Entwicklung einen sozioökonomischen Anstoß geben? Trotz deinem Gezeter über den mechanischen Materialismus wiederholst du die grundlegenden Fehler dieser Denkweise.

Der mechanische Charakter des Materialismus des 18. Jahrhunderts, der unvermeidlich zum Rückfall in ein idealistisches Verständnis des gesellschaftlichen Bewusstseins führte, war historisch durch den damaligen sozioökonomischen und wissenschaftlich-technischen Entwicklungsstand bedingt. Weder der industrielle Kapitalismus noch die Arbeiterklasse hatten sich so weit entwickelt, wie es nötig war, um zu entdecken, dass die Entwicklung der Produktivkräfte und der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Beziehungen die wirkliche, objektive Grundlage des gesellschaftlichen Bewusstseins ausmachen. Das sozialistische Denken nahm einen utopischen Charakter an, weil die historischen Voraussetzungen noch nicht vorhanden waren, um die Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen Bewusstsein und der objektiven Entwicklung sozioökonomischer Faktoren herzustellen. Gerade weil die Utopisten nicht in der Lage waren, die objektive Quelle der Veränderungen des Bewusstseins aufzudecken, konnten sie sich den Prozess der Bewusstseinsveränderung nur in Form der Erziehung durch aufgeklärte Individuen vorstellen.

In den 1840er-Jahren hatte in England, Frankreich und Deutschland dagegen bereits eine beträchtliche Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse stattgefunden. Es wurde nun möglich, die objektiven Faktoren zu verstehen, die relativ unabhängig vom Denken der Leute wirkten, dramatische Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein hervorriefen und gewaltige Ausbrüche offener Klassenkonflikte auslösten. Angesichts dieser Entwicklungen nahmen Auffassungen, die grundlegende Veränderungen des gesellschaftlichen Bewusstseins vom pädagogischen Wirken vereinzelter, fortschrittlicher Denker abhängig machten, einen zunehmend offen reaktionären Charakter an. In Deutschland vertraten die »kritischen Kritiker« solche Auffassungen, eine Strömung, deren wichtigster Vertreter Bruno Bauer war. In seiner Analyse dieser Strömung schrieb Plechanow:

»Die Ansichten regieren die Welt«, so sprachen die französischen Aufklärer. Ebenso sprachen, wie wir sehen, auch die Gebrüder Bauer, die sich gegen Hegels Idealismus erhoben hatten. Wenn aber die Ansichten die Welt regieren, so sind die Haupttriebkräfte der Geschichte jene Menschen, deren Denken die alten Ansichten kritisiert und neue schafft. So dachten die Gebrüder Bauer auch wirklich. Das Wesen des historischen Prozesses bestand für sie in einer Überarbeitung des vorhandenen Vorrats an Ansichten und der dadurch bedingten Formen des Gemeinschaftslebens durch den »kritischen Geist«…

Sobald der »kritisch denkende« Mensch sich der erste Baumeister, der Schöpfer der Geschichte dünkt, erhebt er sich und seinesgleichen zu einer besonderen, höheren Spielart des menschlichen Geschlechts. Dieser höheren Spielart steht die Masse gegenüber, der das kritische Denken fremd ist und die sich deshalb nur für die Rolle des Tons in den schöpferischen Händen der »kritisch denkenden« Persönlichkeiten eignet.[55]

14. Die Sozialisten und die Massen

Ausgehend von ähnlichen idealistischen Auffassungen gelangst du, Genosse Brenner, zu einem Verständnis des Verhältnisses zwischen Sozialisten und Masse, das dem von Plechanow beschriebenen Standpunkt der »kritischen Kritiker« bemerkenswert ähnelt.

»Laut Beams«, schreibst du, »werden nicht die Sozialisten, sondern die Massen die sozialistische Gesellschaft lenken, und daher besteht kein Bedarf für sozialistische Politik – für ›Vorschriften‹, wie er sie verächtlich nennt – in Fragen wie Familie, Arbeit, Umwelt usw., von einer kohärenten Vision der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft ganz zu schweigen. Darin steckt ein wahrer Kern (dass die Arbeiterklasse sich emanzipieren muss), der grundlegend für das sozialistische Projekt ist. Doch nie zuvor wurde dies so interpretiert, dass die Sozialisten kein Programm brauchen.«

Du greifst erneut zu einem polemischen Taschenspielertrick: Beams’ Aussage, eine sozialistische Gesellschaft werde nicht von Sozialisten »gelenkt«, sondern es sei die Aufgabe der Arbeiterklasse, die neuen Gesellschaftsformen im Prozess ihrer Selbstemanzipation und ohne vorgefertigte »Vorschriften« zu entwickeln, stellst du fälschlich als Ablehnung jedes Programms dar.

Du erklärst: »Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Selbstemanzipation der Massen und der Lenkung der Gesellschaft durch Sozialisten.« Sollen die Massen das akzeptieren, weil du, Genosse Brenner, es sagst? Entweder bedeutet die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse, dass die Massen die Formen ihrer eigenen Befreiung entwickeln und verwirklichen müssen, oder sie bedeutet es nicht. Das ist keine abstrakte, theoretische Frage. Man muss die Frage stellen: Wäre eine revolutionär-sozialistische Regierung nach der Eroberung der politischen Macht der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse unterworfen? Würde die Politik von den herrschenden Sozialisten diktiert oder in einer offenen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen gesellschaftlicher Tendenzen entwickelt, deren demokratisches Recht, für ihre Anschauungen und Politik einzutreten, als wertvolle Errungenschaft energisch verteidigt würde?

Liest man deine Beschreibung der Zustände nach der Revolution, kann man sich deine Antwort auf diese Fragen vorstellen:

Einige Arbeiter werden sich der Revolution aktiv entgegenstellen; die Vorstellung, dass sie in der sozialistischen Gesellschaft irgendetwas lenken werden, ist pervers. Andere werden politisch neutral sein: Ihnen von Anfang an Verantwortung für eine Revolution aufzuhalsen, die sie kaum zu verstehen beginnen, wird wenig mehr tun, als sie zu entfremden; ihr politisches Bewusstsein (und weiter gefasst: ihr allgemeines kulturelles Niveau) wird geduldig gefördert werden müssen. Für eine beträchtliche Periode wird also die Lenkung der sozialistischen Gesellschaft nicht in den Händen der amorphen »Massen« liegen, sondern in den Händen klassenbewusster Arbeiter – mit anderen Worten, des Teils der Klasse (notwendigerweise eines großen Teils und hoffentlich sogar der Mehrheit), dessen politisches Bewusstsein von der revolutionären sozialistischen Bewegung geprägt worden ist. Das ist damit gemeint, dass »Sozialisten die Gesellschaft lenken« – nicht eine kleine Clique von Bürokraten, sondern ein Großteil sozialistisch bewusster Arbeiter.

Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, wenn man deine Vision der Lage liest, mit der es eine sozialistische Regierung zu tun haben wird. Du hoffst zwar, dass eine Mehrheit der Arbeiterklasse (wenn auch nicht der gesamten Bevölkerung) die Revolution unterstützen wird, scheinst aber nicht daran zu zweifeln, dass die Sozialisten mindestens ebenso viel Zeit damit verbringen werden, Menschen zu unterdrücken wie sie zu emanzipieren. Wenn alle Teile der Arbeiterklasse, von denen du Opposition oder Gleichgültigkeit erwartest, davon ausgeschlossen werden, »irgendetwas zu lenken«, wird das weitere Funktionieren eines bedeutenden Teils der wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Infrastruktur gelinde gesagt problematisch sein. Es gibt Grenzen für das, was aufgrund rein politischer Erwägungen entschieden werden kann. Nachdem sie die Macht errungen haben, werden die Sozialisten auf die interessierte Mitarbeit einer großen Zahl von Menschen angewiesen sein, die ungeachtet ihrer politischen Überzeugungen weiterhin eine wichtige Rolle für die Infrastruktur der Gesellschaft spielen werden. Selbst wenn sie dazu neigten, könnten Sozialisten diese Menschen nicht einfach herumkommandieren. Sie werden nicht nur auf sie hören, sondern sie auch mit dem Respekt behandeln müssen, den ihre Erfahrung und Sachkenntnis verdienen.

Du bist so darauf fixiert, Vorschriften für die künftige sozialistische Gesellschaft aufzustellen, dass du offenbar nicht allzu viele Gedanken auf die Probleme des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus verschwendet hast. Der Sozialismus ist seinem ganzen Wesen nach undenkbar, wenn die Massen nicht an der Entscheidung über alle Fragen beteiligt sind, die das Leben der Menschen betreffen – das heißt: ohne eine gewaltige Ausweitung der Demokratie. Wie es Engels im Mai 1895, nur drei Monate vor seinem Tode, im Vorwort zur Neuauflage von Marx’ »Klassenkämpfe in Frankreich« so hervorragend erklärte:

Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt.[56]

Anders gesagt, die Revolution kann nicht für die Arbeiter gemacht werden, sie muss von den Arbeitern gemacht werden, die verstehen, wofür sie kämpfen. Die Vorstellung, die Arbeiterklasse sei fähig, um die politische Macht zu kämpfen und diese zu erobern, kann nur demjenigen vernünftig erscheinen, der überzeugt ist, dass Massen von Arbeitern aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen von der Perspektive des Sozialismus angezogen werden. Das glaubst du, Genosse Brenner, nicht. Du erblickst in den Massen lediglich ein Schauspiel abstoßender Rückständigkeit. Du schreibst:

Wenn die undifferenzierten Massen durch den bloßen Akt der Beteiligung an einer Revolution aus ihrer Haut schlüpfen und ein Leben voller Unterdrückung und Rückständigkeit soweit überwinden können, dass sie in der Lage sind, die Riesenaufgabe des sozialistischen Aufbaus selbstständig, d. h. ohne jede Anleitung oder »Vorschrift« der Sozialisten durchzuführen, dann muss man sich schon fragen, warum sie diese Sozialisten vorher benötigen, um sie zur Revolution zu führen. Man muss sich, kurz gesagt, fragen, warum sie überhaupt eine Veränderung ihres Bewusstseins brauchen.

Rückständig treten die Arbeiter in die Revolution ein, rückständig kommen sie aus ihr heraus. Nur durch die Herkulesarbeit des Frank Brenner kann aus diesem allgemeinen Schlamassel etwas gerettet und können die Massen, ihrer selbst zum Trotz, zur neuen Utopie geführt werden.

15. Bewusstsein und Sozialismus

Glücklicherweise vollzieht sich der wirkliche geschichtliche Prozess ganz anders. Die Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins, die dem Ausbruch einer Revolution notwendigerweise vorausgeht, und seine nachfolgende Entwicklung im Verlauf großer Kämpfe, beruht auf sozioökonomischen Vorgängen, die sich unabhängig vom individuellen Bewusstsein entwickeln. Des Weiteren sind die immensen »Sprünge« des Bewusstseins, die für eine Zeit revolutionärer Kämpfe charakteristisch sind, Ausdruck der lange herausgezögerten (und daher höchst explosiven) Anpassung des gesellschaftlichen Denkens an die äußere gesellschaftliche Realität.

Trotzki erklärte diesen Vorgang folgendermaßen:

Schnelle Veränderungen von Ansichten und Stimmungen der Massen in der revolutionären Epoche ergeben sich folglich nicht aus der Elastizität und Beweglichkeit der menschlichen Psyche, sondern im Gegenteil aus deren tiefem Konservativismus. Das chronische Zurückbleiben der Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die Letzteren in Form einer Katastrophe über die Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in der Revolutionsperiode die sprunghafte Bewegung der Ideen und Leidenschaften, die den Polizeiköpfen als einfache Folge der Tätigkeit von »Demagogen« erscheint.[57]

Die Erfahrung von Massenkämpfen verändert die Menschen und ihr Bewusstsein. Oder, wie Marx und Engels es ausdrückten, als sie den Brenners der 1840er-Jahre antworteten: Die Geschichte zeige,

dass sowohl zur massenhaften Erzeugung des kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.[58]

Diese berühmte Passage findet sich in der »Deutschen Ideologie«, die Marx und Engels im Jahre 1845 gemeinsam verfassten. In diesem Werk arbeiteten sie erstmals die materialistische Geschichtsauffassung aus, die das gesellschaftliche Bewusstsein des Menschen aus seinem gesellschaftlichen Sein erklärte, anstatt umgekehrt das Sein des Menschen aus seinem Bewusstsein. Die Formen des menschlichen Denkens, so entdeckten sie, entwickeln sich auf einer objektiven, materiellen Grundlage. »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.«[59] Die neue Auffassung der Geschichte und der Entwicklung des Bewusstseins »beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozess, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen …«[60]

Die Auffassung, die soziale Revolution sei das objektive Ergebnis realer sozioökonomischer Widersprüche des sich entwickelnden kapitalistischen Systems, versetzte allen idealistischen Geschichtsinterpretationen den Todesstoß. Auch die Entwicklung der Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft innerhalb der Gesellschaft, als »Totengräber« des Kapitalismus, ist ein objektiver Prozess. Und die weltgeschichtliche Rolle der Arbeiterklasse wird, im grundlegendsten Sinne, nicht durch ihr Bewusstsein, sondern durch ihre einzigartige Stellung in der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt. In der »Heiligen Familie« beantworteten Marx und Engels den Einwand gegen die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse, der sich als besonders langlebig erweisen sollte: es fehle ihr an revolutionärem Bewusstsein, sie wolle die Revolution nicht usw.

Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.[61]

Jede marxistische Diskussion über die Rolle des Bewusstseins (ein Thema, das für die trotzkistische Bewegung seit jeher von großem Interesse war, falls du, Genosse Brenner, dies nicht bemerkt haben solltest) muss von einem korrekten Verständnis seiner Beziehung zu den materiellen, sozioökonomischen Entwicklungsprozessen ausgehen. Pläne für den Aufbau einer revolutionären Partei und für die Entwicklung sozialistischen Bewusstseins wären zum Scheitern verurteilt, bestünden nicht die objektiven Voraussetzungen für ihre Verwirklichung. Mit der Erarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung machte die Menschheit einen gewaltigen Fortschritt im Verständnis der eigenen gesellschaftlichen Praxis und des Bewusstseins. Wie Engels erklärte, »sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche«.[62] Auch das Aufkommen eines allgemeinen Gefühls, dass »die Dinge sich ändern müssen«, unter breiten Gesellschaftsschichten ist eine Widerspiegelung des archaischen Charakters des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems im gesellschaftlichen Bewusstsein.

Engels schrieb dazu in »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«:

Die erwachende Einsicht, dass die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, dass Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden, ist nur ein Anzeichen davon, dass in den Produktionsmethoden und Austauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auf frühere ökonomische Bedingungen zugeschnittne gesellschaftliche Ordnung nicht mehr stimmt. Damit ist zugleich gesagt, dass die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Missstände ebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst – mehr oder minder entwickelt – vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken

Die neuen Produktionskräfte sind der bürgerlichen Form ihrer Ausnutzung bereits über den Kopf gewachsen; und dieser Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsweise ist nicht ein in den Köpfen der Menschen entstandner Konflikt, wie etwa der der menschlichen Erbsünde mit der göttlichen Gerechtigkeit, sondern er besteht in den Tatsachen, objektiv, außer uns, unabhängig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen Menschen, die ihn herbeigeführt. Der moderne Sozialismus ist weiter nichts als der Gedankenreflex dieses tatsächlichen Konflikts, seine ideelle Rückspiegelung in den Köpfen zunächst der Klasse, die direkt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse.[63]

Wer anerkennt, dass sich die sozialistische Bewegung auf einer objektiven Grundlage entwickelt, mindert damit nicht die Bedeutung des Kampfs für sozialistisches Bewusstsein. Ein wichtiger Aspekt der theoretischen Erziehung der Arbeiterklasse besteht gerade darin, die objektiven Grundlagen des Sozialismus zu erklären. Die pädagogischen Aufgaben der sozialistischen Bewegung können überhaupt nur richtig formuliert werden, wenn man versteht, dass die Widersprüche des Kapitalismus den entscheidenden Anstoß für die Entwicklung revolutionären Bewusstseins geben.

Das Problem des sozialistischen Bewusstseins stellt sich denen, die es als ideellen Reflex eines materiellen, sozioökonomischen Prozesses verstehen, ganz anders dar als denen, für die kein solcher Zusammenhang zwischen den ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft und der Entwicklung des gesellschaftlichen Denkens besteht. Für Marxisten bedeutet der Kampf für sozialistisches Bewusstsein nicht, die breiten Arbeitermassen vom Kampf gegen den Kapitalismus zu überzeugen. Die marxistische Bewegung geht von der Unvermeidlichkeit solcher Kämpfe aus, die sich aus dem objektiven Ausbeutungsprozess der Mehrwert-Extraktion ergeben und durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise des kapitalistischen Systems verschärft werden. Sie bemüht sich, unter fortgeschrittenen Arbeitern ein wissenschaftliches Verständnis der Geschichte als gesetzmäßiger Prozess, der kapitalistischen Produktionsweise und der darauf beruhenden gesellschaftlichen Beziehungen sowie des Wesens der gegenwärtigen Krise und ihrer welthistorischen Auswirkungen zu entwickeln. Es geht darum, den unbewussten historischen Prozess in eine bewusste politische Bewegung zu verwandeln, die Auswirkungen der Zuspitzung der kapitalistischen Weltkrise vorauszusehen und sich darauf vorzubereiten, die Logik der Ereignisse offenzulegen und die angemessene politische Antwort zu formulieren – strategisch und taktisch.

Wer in den objektiven, vom Kapitalismus selbst geschaffenen Verhältnissen keine Grundlage für den Sozialismus findet, wer von Niederlagen und Rückschlägen demoralisiert ist, wer weder das Wesen der kapitalistischen Krise begreift, noch das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse wahrnimmt – sieht das Problem der Veränderung des Bewusstseins im Wesentlichen auf ideelle, ja psychologische Weise. Da keine reale Grundlage für das sozialistische Bewusstsein existiert, muss die Möglichkeit seiner Entwicklung anderswo gesucht werden. Aus diesem Grund glaubt ihr, Genossen Brenner und Steiner, dass »die Utopie entscheidend für eine Wiederbelebung der sozialistischen Kultur ist«.

16. Brenner über Familie und Rückständigkeit

Für dich, Genosse Brenner, liegen die nahezu unüberwindbaren Hindernisse, die dem Aufbau einer sozialistischen Bewegung im Wege stehen, vor allem im traumatisierten Zustand der menschlichen Psyche. Schuld daran, so glaubst du, trägt der Einfluss der Familie auf das Bewusstsein. Daher muss die Partei, bevor sie einen echten Fortschritt bei der Entwicklung sozialistischen Bewusstseins machen kann, ein Programm entwickeln, das diese Institution zum Thema hat, und es in den Brennpunkt ihrer Arbeit stellen. »Es sollte keine strittige Frage sein, ob Sozialisten eine Politik bezüglich der Familie brauchen«, rufst du aus. »Da wir eine Welt schaffen wollen, in der die Leute erstmals in der Geschichte ein vollständig menschliches Leben führen können, liegt es auf der Hand, dass dieses Ziel nicht erreicht werden kann, ohne die Institution gründlich zu überholen, die für die Sozialisation – d. h. die Humanisierung – der Kinder verantwortlich ist und in welcher der menschlichen Persönlichkeit in der Klassengesellschaft die ersten (und oftmals tiefsten) Wunden beigebracht werden.« Die Familie bedeute »sexuelle Unterdrückung und Rückständigkeit«. Dass Beams dieses überragende Problem nicht anspreche, sei »einfach unglaublich«. Du versicherst uns zwar, es sei »nicht die Aufgabe von Sozialisten, den Menschen vorzuschreiben, wie sie ihr Privatleben zu führen haben«, bist aber entsetzt darüber, dass Beams »die Maßnahmen völlig ignoriert, die notwendig sind«, um die Hindernisse zu beseitigen, welche die Familie der Entwicklung des Bewusstseins in den Weg legt. Sozialisten, betonst du, »sollten eine ganze Menge über die Familie zu sagen haben – von programmatischen Forderungen zur Bekämpfung von Rückständigkeit und sexueller Unterdrückung bis hin zu Erziehungsmaterial über das Ziel einer kollektiven Familie und das Wesen des Privatlebens im Sozialismus«.

Dass Beams die revolutionäre Bewegung nicht darauf festlegen wolle, für eine Alternative zur bestehenden Kernfamilie einzutreten, sei eine Art von »sozialistischem Laissez-faire«. Du lehnst Beams’ Aussage, die Familie der Zukunft werde sich »auf der Grundlage der ständig fortschreitenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationsformen der sozialistischen Gesellschaft entwickeln«, mit der Begründung ab: »Der ganze Zweck des Sozialismus besteht doch darin, dass zum ersten Mal in der Geschichte die Menschen diese Veränderungen bewusst gestalten werden, die der Familie eingeschlossen.«

Als Patentrezept bietest du die »kollektive Familie« an, die »es Kindern wie Eltern ermöglichen wird, aus dem auszubrechen, was Wilhelm Reich einst ›Familitis‹ nannte: aus der erstickenden Atmosphäre emotional überladener, zwanghafter Familienbande, die so viele tiefe und dauerhafte psychische Probleme verursacht«. Du bleibst recht vage, wie die »kollektive Familie« entstehen soll und wie sie sich vom gegenwärtigen Stand der Dinge unterscheidet. Wer sich zu deinen Schülern rechnet, muss sich mit einigen wenigen allgemeinen Hinweisen begnügen, wie die Familie in deiner Utopie funktionieren wird:

Es gibt starke sexuelle und emotionale Bande zwischen Liebenden wie auch zwischen Eltern und Kindern, denen auch die kollektive Familie wird Rechnung tragen müssen. In diesem Sinne schafft die kollektive Familie die Kernfamilie nicht ab, sondern überwindet sie im dialektischen Sinne, d. h., sie bewahrt die romantische und die elterliche Liebe, während sie die repressiven Verhältnisse und die soziale Entfremdung beseitigt, die das Familienleben in der bürgerlichen Gesellschaft zu einem solchen Jammer machen.

Für dich, Genosse Brenner, wurzeln die Probleme der Familie nicht vorwiegend in den gesellschaftlichen Umständen, sondern in der Psychologie des Individuums. Deine Abneigung richtet sich weniger gegen das bestehende Wirtschaftssystem als gegen die Familie, die deiner Ansicht nach aus sich heraus ein enormes Elend erzeugt. Daher verlangst du, dass die Sozialisten eine andere, ideale Beziehung erfinden – die sogenannte »kollektive Familie« – und in ihr Programm aufnehmen. Dazu musst du die Standpunkte, die Marx und Engels zu dieser Frage einnahmen, vollkommen verfälschen.

Du behauptest, Marx und Engels hätten »die stickige Moral des viktorianischen Zeitalters offen angegriffen, indem sie die Abschaffung der Familie forderten und die Ehe als legale Prostitution anprangerten«. Du zitierst Marx und Engels nicht direkt. Ein mit ihren Werken nicht vertrauter Leser muss aber zur Auffassung gelangen, sie seien für die Auflösung jeglicher Familie, für die Praxis der freien Liebe usw. eingetreten. Das entspricht einem Zerrbild des Kommunismus, wie man es aus der reaktionärsten Literatur kennt. In Wahrheit behandelten Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« die Familie nicht als ahistorische Abstraktion, sondern sie stellten die Frage: »Worauf beruht die gegenwärtige, die bürgerliche Familie?« und antworteten:

Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb. Vollständig entwickelt existiert sie nur für die Bourgeoisie; aber sie findet ihre Ergänzung in der erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier und der öffentlichen ­Prostitution.

Die Familie der Bourgeois fällt natürlich weg mit dem Wegfallen dieser ihrer Ergänzung, und beide verschwinden mit dem Verschwinden des Kapitals.[64]

Ähnlich sprechen Marx und Engels nicht von der Ehe im Allgemeinen, sondern von der bürgerlichen Ehe. Ihre Behandlung des Themas beginnt mit einer spöttischen Widerlegung der bürgerlichen Behauptung, Ziel der Kommunisten sei die Errichtung der »Weibergemeinschaft«, in der die Frauen in einen öffentlichen Harem gesteckt werden. Sie antworten:

Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument. Er hört, dass die Produktionsinstrumente gemeinschaftlich ausgebeutet werden sollen, und kann sich natürlich nichts anderes denken, als dass das Los der Gemeinschaftlichkeit die Weiber gleichfalls treffen wird.

Er ahnt nicht, dass es sich eben darum handelt, die Stellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuheben.

Übrigens ist nichts lächerlicher als das hochmoralische Entsetzen unserer Bourgeois über die angebliche offizielle Weibergemeinschaft der Kommunisten. Die Kommunisten brauchen die Weibergemeinschaft nicht einzuführen, sie hat fast immer existiert. …

Die bürgerliche Ehe ist in Wirklichkeit die Gemeinschaft der Ehefrauen. Man könnte höchstens den Kommunisten vorwerfen, dass sie an Stelle einer heuchlerisch versteckten eine offizielle, offenherzige Weibergemeinschaft einführen wollten. Es versteht sich übrigens von selbst, dass mit Aufhebung der jetzigen Produktionsverhältnisse auch die aus ihnen hervorgehende Weibergemeinschaft, d. h. die offizielle und nichtoffizielle Prostitution, verschwindet.[65]

In einer anderen Schrift mit dem Titel »Grundsätze des Kommunismus«, geschrieben fast gleichzeitig mit dem »Kommunistischen Manifest«, gab Engels folgende Antwort auf die Frage »Welchen Einfluss wird die kommunistische Gesellschaftsordnung auf die Familie ausüben?«:

Sie wird das Verhältnis der beiden Geschlechter zu einem reinen Privatverhältnis machen, welches nur die beteiligten Personen angeht und worin sich die Gesellschaft nicht zu mischen hat. Sie kann dies, da sie das Privateigentum beseitigt und die Kinder gemeinschaftlich erzieht und dadurch die beiden Grundlagen der bisherigen Ehe, die Abhängigkeit des Weibes vom Mann und der Kinder von den Eltern vermittelst des Privateigentums, vernichtet. Hierin liegt auch die Antwort auf das Geschrei hochmoralischer Spießbürger gegen kommunistische Weibergemeinschaft. Die Weibergemeinschaft ist ein Verhältnis, was ganz der bürgerlichen Gesellschaft angehört und heutzutage in der Prostitution vollständig besteht. Die Prostitution beruht aber auf dem Privateigentum und fällt mit ihm. Die kommunistische Organisation also, statt die Weibergemeinschaft einzuführen, hebt sie vielmehr auf.[66]

Bei all deinen visionären Ansprüchen scheinst du außerordentlich wenig Interesse an der Lebenswirklichkeit der meisten Arbeiterfamilien zu haben und darüber schlecht informiert zu sein. Fixiert auf die psychologische und sexuelle Dimension des familiären Traumas, hast du über die praktischen Aspekte der Probleme, vor denen sie stehen, bemerkenswert wenig zu sagen. Man findet in deinem Dokument keinen Hinweis darauf, dass du die Nöte von Familien berücksichtigt hast, die außerhalb der reichsten kapitalistischen Länder leben. Nur ganz nebenbei streust du die Forderung nach einem allgemeinen Zugang zu einer qualifizierten Kinderbetreuung ein. Du scheinst der Meinung zu sein, dass es – abgesehen von Propagandakampagnen gegen verschiedene Formen gesellschaftlicher Rückständigkeit – kaum praktische Maßnahmen gibt, mit denen eine sozialistische Revolution die Lebensumstände von Arbeiterfamilien deutlich verbessern kann. »Der Kern der Frage ist, dass die Probleme der Familie nicht automatisch verschwinden werden, wenn der Sozialismus einmal da ist«, schreibst du.

Wer ist je davon ausgegangen, dass irgendetwas automatisch geschieht? Die sozialistische Revolution ist kein automatisches Computer-Installationsprogramm (das dann normalerweise zahlreiche unerwartete Probleme verursacht). Solche spießige Bemerkungen verfolgen den Zweck, die sozialistische Auffassung ins Lächerliche zu ziehen, dass der Sturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, auf denen die gegenwärtige Gesellschaft beruht, der Schlüssel zur Linderung allen menschlichen Leidens ist; dass die Lösung des großen Problems, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, den Weg für die allmähliche Lösung vieler anderer wichtiger Probleme des menschlichen Daseins bereitet.

Natürlich werden nicht alle Probleme der familiären Beziehungen im ersten Jahr des Sozialismus überwunden werden, vielleicht nicht einmal im ersten Jahrhundert. Niemand kann ernsthaft annehmen, dass im Sozialismus alle Ehen oder sonstigen Lebensgemeinschaften glücklich sein werden oder dass alle Kinder mit ihren Eltern zufrieden sein werden und umgekehrt. Wir dürfen aber mit Sicherheit annehmen, dass eine revolutionäre Reorganisation der wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft nach sozialistischen Grundsätzen die wichtigsten materiellen Ursachen der Mühsal des Familienlebens ziemlich schnell beseitigen wird.

Ein modernes sozialistisches Programm muss in praktischer Weise die Probleme ansprechen, vor denen Männer, Frauen und Kinder im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts konkret stehen. Dein Hinweis auf die Befreiung der Frau von der »häuslichen Sklaverei« erscheint etwas altbacken in einer Zeit, in der die Mehrheit der Mütter Jobs außerhalb ihres Haushalts ausüben. Anscheinend ist dir entgangen, dass die Zahl der Familien, auf die das Vater-Mutter-Kind-Familienmodell zutrifft, auf einen Bruchteil geschrumpft ist, seit in den 1950er-Jahren die Fernsehserie »Father knows best« lief. Auch das Bild des autoritären pater familias hat heutzutage nur noch wenig mit der Realität zu tun hat – besonders mit der Realität von Vätern aus der Arbeiterklasse, die zu Unterhaltszahlungen verurteilt werden, die bis zur Hälfte ihres Lohns ausmachen. Arbeiterfamilien werden von finanziellen Schwierigkeiten geplagt, aus denen sie keinen Ausweg finden. Die gewaltige Komplexität des gesellschaftlichen Lebens und der Druck, den es auf Familien ausübt, erfordert nicht die Erfindung einer neuen Familienform, sondern die Verlagerung der Lasten, die heute fast ausschließlich von Individuen getragen werden, auf die gesamte Gesellschaft.

Bedeutsam an deiner Erörterung der Familie sind aber nicht die Forderungen, die du erhebst, sondern das Licht, das du, Genosse Brenner, damit unbeabsichtigt auf die idealistische Weltsicht und Methode des zeitgenössischen Neo-Utopismus wirfst. Du betonst wiederholt, die Familie sei ein Bollwerk der sozialen Rückständigkeit. Doch wie immer liegt für dich die Ursache dieser Rückständigkeit nicht bei der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft, sondern bei der individuellen Psychologie, insbesondere bei den »unterdrückten Gefühlen im Unterbewusstsein«, die in der »erstarrten, nicht aufgearbeiteten Vergangenheit« des Menschen fortbestehen. Du lehnst die Auffassung ab, dass Veränderungen der wirtschaftlichen Organisation und Struktur der Gesellschaft entscheidend sein werden, um Rückständigkeit zu überwinden. Die Rückständigkeit wird deiner Meinung nach »fortbestehen und sich selbst verewigen«. Ein Eingreifen anderer Art sei nötig: »Um den Inhalt dieses Eingreifens dreht sich die ganze Diskussion: um den Kampf gegen sexuelle Unterdrückung und um die sozialistische Verwandlung der Familie – denn man kann die grundlegenden Probleme der menschlichen Persönlichkeit nur angehen, wenn man die Art und Weise verändert, wie Menschen großgezogen werden[67]

Die Kluft zwischen deiner Perspektive und der Perspektive der revolutionären sozialistischen Bewegung könnte nicht deutlicher sein. Würden wir deine Vorschläge und deine Perspektive übernehmen, müssten wir die SEP, das IKVI und die trotzkistische Bewegung auflösen. Es wäre keine internationale Partei erforderlich, die in der internationalen Arbeiterklasse für eine revolutionäre Strategie eintritt, die auf dem Verständnis der objektiven Gesetze des sozioökonomischen Systems beruht. Wir müssten das IKVI durch eine Organisation ersetzen, die sich auf die Psychotherapie konzentriert, die »unterdrückten Gefühle im Unterbewusstsein« ihrer Mitglieder und Unterstützer untersucht und die sexuellen Ängste anspricht, die ihre Ursache deiner Meinung nach in der Familienstruktur haben.

Wir werden auf die beunruhigenden und reaktionären Implikationen dieser verwirrten Perspektive zurückkommen. Doch vorher müssen wir auf den krassen Widerspruch in deiner Begründung eingehen. Wenn die Überwindung gesellschaftlicher Rückständigkeit ein umfassendes psychologisches Rehabilitationsprogramm, die Rekonstruktion der Persönlichkeit und die Umwandlung der Familie erfordert – wie kann dann das Bewusstsein der Massen jemals soweit angehoben werden, dass die Revolution, von der ja dieses beispiellose gesellschaftliche Reengineering-Projekt abhängig ist, überhaupt stattfindet? Wie kann der Sozialismus in einer Gesellschaft zu einer Massenbewegung werden, die aus Menschen besteht, die als Folge ihrer Erziehung psychisch geschädigt sind? Diesen Widerspruch kannst du nicht auflösen. Stattdessen verschärfst du ihn, indem du die ahistorischen Konzeptionen der alten Utopisten neu belebst. Ganz wie sie behauptest du: »Man kann die grundlegenden Probleme der menschlichen Persönlichkeit nur angehen, wenn man die Art und Weise verändert, wie Menschen großgezogen werden.« Anders gesagt: Wir brauchen eine neue Form der Familie. Aber da dies aus offensichtlichen Gründen ohne soziale Revolution nicht möglich ist, hängt die Eroberung der Macht vom Handeln von Menschen ab, wie sie heute existieren – was, wie es scheint, eine Revolution ausschließt. Und sollten es all diese geschädigten Menschen wie durch ein Wunder dennoch schaffen, den Kapitalismus zu stürzen, wird man sie anschließend instand setzen und umerziehen müssen. Deine Überzeugung, die Lenkung der Gesellschaft müsse »für eine beträchtliche Periode« in den Händen von besonders ausgebildeten Sozialisten verbleiben, die vorher mit dem vorgeschriebenen Bewusstsein indoktriniert worden sind, ist die logische Konsequenz aus deinem idealistischen Schema.

Die Vorstellung, die Umwandlung der Gesellschaft hänge von der Veränderung der Persönlichkeit des Menschen (der menschlichen Natur) ab, die wiederum von der Veränderung seiner Erziehung abhängig sei, veranlasste die Utopisten und ihre Anhänger, eigene sektiererische Gesellschaften zu gründen, in denen die Jugend nach den von den Erziehern festgelegten Grundsätzen erzogen wurde. Diese Experimente endeten allesamt in einer Sackgasse. Sie beruhten auf einer völlig falschen Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung. Marx unterzog diese utopische Illusion in der dritten »These über Feuerbach« einer vernichtenden Kritik:

Die [mechanisch-]materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist (z. B. bei Robert Owen).

Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.[68]

17. Bernstein, Wissenschaft und Utopismus

Sowohl in Genosse Brenners Dokument als auch in eurem gemeinsamen Brief behauptet ihr wiederholt, die Ablehnung des Utopismus in der Ära der Zweiten Internationale sei eine Folge des anwachsenden Opportunismus gewesen. Ihr schreibt:

Wissenschaft bedeutete in der Zweiten Internationale der Vorkriegszeit nicht einfach eine neutrale Weiterentwicklung der Theorie (wie North zu glauben scheint); sie wurde in wachsendem Maße ein Alibi für das Ausweichen vor der revolutionären Verantwortung, um die sich angeblich die »objektiven Umstände« kümmern würden. Daher die Notwendigkeit, den Utopismus zu einem regelrechten Tabu zu machen: Er bedrohte nicht die Wissenschaft, sondern diesen Objektivismus. Im Verlauf der Entwicklung des Marxismus war der wissenschaftliche Sozialismus dagegen ein dialektisches »Aufheben« [deutsch im Original] seiner utopischen Vorläufer; Utopie und Wissenschaft waren keine rigide Dichotomie, sondern eine Einheit der Gegensätze. Das ist aus so kanonischen Werken wie der »Kritik des Gothaer Programms« und »Staat und Revolution« leicht ersichtlich, ganz zu schweigen von dem kleinen Juwel Paul Lafargues »Recht auf Faulheit«.

Diese Darstellung der Ursprünge des Anti-Utopismus, unterfüttert mit pseudodialektischer Phrasendrescherei in zwei Sprachen, ist grundfalsch.

Eure Verwendung hegelscher Phrasen ist reine Sophisterei. Anstatt die tatsächliche Beziehung zwischen Utopismus und Marxismus zu erklären, nehmt ihr zu Begriffen wie »Aufheben« und »Einheit der Gegensätze« Zuflucht. Das ist eine Art, nichts zu sagen und dabei tiefsinnig zu erscheinen. Was man mit dem Missbrauch pseudo-dialektischer Phrasen anrichten kann, demonstriert eure Berufung auf Marx’ »Kritik des Gothaer Programms« und Lenins »Staat und Revolution«. Diese Werke veranschaulichten, schreibt ihr, dass Utopismus und Marxismus eine »Einheit von Gegensätzen« seien. Was genau soll das heißen? In beiden Werken findet man nichts Utopisches (auch nicht in Lafargues eher unbedeutendem Werk »Recht auf Faulheit«, wenn man von einigen stilistischen Rückgriffen auf die literarische Tradition von Fourier und Proudhon absieht). Marx schrieb seine »Kritik« mit dem erklärten Ziel, seine wissenschaftlichen Konzeptionen vom kleinbürgerlichen Eklektizismus und Utopismus abzugrenzen, die die Auffassungen der Lassalleaner prägten. So unterzog er deren Forderung nach »gerechter Verteilung des Arbeitsertrags« einer vernichtenden Kritik. Gegen alle utopischen Konzeptionen beharrte er: »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.«[69] Die strenge Kritik ungenauer und/ oder unrichtiger Formulierungen sei notwendig, erklärte Marx,

um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man einerseits Vorstellungen, die zu einer gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasenkram geworden, unsrer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andrerseits aber die realistische Auffassung, die der Partei so mühvoll beigebracht worden, aber Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Rechts- und andre, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen verdreht.[70]

Lenin arbeitete in »Staat und Revolution« gestützt auf eine systematische Überprüfung der Schriften von Marx und Engels zu diesem Thema eine Theorie des Staates aus. Wie in allen großen »kanonischen Werken« (euer Ausdruck, Genossen Steiner und Brenner) stellt Lenin die wissenschaftliche Haltung des Marxismus direkt und explizit in Gegensatz zum Utopismus. In einer wichtigen, oft zitierten Passage erklärt er:

Bei Marx findet man auch nicht die Spur von Utopismus in dem Sinne, dass er sich die »neue« Gesellschaft erdichtet, zusammenphantasiert. Nein, er studiert – wie einen naturgeschichtlichen Prozess – die Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert die Übergangsformen von der alten zur neuen …

Wir sind keine Utopisten. Wir »träumen« nicht davon, wie man unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte; diese anarchistischen Träumereien, die auf einem Verkennen der Aufgaben der Diktatur des Proletariats beruhen, sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirklichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, da die Menschen anders geworden sein werden. Nein, wir wollen die sozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne »Aufseher und Buchhalter« nicht auskommen werden.[71]

Das letzte Zitat ist eine besonders passende Antwort auf eure Behauptung, eine sozialistische Revolution setzte die psychologische Generalüberholung der Bevölkerung voraus.

Bernstein war kein Gegner des Utopismus. Er argumentierte dagegen, dass die sozialistische Bewegung ihre Existenzberechtigung wissenschaftlich nachweisen müsse. Er schrieb:

Während wir auf der Seite der praktischen Bewegung den Sozialismus in beständigem Aufstieg vor uns sehen, die sozialistischen Parteien in fast allen Ländern Erfolge über Erfolge erringen, die Arbeiterbewegung Position über Position gewinnt und immer sicherer auf bestimmte, selbstgesetzte Ziele vorrückt, ihre Forderungen immer klarer formuliert, scheint auf dem Gebiet der Wissenschaft der Sozialismus statt größerer Einheit der Zersetzung der Theorie entgegenzugehen, scheint statt Sicherheit Zweifel und Zerfahrenheit sich der theoretischen Vertreter des Sozialismus zu bemächtigen. Und so erhebt sich, wenn wir sehen, wie das eine das andere nicht hindert, ganz naturgemäß die Frage, ob überhaupt ein innerer Zusammenhang zwischen Sozialismus und Wissenschaft besteht, ob ein wissenschaftlicher Sozialismus möglich und – ich füge als Sozialist die Frage hinzu – ob ein wissenschaftlicher Sozialismus überhaupt nötig ist.[72]

Bernstein hielt es nicht für notwendig oder wünschenswert, die Verbindung des Marxismus zum Utopismus zu bestreiten, dessen Präsenz er in der sozialistischen Bewegung für unausweichlich hielt: »Ob aber als Zustand, als Lehre oder Bewegung aufgefasst, immer ist der Sozialismus hierbei mit einem idealistischen Element versetzt, entweder selbst dieses Ideal oder die Bewegung nach einem solchen hin. Es ist so ein Stück Jenseits – selbstverständlich nicht jenseits unseres Planeten, auf dem wir leben, wohl aber jenseits von dem, worüber wir positive Erfahrung haben.«[73]

Eure Behauptung, Bernstein habe die »Gegenüberstellung von Utopismus und Wissenschaft zu ihrer logischen Schlussfolgerung« geführt, ist ganz einfach eine Fehlinterpretation dessen, was der Begründer des modernen Revisionismus geschrieben hat. Er erklärte sorgfältig, dass er das Wort »Utopie« nicht »als gleichbedeutend mit überspannter träumerischer, ins Unrealisierbare fliegender Phantastik« verwende. Es wäre, beteuerte er, »die größte Ungerechtigkeit von der Welt«, eine solche Auslegung des Worts »mit Leuten wie Robert Owen, Henry Saint-Simon, Charles Fourier in Verbindung zu bringen, diesen Vorläufern des modernen Sozialismus, die man gewöhnlich als die drei großen Utopisten des XIX. Jahrhunderts bezeichnet«.[74] Weit davon entfernt, Marxismus und Utopismus als Gegensätze darzustellen, schrieb Bernstein: »Betrachten wir nun im Verhältnis zu den Doktrinen der drei sogenannten Utopisten die marxistische Lehre, so werden wir finden, dass bei dieser das wissenschaftliche Element zwar bedeutend stärker fundiert und entwickelt ist, als in jenen, dass aber hier so wenig wie dort die Wissenschaft alles ist. Das Gebiet, das der von der Tendenz, dem Willen, geleiteten Phantasie freigelassen ist, ist enger gezogen und seine Richtung stärker abgegrenzt, aber es ist darum doch nicht völlig verschwunden.«[75]

Bernstein warf Engels vor, er habe den Gegensatz zwischen den Werken von Marx und seinen utopischen Vorläufern übertrieben. »Nach der Seite der Owen, Fourier, Saint-Simon hin lässt es [das von Engels Gesagte] den Rang, in dem bei ihnen das Entdecken gegenüber dem Erfinden steht, als zu ungünstig erscheinen, auch sie haben auf das erstere den größeren Wert gelegt. Für den modernen Sozialismus aber proklamiert es eine Freiheit von der Erfindung, die er meines Dafürhaltens weder hat noch haben kann.«[76]

Diese Absätze zeigen, dass Bernstein die Bestimmung des Sozialismus als Wissenschaft und nicht den Utopismus als Gefahr für sein revisionistisches Vorhaben betrachtete. Euer Angriff auf den »Objektivismus« und die »Enthaltsamkeit« des IKVI knüpft an Bernsteins Standpunkte an. Mit eurem Vorschlag, den »sozialistischen Idealismus« neu zu beleben und zur programmatischen Grundlage einer neuen sozialistischen Kultur zu machen, stellt ihr euch außerdem in einer wichtigen philosophischen Frage direkt ins Lager der Revisionisten. Die »Zurück zu Kant«-Bewegung, die in den späten 1860er-Jahren einsetzte und eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der theoretischen Ansichten Bernsteins und seiner Unterstützer spielen sollte, vertrat die Auffassung, der Kampf für den Sozialismus bedürfe keiner wissenschaftlichen Begründung; die Berufung auf moralische Ideale – wie sie Kant in der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs formuliert hatte (»Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst«) – leiste dem Kampf für den Sozialismus ebenso gute Dienste wie Marx’ historisch deterministische Konzeption. Eine Gruppe deutscher Akademiker, darunter Karl Vorländer, forderte im späten 19. Jahrhundert sogar explizit, die sozialistische Bewegung solle sich philosophisch auf Kant berufen. Ihr werft die grundlegenden historischen Auffassungen des Marxismus derart hastig über Bord, dass ihr gar keine Zeit mehr findet, über die theoretischen Ursprünge und die Implikationen eurer eigenen Argumente nachzudenken.

18. Der Neo-Utopismus und die Demoralisierung der kleinbürgerlichen Linken

Ihr behauptet in eurem Dokument, mein Hinweis auf den Neo-Utopismus sei ein Strohmann-Argument. Um meine Behauptung zu untermauern, dass es eine derartige Strömung gebe und dass sie eine zeitgenössische Form des politischen Pessimismus darstelle, hätte ich nur ein einziges Werk zitiert, »Utopismus und Marxismus« von Vincent Geoghegan. In Wirklichkeit habe ich auch aus dem »Socialist Register« für das Jahr 2000 zitiert, das den Titel »Nötige und unnötige Utopien« trägt. Ich hätte vielleicht ausführlicher daraus zitieren können, aber diesem Mangel lässt sich leicht abhelfen. Hier ein Zitat aus dem Vorwort:

Wir haben das Thema dieser Ausgabe des »Socialist Register« erstmals im Jahr 1995 ins Auge gefasst und dachten dabei an folgende generelle Frage: Wir nähern uns dem Jahrtausendwechsel, was soll nun an die Stelle des ersten großen sozialistischen Projekts treten, das im 19. Jahrhundert in Westeuropa ausgedacht und im 20. Jahrhundert verschiedentlich erprobt wurde? Wir gaben uns nicht der Illusion hin, diese Frage lasse sich beantworten, indem sich noch so viele linke Intellektuelle das Gehirn zermartern. Wir waren aber der Meinung, es sei an der Zeit, die Vision und die Stimmung der Linken zu erneuern, und das »Register« könne etwas Nützliches dazu beitragen. Wir wollten mit dem Erbe einer bestimmten marxistischen Denkweise brechen, die das utopische Denken bloß deswegen als »unwissenschaftlich« zurückgewiesen hat, weil es utopisch ist, und dabei ignoriert hat, dass ein nachhaltiger politischer Kampf unmöglich ist ohne die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, die wir uns grundsätzlich und in ihren Umrissen vorstellen können. Wir hatten insbesondere den Eindruck, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der vollkommenen Ablehnung des sozialistischen Projekts durch die Sozialdemokraten, die für einen »dritten Weg« eintreten, angesichts der wachsenden Krise der neoliberalen Restauration eine Offenheit und ein Bedürfnis nach fantasievollem Denken besteht.[77]

Den Zusammenhang zwischen dem Neo-Utopismus und der Demoralisierung, die unter einer Schicht von Intellektuellen, Sozialisten und ehemaligen Radikalen vorherrscht, stellt bereits der erste Beitrag zu diesem Band her. Er wurde von Leo Panitch und Sam Gindin verfasst und trägt den Titel: »Den Pessimismus überwinden: Die sozialistische Fantasie wiedererwecken«. In ihm finden sich viele Themen, die in Brenners Essay auftauchen, einschließlich der Berufung auf das Werk von Ernst Bloch, von dem du, Genosse Brenner, den Titel deines Traktats über den Utopismus entlehnt hast, »Eine Sache zu kennen, heißt ihr Ende zu kennen«. In »Das Prinzip Hoffnung« schreibt Bloch: »Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende.«[78]

Es ist im Rahmen dieses Dokuments nicht möglich, gründlich auf die neo-utopistischen Theorien Ernst Blochs (1885–1977) einzugehen. Laut seinem Biographen Wayne Hudson übten u. a. Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, Dostojewski, Brentano, Meinong, Vaihinger, Hermann Cohen, Rudolf Steiner, Georges Sorel und Max Weber einen wichtigen Einfluss auf Blochs Denken aus. Die eklektische Vermengung dieser unterschiedlichen und vorwiegend reaktionären Einflüsse, denen er noch eine große Dosis jüdisch-kabbalistischer Mystik beimischte, machte den »Marxismus« Ernst Blochs aus. Es überrascht daher nicht, dass Bloch der Betonung der Ökonomie durch Marx und Engels und ihrer »Vernachlässigung der geheimen transzendentalen Elemente des Sozialismus«[79] kritisch gegenüberstand.

Laut Hudson glaubte Bloch, dass

der Marxismus, wie ihn Marx und Engels hinterlassen hatten, unvollständig war und dass ihm vieles fehlte, was für die Verwirklichung seines Ziels notwendig war. Er habe der Moral und der Liebe nicht den gebührenden Platz im revolutionären Kampf eingeräumt … Die Konzentration des Marxismus auf einen Himmel auf Erden reiche nicht aus … Stattdessen müsse die ursprüngliche religiöse Sehnsucht des Menschen berücksichtigt und eine Idee formuliert werden, die ihren Intentionen entspreche. Bloch deutete an, der Marxismus habe sich zu weit von der Utopie weg in Richtung Wissenschaft bewegt.[80]

Bloch trat für eine Versöhnung mit der Religion ein und begründete dies (laut Hudson) damit, dass der Marxismus »mit den Menschen in einer Sprache über ihre Lage sprechen müsse, die sie verstehen; er müsse eine Propaganda entwickeln, die an die Ideologie in ihren Köpfen anknüpfe, anstatt sich abergläubisch auf eine korrekte theoretische Analyse zu verlassen, um der Wahrheit auf der Welt einen Pfad zu bahnen«.[81]

Während der gesamten 1930er-Jahre blieb Bloch ein leidenschaftlicher Unterstützer Stalins, den er als Theoretiker hoch schätzte. Er begrüßte begeistert die in den Moskauer Prozessen verhängten Todesurteile. »Er war sogar«, schreibt Hudson, »stolz auf seine Fähigkeit, ein gewisses Maß an moralischem Übel und den ›unverkennbaren Geruch von Blut‹ hinzunehmen, und betrachtete das als Zeichen seiner politischen Reife … Er verklärte die stalinistischen Morde und wich dem moralischen Dilemma aus, indem er die Gewalt und den ›Roten Terror‹ in einem Zusammenhang akzeptierte, in dem die guten Absichten der revolutionären Kräfte und ihr Bekenntnis zu moralischen Werten als teleologische Ziele außer Zweifel standen.«[82] Als er dann 1953 in der stalinistischen DDR lebte, protestierte er nicht gegen die brutale Niederschlagung der Rebellion der Arbeiterklasse gegen das verhasste Regime von Walter Ulbricht.

Das ist der Mann, Genosse Brenner, von dem das Internationale Komitee deiner Meinung nach viel zu lernen hat und auf dessen theoretisches Vorbild du dich im Titel deines Dokuments über die Utopie berufst!

Dein Leugnen, dass der heutige Utopismus eine Antwort auf den Pessimismus sei, ist etwas seltsam, da auch Panitch und Gindin betonen, Bloch habe mit seinem ursprünglichen Werk das Ziel verfolgt, dem durch die Katastrophen der 1930er-Jahre hervorgerufenen Pessimismus etwas entgegenzusetzen. Sie schreiben:

Bloch reagierte mit dem Versuch, die Idee der Utopie wiederzubeleben. Er beharrte darauf, dass es selbst in einer Welt, in der die sozialistische Politik marginalisiert worden sei, immer noch die unzerstörbare Sehnsucht des Menschen nach Glück und Harmonie gebe, wenn auch nur in Tagträumen. Diese Sehnsucht gerate ständig in Konflikt mit dem wirtschaftlichen Wettbewerb, dem privaten Eigentum und dem bürokratischen Staat.[83]

Panitch und Gindin verheimlichen ihre eigene Auffassung nicht, der Marxismus beruhe auf einer unrealistischen, übertriebenen Einschätzung des revolutionären Potenzials der Arbeiterklasse. Sie schreiben:

… man muss sagen, dass Marx‘ historischer Optimismus, der Generationen von Sozialisten inspirierte, mit einer Unterschätzung des Abgrunds verbunden war, der sich zwischen der Dimension des utopischen Traums und dem vom Kapitalismus hervorgebrachten Werkzeug auftat, dem die Ehre – oder die Last – zufiel, diesen Traum zu verwirklichen: der Arbeiterklasse. Zwischen Marx’ allgemeiner, historisch inspirierten Vision der Revolution/ Umgestaltung und seiner detaillierten Kritik der politischen Ökonomie klaffte eine analytische und strategische Lücke, die sich nicht überbrücken ließ, ohne sich mit den tatsächlichen Fähigkeiten der Arbeiterklasse zu befassen. Spätere Marxisten haben diese Lücke bisweilen angesprochen, aber nie überwunden … Jede fortschrittliche soziale Bewegung muss sich früher oder später mit der unvermeidlichen Tatsache konfrontieren, dass der Kapitalismus unsere Fähigkeiten verkrüppelt, unsere Träume abstumpft und unsere Politik integriert.[84]

Genossen Steiner und Brenner, ihr habt das Recht, das Internationale Komitee zu kritisieren, aber haltet uns bitte nicht für Narren. Wir kennen die Literatur, die in kleinbürgerlichen politischen und akademischen Kreisen zirkuliert, und können die Quellen identifizieren, mit denen ihr arbeitet. Behauptet also bitte nicht, der Neo-Utopismus (und der Pessimismus, von dem er sich herleitet) sei ein »Strohmann«, den wir erfunden hätten, um euren brillanten und originellen Ideen entgegenzutreten. Damit täuscht ihr nicht uns, sondern euch selbst.

Im Folgenden beschwert ihr euch darüber, wie ich in meinem ersten Vortrag auf Geoghegans »Utopie und Marxismus« Bezug nehme. Es handle sich um »einen Rufmord«, behauptet ihr: »Zitate werden aus dem Zusammenhang gerissen, um Geoghegan (und damit den ›Neo-Utopismus‹) einer linken Version der Mythenbildung im Stile der Nazis zu überführen.« Auch das sei »Unsinn«, fahrt ihr fort, »wie es für jeden offensichtlich ist, der Geoghegans Buch liest. In dem von North angeführten Zitat erklärt er, dass die Nazis weit effektiver an die Psychologie der Massen appellierten als die deutsche Linke.«

Ihr habt verstanden, dass meine Vorträge vom letzten Sommer eine Antwort auf eure früheren Dokumente waren, und versucht jetzt, meine Kritik an euren Ansichten zu beantworten. Das dürfte inzwischen für jeden objektiven Leser offensichtlich geworden sein.

Die Zitate habe ich nicht aus dem Zusammenhang gerissen. Im Gegenteil: Ausführlichere Zitate hätten meine Einschätzung bestätigt, dass Geoghegan dem Marxismus vorwirft, er habe den Einfluss und die Bedeutung des Irrationalen als Beweggrund menschlichen Verhaltens unterschätzt. Ich sagte, Geoghegan werfe Marx und Engels vor, sie hätten es versäumt, »eine Psychologie zu entwickeln. Zur komplexen Frage der menschlichen Beweggründe hinterließen sie ein recht armseliges Erbe, und die meisten ihrer unmittelbaren Nachfolger sahen wenig Anlass, diesem Mangel abzuhelfen.«

Stellen wir das Zitat in den Zusammenhang, aus dem es »gerissen« wurde. Bei Geoghegan heißt es:

Es gab stets eine, wie man es nennen könnte, rationalistische Tendenz im Marxismus. Sie stützt sich auf das Persönlichkeitsmodell der Aufklärung und deren Unterscheidung zwischen Wissen und Unwissen. Hier sieht sie den Schlüssel zum zentralen Paradox des Kapitalismus: Dass die Menschen sich mit Bedingungen abfinden, die nicht in ihrem Interesse sind. Unwissen ist falsches Bewusstsein und Entfremdung, es äußert sich in einer Vielzahl irrationaler Überzeugungen und Verhaltensweisen. Brechen die Menschen jedoch einmal aus diesem Kokon der Illusionen aus, hören sie auf, sich derart sonderbar zu benehmen. In diesem Geist ist Pottiers »Internationale« geschrieben: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde/ die stets man noch zum Hungern zwingt!/ Vernunft erhebt sich donnernd zur Revolte/ die Zeit der Frömmelei ist endlich vorbei.«[85] Solch eine Sicht neigt dazu, die Wissensträger zu bevorzugen: diejenigen, die aus der Schattenwelt von Platos Höhle herausgetreten sind und das Licht der Wahrheit gesehen haben. Der Marxismus der Zweiten Internationale enthielt eine kräftige Dosis dieser Art von Rationalismus, was ihre Fixierung auf die Wissenschaft verstärkt hat. Ein Grund dafür, und ein Teil des Problems, war Marx’ und Engels’ Versäumnis, eine Psychologie zu entwickeln. Zur komplexen Frage der menschlichen Beweggründe hinterließen sie ein recht armseliges Erbe, und die meisten ihrer unmittelbaren Nachfolger sahen wenig Anlass, diesem Mangel abzuhelfen. Eine schlichte Auffassung des Individuums ging mit schlichten gesellschaftlichen Strategien einher.[86]

Der gesamte Absatz widerspricht meiner Zusammenfassung von Geoghegans Argument in keiner Weise. Anstatt euch zu beschweren, ich hätte den Autor falsch zitiert, solltet ihr lieber erklären, warum ihr mit seinen Ansichten übereinstimmt und wie es dazu gekommen ist. Eure zwiespältige Einstellung zur Aufklärung habe ich bereits angesprochen. Der zitierte Abschnitt enthüllt den Ursprung eures früheren Einwandes gegen meine »unkritische Verteidigung der Aufklärung«, und er zeigt, dass ihr mit eurer Wendung zum Neo-Utopismus ideologisch und politisch in äußerst ungesunde Gesellschaft geraten seid.

Es ist bedauerlich, dass ihr den verschiedenen Quellen nicht nachgegangen seid, aus denen Geoghegan seine Inspiration bezieht. Alle in diesem Absatz vertretenen Auffassungen, die ihr so heftig gegen meine Kritik verteidigt – der Marxismus sei übermäßig rationalistisch; er liege falsch in der Annahme, die Arbeiter würden den Sozialismus begeistert aufnehmen, sobald sie sich ihrer objektiven Klasseninteressen bewusst würden; es mangle ihm an einem angemessenen Verständnis der menschlichen Psychologie; er stütze sich auf eine falsche Theorie der Triebkräfte der Geschichte – wurden bereits acht Jahrzehnte zuvor bemerkenswert detailliert in dem Buch »Zur Psychologie des Sozialismus« von Hendrik de Man entwickelt.

De Man, ein belgischer Sozialist, der an der Universität von Frankfurt lehrte, hatte nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Marxismus gebrochen. Das Massenschlachten von 1914–1918, dessen Zeuge er als Soldat selbst wurde, veranlasste ihn zu einer »Verschiebung von der wirtschaftlich-deterministischen Auffassung des Sozialismus hinweg auf eine Denkweise zu, die dem Menschen als psychologischem Reaktionssubjekt die Hauptbedeutung beimisst«.[87]

De Man vertrat die Auffassung, der Hauptmangel des Marxismus sei dessen Glaube, das menschliche Handeln lasse sich vernunftmäßig erklären und der Sozialismus werde als Reaktion der Arbeiterklasse auf ihr Klasseninteresse entstehen. »Dieser Einsicht in die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit sozialistischer Motive hat sich der Marxismus hartnäckig verschlossen«, schrieb er. »Sie würde sonst seinen Glauben an den kategorischen Zusammenhang zwischen Klasseninteresse und Denkweise zerstört haben.«[88]

»Zur Psychologie des Sozialismus« übte in den 1920er-Jahren in deutschen Akademikerkreisen einen großen Einfluss aus, besonders in der Stadt, in der unter der Führung Friedrich Pollacks und Max Horkheimers gerade die Frankfurter Schule entstand. De Mans durchgehende Zurückweisung des Marxismus war zwar für die Gründer der Frankfurter Schule nicht akzeptabel, doch sein Versuch, den historischen Materialismus mit Psychologie zu unterfüttern, nahm Entwicklungen vorweg, die unter Horkheimers Kollegen zunehmend in den Vordergrund treten sollten.

Was De Man anbelangt, so erlangte er in den 1930er-Jahren beträchtliche Bekanntheit, als er, »inspiriert« von den kurzlebigen wirtschaftlichen Erfolgen des Hitlerregimes, seinen »Plan du travail« schrieb. Er strebte eine Allianz der Arbeiterklasse mit der Mittelklasse auf der Grundlage eines nationalen Wirtschaftsprogramms für einen staatlich regulierten Kapitalismus an. Nachdem die Nazis Belgien besetzt hatten, wo de Man »sozialistischer« Minister der Regierung war, kollaborierte er mit den Faschisten. Nach Kriegsende floh er aus Belgien, wo er in Abwesenheit wegen Verrats verurteilt wurde. Er starb 1953 in der Schweiz. Sein Leben ist ein extremes, aber keineswegs einmaliges Beispiel für die unstete Biografie von Leuten, die versuchen, den Sozialismus vom historischen Materialismus zu trennen. Es ist ein reaktionäres Unterfangen mit gefährlichen politischen Folgen.

19. Was steht wirklich bei Daniel Guérin?

Ihr behauptet wiederholt, das Internationale Komitee verstehe die Bedeutung der »menschlichen Faktoren« nicht, die im Kampf für den Sozialismus eine entscheidende Rolle spielten, und ignoriere sie. Damit begehen wir euch zufolge denselben Fehler wie die Stalinisten und Sozialdemokraten vor Hitlers Sieg im Jahre 1933. Diese hätten »im Namen eines falschen ›Materialismus‹ nur Verachtung für die Rolle des politischen Idealismus bei der Mobilisierung von Massenunterstützung übrig« gehabt. Zum Beleg beruft ihr euch auf das bekannte Buch »Faschismus und Großkapital«, das der damalige Trotzkist Daniel Guérin während der 1930er-Jahre schrieb. Aus diesem 318 Seiten langen Buch zitiert ihr genau einen Absatz:

Die degenerierten Marxisten halten es für sehr »marxistisch« und »materialistisch«, den menschlichen Faktor gering zu schätzen. Sie sammeln Daten, Statistiken und Prozentzahlen; mit großer Sorgfalt studieren sie die tiefen Ursachen gesellschaftlicher Phänomene. Doch weil sie nicht ebenso gründlich studieren, wie sich diese Ursachen im Bewusstsein des Menschenwiderspiegeln, und weil sie nicht in die Seele der Menschen eindringen, begreifen sie die lebendige Wirklichkeit dieser Phänomene nicht.[89]

Ihr kommentiert diesen Abschnitt wie folgt: »Genau das sagten Reich und Fromm in den Dreißigern, und genau das wiederholt Geoghegan in den Bemerkungen, die North so empörend findet.« Ihr wollt dem Leser also nahelegen, Guérin habe geglaubt, eine zu große Betonung der Wissenschaft und der materialistischen Erklärung objektiver Bedingungen, gepaart mit einem Mangel an psychologischem Verständnis bei den Marxisten, habe in beträchtlichem Maße zum Sieg der Nazis beigetragen. Da Guérin während der 1930er-Jahre ein bekannter Trotzkist war, sollen eure Leser wohl auch glauben, dies sei die Ansicht Trotzkis gewesen.

Wieder zitiert ihr irreführend und unehrlich. Ihr führt drei Sätze an, um eure Argumente zu belegen, die sich – wie wir sehen werden – völlig von Guérins Argumenten unterscheiden. Welche »degenerierten Marxisten« und welchen »falschen Materialismus« meinte er?

Wiederholen wir also die Prozedur, die wir schon mehrfach im Laufe dieses Dokuments angewandt haben: Gehen wir zum Text des Autors selbst zurück und stellen euer Zitat in den richtigen Zusammenhang. Das Kapitel, aus dem ihr das Zitat entnommen habt, trägt den Titel »Faschistische Mystik«. Es gibt eine wertvolle Darstellung der Propaganda- und Agitationsmethoden, derer sich die Faschisten bedienten, um die Massen zu verwirren und zu täuschen. Guérin weist nach, dass die Appelle, die die Faschisten an die Gefühle und den blinden Glauben ihrer potentiellen Anhänger richteten, den Klasseninteressen entsprachen, denen sie dienten. »Eine Partei, die von der herrschenden Klasse mit Geldern gestützt wird und das geheime Ziel verfolgt, die Privilegien der besitzenden Klassen zu schützen, hat kein Interesse daran, die Intelligenz ihrer Gefolgschaft anzusprechen. Sie hält es für ratsam, nicht an ihre Einsicht zu appellieren, bevor sie sorgfältig umgarnt worden sind.«[90]

Guérin erklärt weiter, dieser Appell an den blinden Glauben werde erleichtert, weil sich der Faschismus »in der glücklichen Lage befindet, sich an die Elenden und Unzufriedenen richten zu können«. Er bemerkt:

Es ist ein psychologisches Phänomen, so alt wie die Welt, dass Leid für Mystik empfänglich macht. Wenn der Mensch leidet, weist er die Vernunft zurück, hört auf, logische Abhilfe für seine Leiden zu suchen, er hat nicht mehr den Mut, sich selbst zu retten. Er erwartet ein Wunder und ruft nach einem Retter, dem zu folgen und für den sich zu opfern er bereit ist.

Schließlich hat der Faschismus gegenüber dem Sozialismus – wenn man überhaupt so sagen darf – den Vorteil, dass er die Massen verachtet. Er zögert nicht, sie mittels ihrer Schwächen zu erobern.[91]

Man muss nur diesen Abschnitt lesen, um zu erkennen, wie grundsätzlich unvereinbar die Anschauungen Guérins mit denen Geoghegans sind, die ihr so warmherzig begrüßt. Für Guérin war die irrationale Herangehensweise der Faschisten ein Ausdruck ihrer reaktionären Zielsetzung, und nicht ein psychologisches Modell, von dem man lernen kann und dem man nacheifern sollte.

Nach seiner Analyse der faschistischen Propaganda- und Mobilisierungstechniken fragt Guérin einige Seiten weiter: »Was hat die Arbeiterbewegung getan, um die faschistische ›Mystik‹ zu bekämpfen[92] Die von ihm dann angeführten Gründe, weshalb die Arbeiterbewegung keine effektiven Methoden entwickelt habe, haben mit Geoghegans Auffassung nicht das Geringste zu tun. Zunächst einmal stellt er klar, dass gewisse Probleme, vor denen Sozialisten auf dem Gebiet der Massenagitation stehen, der »ureigenen Natur« des Sozialismus entspringen. Er erklärt:

Der Sozialismus ist weniger eine Religion, als eine wissenschaftliche Auffassung. Er richtet sich daher mehr an Intelligenz und Vernunft, als an Sinne und Vorstellung. Der Sozialismus nötigt keinen Glauben auf, der ohne Diskussion angenommen werden soll. Er legt eine rationale Kritik der kapitalistischen Gesellschaft vor und verlangt von jedem, seine eigene Vernunft und Urteilskraft zu bemühen, bevor er Mitglied wird. Er appelliert mehr an das Gehirn als an Auge oder Nerven; er versucht den Leser oder Zuhörer nüchtern zu überzeugen, und nicht ihn mitzureißen, ihn zu erschüttern oder ihn zu hypnotisieren.[93]

Guérin anerkennt, dass die Propagandamethoden des Sozialismus »verjüngt und modernisiert« werden müssen, damit sie »für die Massen besser verständlich sind und sich in einer klaren und direkten Sprache an sie richten«. Doch er schränkt dies sofort mit der Warnung ein: »Der Sozialismus kann sich unter Androhung des Selbstverrats nicht wie der Faschismus an die niederen Instinkte der Massen wenden. Im Gegensatz zum Faschismus verachtet er die Massen nicht, sondern respektiert sie. Er will, dass sie besser werden, als sie sind, dass sie zum bewussten Proletariat werden, aus dem der Sozialismus hervorgeht. Er strebt danach, ihr intellektuelles und moralisches Niveau zu heben und nicht es zu senken.«[94]

Zu eurer Schande habt ihr diese wundervollen Worte nicht zitiert, weil ihr genau wisst, dass sie das marxistische Vertrauen in die Macht der Vernunft und die Auffassung verteidigen, der Sieg des Sozialismus erfordere die Hebung des politischen Bewusstseins, und nicht die Manipulation des Unbewussten. Nirgends in seinem Buch legt Guérin nahe, das Problem des Marxismus bestehe darin, dass er »von der Wissenschaft besessen« sei. Man sollte nicht vergessen, dass sein Buch das Ziel verfolgte, die objektiven ökonomischen und politischen Verbindungen zwischen dem Faschismus und der herrschenden Elite aufzuzeigen, das heißt, das politische Phänomen des Faschismus wissenschaftlich zu verstehen.

Warum war der Sozialismus unfähig, der Agitation der Faschisten effektiv entgegenzutreten? In welchem Sinne war die sozialistische Bewegung »degeneriert«? Guérin nennt als Antwort auf diese Fragen den poli­tischen Opportunismus der sozialistischen Bewegung. »Sie begann zu glauben, unmittelbare Vorteile und selbst das ›Paradies auf Erden‹ könnten ohne Kämpfe und Opfer erreicht werden, durch die vulgäre Praxis der ›Klassenkollaboration‹«.[95] Voller Verachtung beschreibt er die Arbeiterbürokraten als

konservative, routinierte, wohlgenährte und selbstzufriedene Hohepriester, die fest auf dem Boden der bestehenden Ordnung standen und in Gebäuden residierten, die durch Beiträge der Arbeiter bezahlt und »Volkshäuser« genannt wurden. Ein Abgeordnetenmandat oder einen gepolsterten Sessel in einem Gewerkschaftsbüro zu ergattern, war für die Führer dieses degenerierten Sozialismus zum Lebenszweck geworden. Sie glaubten nicht mehr, sie genossen! Und sie wünschten sich Anhänger nach ihrem Ebenbild – ohne Ideale und nur an materiellen Vorteilen interessiert.[96]

Die Degeneration, die Guérin hier beschreibt, hat ihre Ursache nicht im Versagen oder den Mängeln des Marxismus, sondern im Opportunismus der Arbeiterbürokratie. In dem Absatz, der dem von euch zitierten unmittelbar vorangeht, erklärt Guérin, wie der Opportunismus die marxistische Methode untergraben hatte:

Auf dem Gebiet der Theorie verfälschte der Sozialismus gleichzeitig den »historischen Materialismus«, eine seiner grundlegenden Ideen. Die ersten marxistischen Sozialisten waren in dem Sinne Materialisten, dass die »Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt« bedingt. Im Unterschied zu den »Idealisten«, die eine bereits bestehende, der Menschheit innewohnende Idee von Recht und Gerechtigkeit, die im Verlauf von Jahrhunderten verwirklicht wird, als Haupttriebkraft der Geschichte betrachten, spielten für diese frühen Sozialisten die Produktionsverhältnisse, die wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen den Menschen, die vorherrschende Rolle in der Geschichte. Sie legten Wert auf die ökonomische Basis, die vorher oft vernachlässigt worden war, verachteten deshalb aber nicht den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen und philosophischen »Überbau«. Dieser wurde ihrer Auffassungen nach von der Basis bestimmt, spielte aber dennoch einen eigene Rolle und war wesentlicher Bestandteil der Geschichte und des Lebens.[97]

Nach dieser Verteidigung der materialistischen Geschichtsauffassung des Marxismus folgt, diesmal im richtigen Zusammenhang, die von euch zitierte Passage, die wir hier der Klarheit halber nochmals zitieren:

Die degenerierten Marxisten halten es für sehr »marxistisch« und »materialistisch«, den menschlichen Faktor gering zu schätzen. Sie sammeln Daten, Statistiken und Prozentzahlen; mit großer Sorgfalt studieren sie die tiefen Ursachen gesellschaftlicher Phänomene. Doch weil sie nicht ebenso gründlich studieren, wie sich diese Ursachen im Bewusstsein des Menschenwiderspiegeln, und weil sie nicht in die Seele der Menschen eindringen, begreifen sie die lebendige Wirklichkeit dieser Phänomene nicht.[98]

Jetzt wird verständlich, worauf Guérin hinauswollte. Ihrem Opportunismus entsprechend vertrat die degenerierte Bürokratie eine vulgäre und mechanische Karikatur des Marxismus. Sie war daher unfähig, die vielfältigen Ausdrucksformen der ausweglosen kapitalistischen Krise in der Politik und im Bewusstsein der Massen zu verstehen. An die Fleischtöpfe der Weimarer Republik gefesselt, fand die korrupte sozialistische Bewegung keinen Weg zum Bewusstsein der Massen. Der Opportunismus lehnte die revolutionäre Perspektive und die Bereitschaft des Marxismus zum Kampf ab. Das war das Problem, und nicht der Marxismus und der historische Materialismus.

Guérin beendet seine Analyse mit der Warnung:

Abertausende Männer, Frauen und Jugendliche, die darauf brennen, sich zu engagieren, werden nicht von einem Sozialismus angezogen, der sich auf einen völlig opportunistischen Parlamentarismus und ein vulgäres Gewerschaftlertum beschränkt. Der Sozialismus kann nur wieder zu einer anziehenden Kraft werden, wenn er den Massen sagt, dass sie sein Endziel, das »Paradies auf Erden«, nur mittels großer Kämpfe und Opfer erreichen können.[99]

Am Ende unseres Rückblicks auf Guérins Buch bleibt anzumerken, dass der Autor im Vorwort zur französischen Ausgabe von 1965 bestätigte, dass ihm die Schriften Leo Trotzkis über Deutschland und Frankreich als Leitfaden dienten. »Sie halfen mir, das schwierige Problem der Mittelklassen zu verstehen, die zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie schwankten und durch die Wirtschaftskrise sowie das Versagen der Arbeiterklasse den ultrarechten Verbrechern in die Arme getrieben wurden.«[100]

20. Wilhelm Reichs Auffassung des sozialistischen Bewusstseins

Im Verlauf eurer Verteidigung Geoghegans bezieht ihr euch zustimmend auf das Werk von Wilhelm Reich. In diesem Fall habe ich nichts gegen die Verbindung einzuwenden, die ihr zwischen den beiden zieht. Geoghegans Behauptung, die Nazis seien »mit ihren Appellen an die Massenpsychologie weit erfolgreicher gewesen als die deutsche Linke«, wiederholt im Wesentlichen die Argumente Wilhelm Reichs aus den 1930er-Jahren, wie ihr richtig erklärt. Ihr schreibt in Übereinstimmung mit Reich: »Das politische Bewusstsein war ein Schlachtfeld, das die Linke ignorierte, mit verheerenden Folgen.« Und: »Der Sozialismus hätte nur triumphieren können, wenn er die Unterstützung von Millionen Arbeitern gewonnen hätte, und dazu hätte die Linke einen Weg finden müssen, um die Hoffnungen, Ängste und Träume dieser Millionen zu befeuern.«

Das wirft die Frage auf, wie Wilhelm Reich die Entwicklung von »poli­tischem« und »sozialistischem« Bewusstseins verstanden hat. In eurem Dokument sagt ihr überraschend wenig zu diesem Thema. Ihr bemerkt nur beiläufig, Reich habe »mit der faszinierenden Arbeit, die er in den frühen Dreißigern mit deutschen Arbeiterjugendlichen in der Sexpol-Bewegung leistete … praktisch vorgeführt«, wie ein »erneuerter sozialistischer Idealismus« entwickelt werden könne. Ihr deutet damit zwar an, dass Reichs Werk wichtige Lehren für heutige Sozialisten enthalte, fasst aber seine Ansichten weder zusammen, noch erklärt ihr, warum sie bleibende Bedeutung haben. Ein Dokument mit dem Titel »Utopie und Revolution«, das du, Genosse Steiner, 2004 geschrieben und an Genosse Steve Long vom IKVI geschickt hast, gibt aber einen Hinweis darauf, was du für wichtige Erkenntnisse von Wilhelm Reich hältst. Du unterstützt dort Auffassungen, die Herbert Marcuse in seiner Schrift »Triebstruktur und Gesellschaft« vertritt, und erklärst, Marcuse wolle »im Wesentlichen auf dasselbe hinaus wie Reich in ›Die Massenpsychologie des Faschismus‹: Wenn die marxistische Bewegung kein Mittel finde, die unterdrückten libidinösen Triebe in eine progressive Richtung zu lenken, werde der Faschismus diese Triebe nutzen, um uns ins Zeitalter der Barbarei zurückzuwerfen.« Du ergänzt: »Ich könnte sehr viel mehr zu diesem Thema sagen, aber ich habe meinen Standpunkt, glaube ich, klargemacht.«

Das hast du tatsächlich. Was du unter dem Kampf für »politisches« und »sozialistisches« Bewusstsein verstehst, hat mit Marxismus nicht das Geringste zu tun. Viel von dem, was du schreibst, stützt sich auf das Werk Wilhelm Reichs, dessen Vorstellungen dem historischen Materialismus und der revolutionären marxistischen Tradition völlig fremd sind. Reich war natürlich ein Produkt seiner Zeit und Kultur, und es gibt ein wirklich tragisches Element in seinem Leben. Er war, wie so viele andere, ein Opfer der Katastrophe, die in den 1930er- und 1940er-Jahren über die Arbeiterklasse und über sozialistische Intellektuelle hereinbrach. Sein Werk und seine Auffassungen, die nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten zunehmend zwanghafte, desorientierte und sogar politisch rechte Formen annahmen, waren von der massiven Niederlage geprägt, die der Faschismus der deutschen und europäischen Arbeiterklasse im Laufe der 1930er-Jahre zugefügt hatte. Man empfindet Mitleid mit dem traurigen Schicksal dieses exilierten europäischen Psychologen. Er wurde aus dem Wiener und Berliner Milieu herausgerissen, in dem seine geistige Entwicklung wurzelte, und erregte mit seiner Erforschung der menschlichen Sexualität den Zorn der rachsüchtigen amerikanischen Behörden, die ihn ins Gefängnis von Lewisburg, Pennsylvania, sperrten, wo er 1957 im Alter von sechzig Jahren starb. Sein Leben verdient Verständnis und Respekt, wie es ihm in Myron Sharafs Biografie »Der heilige Zorn des Lebendigen« zum Glück auch entgegengebracht wird.

Wilhelm Reichs menschliche und kulturelle Tragik verdienen Verständnis, nicht aber dein Bemühen, den Marxismus und den Trotzkismus mit reichscher »Sex-Politik« zu vermischen oder durch sie zu ersetzen. Dafür bringen wir nicht die geringste Geduld auf. Der Versuch, aus Reichs Sexualtheorien, wie er sie insbesondere in »Die Massenpsychologie des Faschismus« dargestellt hat, eine sozialistische Strategie abzuleiten, kann nur zu einer schlimmen politischen Fehlorientierung führen. Die Frage, weshalb die deutsche Arbeiterklasse von Hitler und den Nazis besiegt wurde, zählt zu den wichtigsten in der Geschichte der sozialistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Reichs Antwort darauf ist von einem düsteren Pessimismus durchdrungen, der sich nicht mit einer revolutionären Perspektive vereinbaren lässt. Er sieht die Wurzeln des Faschismus in einer allgemein, von Natur aus gestörten menschlichen Psychologie. Dafür gibt es im historischen Materialismus keine Grundlage. Reichs Antworten führen nicht nur zu einer falschen Perspektive und zu einem falschen Programm. Wer sie anerkennt, muss zwangsläufig von der revolutionären Poli­tik und vom Sozialismus wegdriften, eine Entwicklung, die Reichs eigener Werdegang vorwegnahm.

Im Dezember 1933 schrieb Reich, der nach Dänemark geflohen war, unter dem Pseudonym Ernst Parrell eine Broschüre mit dem Titel »Was ist Klassenbewusstsein?« In diesem relativ kurzen Werk fasst er seine Schlussfolgerungen aus der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse zusammen.

Bemerkenswert an diesem Text ist, dass er nur flüchtig auf programmatische und Perspektivfragen eingeht. Über die Politik der Sozialdemokraten und der Stalinisten, die die Arbeiterklasse demoralisierte und spaltete und den Weg für den Sieg der Nazis ebnete, sagt er so gut wie nichts. Für diese Fragen zeigt Reich kein besonderes Interesse. Hauptursache für die Niederlage der Arbeiterklasse sind für ihn nicht der feige Opportunismus der Sozialdemokratie oder das ultralinke Abenteurertum der »Dritten Periode« der Kommunistischen Partei, sondern »der Mangel einer brauchbaren marxistischen politischen Psychologie … Dieser Mangel auf unserer Seite wurde zum größten Vorteil des Klassenfeindes, wurde die mächtigste Waffe des Faschismus. Während wir den Massen großartige historische Analysen und ökonomische Auseinandersetzungen über die imperialistischen Gegensätze vorlegten, entbrannten sie für Hitler aus tiefsten Gefühlsquellen.«[101]

Bei der Darstellung seiner Auffassung von Klassenbewusstsein legt Reich eine Haltung zu den intellektuellen Fähigkeiten der Arbeiterklasse an den Tag, die an pure Verachtung grenzt. Er hält den Glauben schlicht für absurd, die Arbeitermassen seien empfänglich für das »Wissen um die Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems, um die ungeheuren Möglichkeiten der sozialistischen Planwirtschaft, um die Notwendigkeit der sozialen Revolution als der Angleichung der Aneignungsform an die Produktionsform, um die vorwärts- und rückwärtstreibenden Kräfte der Geschichte«. Diese Fragen sind für die Parteiführer wichtig und bilden einen Bestandteil ihres höher entwickelten Klassenbewusstseins. Aber das Klassenbewusstsein der Massen »ist von solchem Wissen weit entfernt, ebenso von großen Perspektiven, da geht es um Kleines und Kleinstes, Alltägliches, Banales«. Die politischen Führer müssen sich natürlich um die Probleme der internationalen Politik kümmern. Aber das Bewusstsein der Arbeitermassen »ist an den russisch-japanischen oder englisch-amerikanischen Gegensätzen gänzlich uninteressiert, ebenso am Fortschritt der Produktivkräfte; es orientiert sich einzig und allein an den subjektiven Spiegelungen, Verankerungen, Auswirkungen dieses objektiven Geschehens in millionenfach verschiedenen kleinsten Alltagsfragen; sein Inhalt also ist das Interesse an Nahrung, Kleidung, Mode, familiären Beziehungen, den Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung im engsten Sinne, an den sexuellen Spielen und Vergnügungen im weiteren Sinne, wie Kino, Theater, Schaubuden, Rummelparks und Tanz, ferner an den Schwierigkeiten der Kindererziehung, an Hausschmuck, an Länge und Gestaltung der Freizeit etc. etc.«

Wichtigste Aufgabe der Marxisten sei es daher, »den Anschluss an das kleine, banale, primitive, einfache Alltagsleben und Wünschen der breitesten Masse in allen ihren Verschiedenheiten nach Land und Schichten zu finden«.[102]

Selbst wenn man von der Frage der Sexualität absieht, die für Reich derart im Vordergrund steht, offenbart seine Haltung zur Entwicklung sozialistischen Bewusstseins den Druck gesellschaftlicher Einflüsse, die nicht aus der großen geistigen und kulturellen Tradition der marxistischen Bewegung stammen. Reich brachte eine besonders vulgäre Form des politischen Opportunismus zum Ausdruck, wie man ihn öfters unter Intellektuellen findet, deren Verständnis der Arbeiterklasse impressionistisch, unhistorisch und in den Vorurteilen ihres eigenen kleinbürgerlichen und beruflichen Milieus befangen ist. Sie nehmen die Arbeiterklasse nicht als historisch aufsteigende Klasse wahr, als Protagonistin einer neuen und höheren Gesellschaftsorganisation. Sie sehen lediglich eine Ansammlung rückständiger und unwissender Individuen, die sich kaum über das Niveau wilder Bestien erheben, unwissend, gleichgültig gegenüber kulturellen Fragen und ohne ernsthafte Interessen. Wozu, denken solche Intellektuelle, soll man den Arbeitern mit Geschichte, Politik, Ökonomie und Kultur kommen? Damit unsere Ideen den Massen zugänglich werden, muss man sich auf ein möglichst niedriges Niveau begeben. Seltsamerweise geht eine solche Haltung oft Hand in Hand mit der Verherrlichung einer unpolitischen Gewerkschaftsarbeit.

Man muss hier die Frage stellen, warum die erste, mächtigste und politisch höchstentwickelte Arbeitermassenpartei der Geschichte in Deutschland entstanden ist. Das hat ohne Zweifel etwas mit den erstaunlichen kulturellen Errungenschaften der Aufklärung zu tun. Die sozialistische Massenbewegung entstand in Deutschland auf der Grundlage der philosophischen Revolution, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Kant einsetzte. Ihre Geschichte beweist den organischen Zusammenhang zwischen einer fortschrittlichen Theorie und einer mächtigen, klassenbewussten Arbeiterbewegung. Das Erbe Kants, Lessings, Hegels, Feuerbachs, Goethes, Schillers, Kleists, Mozarts und Beethovens schuf, im Wechselspiel mit den Auswirkungen der französischen Revolution, ein außergewöhnliches kulturelles und geistiges Umfeld, dass sich für die Entwicklung eines sozialistischen Massenbewusstseins im Proletariat, das mit der Industrialisierung Deutschlands rasch heranwuchs, als äußerst günstig erwies. In Marx’ überragender Figur fand die gesamte vorangegangene geistige Entwicklung Deutschlands ihren konzentrierten Ausdruck.

Hätte Marx das Proletariat so wie Reich aufgefasst, hätte er niemals schreiben können, die Philosophie sei der Kopf, das Proletariat das Herz der menschlichen Emanzipation. Und Engels hätte nicht erklärt: »Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie.«[103] Die deutsche Sozialdemokratie mit ihren unzähligen Schulungsvereinen und -projekten, war nicht nur eine politische, sondern auch eine mächtige kulturelle Bewegung der Arbeiterklasse, beflügelt von Lehrern, die von einem theoretisch fundierten Verständnis der historischen Mission der Arbeiterklasse durchdrungen waren. Wie hätten sie ihre revolutionäre Erziehungsarbeit leisten und unermüdlich Vorträge halten und schreiben können, wenn sie der Ansicht gewesen wären, der deutschen Arbeiterklasse seien ihre Anstrengungen gleichgültig? Es ist unvorstellbar, dass Franz Mehring und Rosa Luxemburg in gleicher Weise wie Reich über das Proletariat geschrieben hätten.[104]

Reichs abschätzige Auffassung von Klassenbewusstsein ist nicht nur Ausdruck seiner eigenen gesellschaftlichen Vorurteile, sondern auch seiner Verzweiflung über eine politische Katastrophe, deren Ursachen er nicht verstand. Politischer Opportunismus ist nicht selten ein Nebenprodukt von Verzweiflung. Man hat den Eindruck, Reich habe in der Sexualfrage ein Mittel entdeckt, das ihm Zugang zum Massenbewusstsein verschaffen sollte, ohne dass er sich mit den komplizierten politischen und theoretischen Fragen befassen musste, von denen er glaubte, die Arbeiterklasse könne sie nicht verstehen. Vor allem junge Leute waren seiner Meinung nach für eine solche Herangehensweise empfänglich: »Wir können der Jugend aller Länder und Erdteile die Notwendigkeit der sozialen Revolution nicht theoretisch beweisen, sondern sie nur aus den Nöten und Widersprüchen der Jugend entwickeln. Im Zentrum dieser Nöte und Widersprüche steht die riesenhafte Frage des Geschlechtslebens der Jugend.«[105]

Bei aller Offenheit gegenüber sexuellen Fragen stand er nicht über den Vorurteilen seiner Zeit: »Je klarer darin die natürlichen heterosexuellen Neigungen zur Entwicklung gelangen, desto leichter ist der Jugendliche revolutionären Ideen zugänglich; je mehr in seiner Struktur das homosexuelle Bedürfnis wirkt und je verdrängter das Bewusstsein der Sexualität im Allgemeinen, desto leichter zieht es ihn nach rechts.«[106]

Die folgende längere Passage illustriert, wie opportunistisch und naiv Reichs Auffassung war, »Sex-Politik« sei der Generalschlüssel für den Zugang zu den Massen. Sie soll zeigen, dass Sozialisten, die verdeckt auf faschistischen Versammlungen eingreifen, selbst unter engagierten Nazis Unterstützung finden können, wenn sie geschickt eine Debatte über zulässige Sexualpraktiken anstoßen.

… Wäre ein einfach überlegender Mann in einer [Nazi-]Versammlung aufgestanden und hätte gefragt, wodurch sich konkret die Moral vom Moralin unterscheidet, jeder Nazifunktionär wäre in tiefste Verlegenheit gekommen. Die Frage hätte nur konkret lauten müssen. Einer Frau das Ausgehen mit einem jungen Mann zu verbieten, sei also Moralin, nicht aber Moral, die der Nationalsozialismus fordere; das Alleinausgehen sei also gestattet. Wie nun, wenn der junge Mann die Frau küsst? Ist das Moralin oder noch Moral, oder gar wenn er ein Liebesverhältnis mit ihr wünscht? Das gehöre doch zur Lebensfreude, oder nicht? Sollte der Nationalsozialist an dieser Stelle noch mehr opfern und sogar die freie Liebe zugeben, was wir ihm gewiss zutrauen können, könnte weiter gefragt werden, ob denn das der Festigung der Ehe und Familie nicht schaden würde …

Reich führt den eingebildeten Dialog in dieser Weise fort, um dann zu behaupten:

Man wird zugeben, dass derartig sich eine lebhafte öffentliche Debatte in völlig unpolitischen Formen entwickeln könnte, die den Nazis hundertmal unangenehmer werden könnte als tausend Flugblätter, aus dem einfachen Grunde, weil die Nazis selbst für uns Propaganda machen würden, gänzlich unbewusst. Es gibt kein Klassenbewusstsein? Es sitzt in allen Ritzen des Alltagslebens! Es sei unmöglich, es zu entwickeln, denn man wandere in den Kerker? Greift Fragen auf, die jedem Nazi am nächsten auf den Leib rücken, solche, die die Reaktion nie beantworten kann, und Ihr braucht über die Frage des Klassenbewusstseins nicht nachzudenken. Rolle der Avantgarde in der Illegalität? Hier liegt sie vergraben! In den konkreten Inhalten der proletarischen Demokratie, nicht im Wort oder in der Parole von der proletarischen Demokratie, unter denen sich von hundert neunzig nichts vorstellen.[107]

Überzeugt, dass eine revolutionäre Politik nur Erfolg haben könne, wenn sie »in Inhalt und Sprache Ausdruck des primitiven, ungebildeten, lebensverbundenen Wesens der breiten Masse« sei,[108] hielt Reich die Betonung, die Trotzki auf die Klärung der Differenzen zwischen politischen Tendenzen legte, natürlich für Zeitverschwendung. In einem Absatz, der sich direkt gegen Trotzkis Aufruf zur Gründung der Vierten Internationale richtet, schrieb er: »Die Masse versteht aber von den feinen Differenzen zwischen den einzelnen revolutionären Richtungen nichts, sie ist daran uninteressiert.«[109]

Das Werk »Die Massenpsychologie des Faschismus«, in dem Reich seine Erklärung für den Sieg der Nazis darlegt, ist Ausdruck tiefster Verzweiflung. Das Anwachsen des Faschismus zu einer Massenbewegung sei nicht das Ergebnis politischer Umstände, sondern des krankhaften Zustands der menschlichen Psyche. Reich besteht darauf, dass der Faschismus seinem Wesen nach keine politische Bewegung sei. Seine politische Gestalt sei lediglich die äußere Form eines tiefer verwurzelten menschlichen Phänomens. Reich schreibt:

… meine ärztlichen Erfahrungen mit Menschen vieler Schichten, Rassen, Nationen, Glaubensbekenntnisse etc. [hatten mich] gelehrt, dass »Faschismus« nur der politisch organisierte Ausdruck der durchschnittlichen menschlichen Charakterstrukturen ist, eine Struktur, die weder an bestimmte Rassen oder Nationen noch an bestimmte Parteien gebunden ist, die allgemein und international ist. In diesem charakterlichen Sinne ist »Faschismus« die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung.[110]

Reich schrieb, er sei zur Überzeugung gelangt, »dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge … Der Faschismus ist in seiner reinen Form die Summe aller irrationalen Reaktionen des durchschnittlichen menschlichen Charakters.«[111]

Die marxistischen Parteien konnten laut Reich Hitler nicht aufhalten, »weil sie den Faschismus des 20. Jahrhunderts, eine grundsätzlich neue Erscheinung, mit Begriffen zu fassen versuchten, die dem 19. Jahrhundert entsprachen«.[112] Der Marxismus habe den Fehler begangen, den Faschismus im Rahmen der historischen Entwicklung des Kapitalismus während der letzten zweihundert Jahre zu analysieren. Aber der Faschismus »warf im Gegensatz dazu die Grundfrage der menschlichen Charakterbeschaffenheit, der menschlichen Mystik und Autoritätssucht auf, die einem Zeitraum von etwa 4000 bis 6000 Jahren entsprechen. Auch hier versuchte der Vulgärmarxismus einen Elefanten in ein Fuchsloch zu stecken.«[113]

Der Zustand der Menschheit, wie ihn Reich diagnostizierte, war so gut wie hoffnungslos:

Es ist ein Stück peinlicher Wahrheit: Der Faschismus sitzt als Verantwortungslosigkeit in den Menschenmassen aller Länder, Nationen, Rassen etc. Faschismus ist das Resultat jahrtausendealter Verunstaltung des Menschen … Dass eine alte gesellschaftliche Entwicklung schuld daran ist, ändert nichts an der Tatsache; wir können keine »historischen Entwicklungen« an Stelle der lebendigen Menschen verantwortlich machen. An der Verschiebung der Verantwortung vom lebendigen Menschen auf die »historische Entwicklung« gingen die sozialistischen Freiheitsbewegungen zugrunde.[114]

Bei allen exotischen und originellen Elementen, die Reichs psycho-sexuelle Erklärung für den Abstieg des Menschen in den Faschismus enthält, decken sich seine Argumente im Wesentlichen mit der in demoralisierten linken Kreisen weit verbreiteten Ansicht, Hitlers Sieg sei der unwiderlegbare Beweis für die organische Unfähigkeit der Arbeiterklasse, eine soziale Revolution zu vollbringen. Vielleicht erinnert ihr euch aufgrund eurer früherer Lektüre noch vage daran, Genossen Steiner und Brenner, dass in den 1930er-Jahren viele linke Gruppierungen Trotzkis Einschätzung ablehnten, dass die falsche und verräterische Politik der Arbeiterführer, der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien, für die Niederlagen der Arbeiterklasse verantwortlich sei. Eine solche Einschätzung war nach Auffassung von Trotzkis links-zentristischen Kritikern völlig unzureichend. Die Führer hatten vielleicht Fehler gemacht oder ihre Anhänger sogar bewusst verraten. Aber warum hatten die Massen diesen Verrat »zugelassen«? Trugen sie keine Verantwortung für das, was geschehen war? Hätten sie sich ihren Führern nicht widersetzen können? Musste man nicht die Massen selbst kritisch hinterfragen und herausfinden, welche organischen Elemente ihres Seins, verankert in den unveränderlichen Merkmalen ihrer gesellschaftlichen Existenz oder in ihrer Psyche, sie dazu brachte, falschen Führern zu folgen und die eigene Niederlage hinzunehmen?

Solche Fragen liefen auf eine Rechtfertigung der Parteien hinaus, die für die Niederlagen der Massen verantwortlich waren. Trotzki antwortete darauf, in dem er die Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und ihrer Führung erläuterte. Es stimmt nicht, schrieb er, dass das Volk die Regierung – oder die Arbeiterklasse die Führung – hat, die es verdient. Regierungen und Führer sind das Ergebnis komplexer historischer Prozesse, bei denen sowohl der Kampf zwischen den Klassen als auch die inneren Konflikte zwischen den heterogenen Elementen einer Klasse eine Rolle spielen. Die Herausbildung der Führung der Arbeiterklasse ist ein äußerst mühseliger und langwieriger Prozess, der sich im manchmal jahrzehntelangen Kampf zwischen Tendenzen widerspiegelt. Wenn aus diesem Prozess eine zuverlässige Führung hervorgeht, die durch einen langen und schwierigen Kampf Ansehen unter den Massen gewonnen hat, ist dies eine historische Errungenschaft. Doch es bleibt die Gefahr, dass diese angesehene Führung im Laufe der Zeit unter den Druck anderer Klassen gerät und innerlich degeneriert. Weder die Tatsache noch das Ausmaß dieser Degeneration ist den Massen unmittelbar ersichtlich, die weiterhin ihrer traditionellen Führung vertrauen. Besonders unter Bedingungen relativer sozialer Ruhe – das heißt in Zeiten, in denen eine ruhige, alltägliche Routinearbeit die Tendenz zur opportunistischen Anpassung fördert – ist die natürliche Neigung ausgeprägt, dieser Führung über die politisch zulässige Grenze hinaus zu vertrauen. Die Kluft zwischen dem politischen Kurs der alten Parteien und den veränderten Anforderungen, die sich aus der rasch wechselnden politischen Situation ergeben, wird nicht wahrgenommen – bis die Krise, vorbereitet durch nicht bemerkte sozioökonomische Widersprüche, in Form eines großen historischen Schocks hereinbricht. Trotzki erklärte:

Die mächtigsten historischen Schocks sind Kriege und Revolutionen. Genau aus diesem Grund wird die Arbeiterklasse oft unversehens von Krieg und Revolutionen überrascht. Aber sogar dann, wenn die alte Führung ihre innere Korruption offenbart hat, kann die Klasse sich nicht aus dem Stegreif eine neue Führung schaffen, zumal wenn sie nicht aus der vorangegangenen Periode starke revolutionäre Kader ererbt hat, die fähig sind, sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen.[115]

Trotzki verurteilte jede politische Apologetik, die der Arbeiterklasse die Verantwortung für die Fehler und Verbrechen ihrer Führer auflädt, die »Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlage waren«, nicht aufwirft und die den Sieg des Faschismus in Deutschland, Spanien oder Italien »als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen« hinnimmt.[116] Der einzige Unterschied zwischen Reichs Erklärung für die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse und der Erklärung der von Trotzki kritisierten zentristischen Tendenzen, besteht darin, dass für Reich die »überirdischen Entwicklungen«, die zum Triumph des Faschismus führten, nicht gesellschaftlich-politischer, sondern sexueller Natur waren.

Doch wenden wir uns nun der Frage der Massenpsychologie zu, die von Revolutionären nicht umgangen werden kann. Man kann weit mehr über die gesellschaftliche Psychologie erfahren, aus der der deutsche Faschismus hervorging, wenn man Trotzki liest, als wenn man über Reichs Büchern brütet. Wann, Genossen Steiner und Benner, habt ihr zum letzten Mal Trotzkis brillante Schrift »Porträt des Nationalsozialismus« gelesen? Trotzki beschreibt darin die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zustände in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, die die psychologischen Voraussetzungen schufen, unter denen Hitlers barbarische Bewegung Millionen Anhänger in der Mittelklasse finden konnte:

Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten – mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt – fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus.

Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale Krise durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die scharfen Kränkungen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.

Die Fahne des Nationalsozialismus wurde erhoben von der unteren und mittleren Offiziersschicht des alten Heeres. Die ordengeschmückten Offiziere und Unteroffiziere konnten nicht darin einwilligen, dass ihr Heroismus und ihre Leiden nicht allein fürs Vaterland umsonst hingegeben sein, sondern auch ihnen selbst keine besonderen Rechte auf Dank gebracht haben sollten; daher stammt ihr Hass gegen die Revolution und das Proletariat. Sie waren unzufrieden damit, dass die Bankiers, Fabrikanten, Minister sie wieder in die bescheidenen Stellungen von Buchhaltern, Ingenieuren, Postbeamten und Volksschullehrern schickten – daher ihr »Sozialismus«. An der Yser und vor Verdun hatten sie gelernt, sich und andere aufs Spiel zu setzen und im Kommandoton zu reden, was dem kleinen Mann im Hinterland mächtig imponierte. So wurden diese Leute Führer.

Zu Beginn seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Hitler vielleicht nur durch größeres Temperament, eine lautere Stimme und selbstsichere geistige Beschränktheit aus. Er brachte in die Bewegung keinerlei fertiges Programm mit – wenn man den Rachedurst des gekränkten Soldaten nicht zählt. Hitler begann mit Verwünschungen und Klagen über die Versailler Bedingungen, über das teure Leben, über das Fehlen des Respekts vor dem verdienten Unteroffizier, über das Treiben der Bankiers und Journalisten mosaischen Bekenntnisses. Heruntergekommene, Verarmte, Leute mit Schrammen und frischen blauen Flecken fanden sich genug. Jeder von ihnen wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Hitler verstand das besser als die anderen. Zwar wusste er nicht, wie der Not beizukommen sei. Aber seine Anklagen klangen bald wie Befehl, bald wie Gebet, gerichtet an das ungnädige Schicksal. Todgeweihte Klassen werden – ähnlich hoffnungslosen Kranken – nicht müde, ihre Klagen zu variieren und Tröstungen anzuhören. Alle Reden Hitlers sind auf diesen Ton gestimmt. Sentimentale Formlosigkeiten, Mangel an Disziplin des Denkens, Unwissenheit bei buntscheckiger Belesenheit – all diese Minus verwandelten sich in ein Plus. Sie gaben ihm die Möglichkeit, im Bettelsack »Nationalsozialismus« alle Formen der Unzufriedenheit zu vereinen und die Masse dorthin zu führen, wohin sie ihn stieß. Von den eigenen Improvisationen des Beginns blieb im Gedächtnis des Agitators nur das haften, was Billigung fand. Seine politischen Gedanken waren die Frucht der rhetorischen Akustik. So ging die Auswahl der Losungen vonstatten. So verdichtete sich das Programm. So bildete sich aus dem Rohstoff der »Führer« …

Die Armseligkeit der nationalsozialistischen Philosophie hat die Universitätsprofessoren selbstverständlich nicht gehindert, mit vollen Segeln in Hitlers Fahrwasser einzulenken – als sein Sieg außer Frage stand. Die Jahre der Weimarer Ordnung waren für die Mehrheit des Professorenpöbels eine Zeit der Verwirrung und Unruhe. Die Historiker, Ökonomen, Juristen und Philosophen ergingen sich in Vermutungen darüber, welches der einander bekämpfenden Wahrheitskriterien das echte sei, das heißt, welches Lager sich zu guter Letzt als Sieger erweisen werde. Die faschistische Diktatur beseitigt die Zweifel der Fauste und das Schwanken der Hamlets auf dem Universitätskatheder. Aus der Dämmerung der parlamentarischen Relativität tritt die Wissenschaft wiederum in das Reich des Absoluten ein. Einstein musste Deutschland verlassen.[117]

In diesen wenigen Absätzen erklärt Trotzki hier mit unübertroffener Meisterschaft die gesellschaftlichen und politischen Wurzeln des faschistischen Wahns in Deutschland sowie den Zusammenhang zwischen den objektiven, sozioökonomischen Prozessen und der bizarren Form, in der sie sich in der Psyche der deutschen Mittelklasse widerspiegelten. Trotzki war sicherlich ein genialer Politiker und Schriftsteller. Aber sein Genie nährte sich vom Marxismus, er zeigte, was man gestützt auf eine historisch materialistische Analyse erreichen kann. Der Einblick, den er gewährt, ist nicht nur von literarischem und historischem Interesse als Analyse der politischen Wankelmütigkeit kleinbürgerlicher Gesellschaftsschichten und der objektiven Gründe, die sie für faschistische Propaganda empfänglich machen, ist er von bleibender Bedeutung. Trotzki entmystifizierte das faschistische Phänomen. Und indem er den Faschismus verständlich machte, zeigte er, mit welchen politischen Mitteln er bekämpft und besiegt werden kann. Kann man dasselbe über die Analyse Wilhelm Reichs sagen, der uns mitteilt:

Der genital Geschwächte, in seiner Sexualstruktur Widerspruchsvolle, muss sich ständig mahnen, seine Sexualität zu beherrschen, seine sexuelle Ehre zu wahren, tapfer gegen Versuchungen zu sein usf. Den Kampf gegen die Versuchung der Onanie macht ausnahmslos jeder Jugendliche und jedes Kind durch. In diesem Kampf entwickeln sich ausnahmslos alle Strukturelemente des reaktionären Menschen. Im Kleinbürgertum ist diese Struktur am stärksten ausgebildet und am tiefsten verwurzelt.[118]

Welche Perspektive ergibt sich aus dieser Analyse? Welche Politik und welche konkreten politischen Initiativen müssen ergriffen werden? Ihr habt daraus den Schluss gezogen, dass die marxistische Bewegung einen Weg finden müsse, »die unterdrückten libidinösen Triebe in eine progressive Richtung zu lenken«, wie ihr Genosse Steve Long mitgeteilt habt.[119]

Niemand hindert euch daran, eure Zeit und Energie dieser Aufgabe zu widmen. Aber das Internationale Komitee hat nicht das geringste Interesse daran, sich an diesem fragwürdigen und verwirrten Projekt zu beteiligen.

21. Eros und Tod

Ihr mögt glauben, dass ihr euch mit etwas fürchterlich Gewagtem und Originellem befasst und neue Perspektiven des radikalen Denkens eröffnet, wenn ihr vom Internationalen Komitee verlangt, es solle sich einem utopischen Programm zuwenden: Es solle mehr Zeit mit Spekulationen über die zukünftige Welt und weniger mit Erklärungen der Vergangenheit und Analysen der Gegenwart verbringen, es solle sein Interesse von der Politik auf den Sex verlagern, den objektiven Prozessen der Weltwirtschaft weniger Aufmerksamkeit schenken und größeres Interesse für die subjektiven Bedürfnisse der Individuen zeigen. In Wirklichkeit sind eure Vorschläge wenig originell, Genossen Steiner und Brenner. Marxisten haben das alles schon gehört, unzählige Male.

Trotzki berichtete 1908 im Artikel »Vom Tod und vom Eros« über ein Gespräch, das er mit einem jungen russischen Intellektuellen, einem Anhänger der künstlerischen Richtung der Décadence, in einem Pariser Café führte. Dieser empörte sich darüber, dass die Marxisten den subjektiven Empfindungen der Menschen, ihren sexuellen Bedürfnissen und ihrer Angst vor dem Tode, nicht genügend Beachtung schenkten. Warum widmeten sie den zwei Momenten der Existenz nicht mehr Aufmerksamkeit, mit denen sich die Décadents ausschließlich beschäftigten, »der Eksta­se zweier Körper und der Trennung von Körper und Seele«? Mit diesen Themen befassten sich Marxisten selten und kaum, klagte der Intellektuelle. »Der historische Materialismus wird bestenfalls versuchen, den Ursprung dieser oder jener gesellschaftlichen Stimmung (Erotik, Mystik) mit dem Kampf verschiedener sozialer Kräfte zu erklären. Ob er es gut oder schlecht machen wird, ist im Augenblick gleichgültig. Aber ich, dem Sie Ihre fragwürdigen Erklärungen servieren, ich werde trotzdem sterben, und all die Perspektiven, die Ihr historischer Materialismus vor mir entfalten wird, werde ich – selbst wenn ich an sie glauben sollte – trotzdem für meinen seelischen Gebrauch mit der Perspektive meines unausweichlichen Todes verbinden.« Auf diese existenziellen Probleme, beschwerte sich der Intellektuelle, gebe der Marxismus keine befriedigenden Antworten. »Aber Sie, was schlagen Sie mir vor?« fragte er Trotzki. »Eine objektive Analyse? Argumente der Unvermeidlichkeit? Eine immanente Entwicklung? Die Negation der Negationen? Das alles ist doch aber für mich – nicht für meinen Intellekt, sondern für meinen Willen – schrecklich wenig.«[120]

Trotzki, der eben einen Vortrag gegen die Décadents und ihre »Anarchie des Fleisches« gehalten hatte, begann seine Antwort mit dem Einwand:

Es ist mir genau genommen unmöglich, den Kampf auf einem Terrain anzunehmen, wie Sie es sich jetzt aussuchen. Bedenken Sie: Man verlangt von mir, ich solle so nebenbei eine Glaubenslehre schaffen, die dem Intelligenzler dazu verhelfen könnte, die Isolierung durch seine Individualität zu überwinden, die Angst vor dem Tode und die prätentiöse Skepsis zu bewältigen, eine Glaubenslehre, die sein »Unbewusstes«, die Seele seiner Seele, mystisch mit der gegenwärtigen großen Epoche verbindet. Aber das ist doch – entschuldigen Sie bitte! – eine glatte Verhöhnung meines Standpunkts. Das ist etwa dasselbe, als wenn ich mir ein wissenschaftliches Referat über den geschichtlichen Ursprung der Bibel angehört hätte und dann fordern würde, der Vortragende sollte mir auf Grund der Apokalypse das Datum der zweiten Wiederkehr angeben. Mais ce n’est pas mon métier, Messieurs, könnte ich Ihnen sagen – das gehört nicht zu meinem Beruf, und damit basta.«[121]

Beim Lesen eures Dokuments kam mir Trotzkis Diskussion mit den Décadents in den Sinn. Ihr wollt, dass wir Vorschläge für die Familie der Zukunft entwerfen, Mittel zur Befreiung unterdrückter libidinöser Triebe entdecken, neue Formen der Geschlechtergleichheit ausarbeiten und gegen die Tyrannei der genital zentrierten Sexualität anrennen. Die passende Antwort lautet: »Mais ce n’est pas mon métier, Messieurs!« All das gehört schlicht nicht zum Auftrag des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

22. Objektive Umstände, Wissenschaft und Geschichte

Ihr werft uns vor, wir suchten »die Erlösung in den objektiven Umständen, der Wissenschaft und der Geschichte«. Ich möchte euch daran erinnern, dass das Wort »Erlösung« nicht zu unserem politischen Vokabular gehört. Die Erlösung ist nicht Teil eines sozialistischen Programms. Wer danach sucht, sollte sich an Geistliche aller Religionen wenden. Sie sind die Spezialisten auf diesem Gebiet.

Ihr werdet sicher einwenden, der Hinweis auf die »Erlösung« sei ironisch gemeint, als polemische Spitze gegen unseren »Objektivismus«. Das verstehe ich sehr gut, es ändert aber nichts daran, dass euer Kommentar zynisch und ein Ausdruck politischer Verzweiflung ist. Ihr solltet darüber nachdenken, auf welchem Weg ihr nach dem Austritt aus der trotzkistischen Bewegung unter den Einfluss antimarxistischer Auffassungen geraten seid, die völlig im Gegensatz zu jenen stehen, die euch Anfang der siebziger Jahre dazu brachten, der Workers League und dem Internationalen Komitee beizutreten.

Ihr spottet über unsere intensive Beschäftigung mit der Geschichte. Ihr beginnt euer Dokument mit einem bekannten Zitat aus »Die heilige Familie« und interpretiert dabei Marx und Engels völlig falsch. Die Begründer des Marxismus hatten erklärt: »Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum …«[122] Ihr scheint zu glauben, man könne diesen Absatz als Zurückweisung der Bedeutung interpretieren, die das Internationale Komitees dem Studium der Geschichte zumisst. Das ist natürlich falsch. Marx und Engels kritisieren hier die idealistischen Auffassungen der linken Hegelianer, die die Geschichte in einen abstrakten, sich selbst bewegenden Begriff verwandelten, der, ähnlich wie Hegels absolute Idee, aus sich selbst heraus Ereignisse erzeugt, die lediglich Erscheinungsformen der logischen Negation dieses Begriffs sind. Marx und Engels vertraten dagegen den Standpunkt, der Begriff der Geschichte müsse aus der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft abstrahiert werden. Das Ergebnis ihrer Kritik des hegelschen Idealismus war die materialistische Geschichtsauffassung.

Ihr habt zu einer Generation junger Studenten gehört, die sich der Workers League und dem Internationalen Komitee anschlossen, weil sie ihre Arbeit als einzige Bewegung auf die tragischen historischen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts stützten. Das Internationale Komitee ragte aus den vielen radikalen Tendenzen heraus, die zur Zeit unseres politischen Erwachens aktiv waren, weil es als einzige fähig war, eine Analyse des Vietnamkriegs, der Aufstände in den amerikanischen Städten und der Welle von Arbeiterkämpfen und antiimperialistischen Erhebungen vorzulegen, die auf einer umfassenden historischen Perspektive beruhte. Worauf stützte sich unsere Opposition gegen den Stalinismus, den Maoismus, die Sozialdemokratie und den pablistischen Revisionismus, wenn nicht auf die Lehren aus der Geschichte?

Als wir uns zu Beginn der 1970er-Jahre der Workers League anschlossen, bewaffneten uns Trotzkis Schriften mit einem Verständnis des Schicksals der Oktoberrevolution von 1917, des Bolschewismus und des internationalen Kampfs für den Sozialismus. Wir vertieften uns in das Studium der großen, strategischen Lehren, die Trotzki aus der russischen Revolution und ihren Folgen gezogen hatte. Wir befassten uns mit der anhaltenden Krise der deutschen Arbeiterbewegung seit der Niederlage des Spartakus-Aufstands 1919 bis zum Sieg der Faschisten 1933, dem britischen Generalstreik 1926, den revolutionären Ereignissen in China zwischen 1925 und 1927, dem Kampf der Linken Opposition in der Sowjetunion zwischen 1923 und 1933, den verheerenden Folgen der Volksfrontpolitik in Frankreich und Spanien in den 1930er-Jahren und mit den Moskauer Prozessen. All diese gewaltigen historischen Erfahrungen flossen in die Ausbildung des Kaders der Workers League und des Internationalen Komitees ein. Lässt man die unversöhnlichen programmatischen Differenzen einmal beiseite, so unterschied sich der Kader des IKVI von dem aller anderen Bewegungen durch seine Beschäftigung mit der Geschichte, durch seine feste Überzeugung, dass das Vergangene nicht tot, ja (in Faulkners Worten) »nicht einmal vergangen«[123] sei. Wir waren überzeugt, dass die Geschichte lebt: konkret in Form der politischen Bedingungen und Widersprüche, die aus der Vergangenheit ererbt sind und in deren Rahmen sich die gegenwärtigen Kämpfe entwickeln, und in Form des politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins der Massen.

Doch nun versucht ihr, unsere ständige Auseinandersetzung mit der Geschichte ins Lächerliche zu ziehen. Ihr behauptet zwar, die Postmoderne sei lediglich eine im Verschwinden begriffene Modeerscheinung, aber eure eigene Verachtung für die Geschichte trägt das Kennzeichen dieser reaktionären Schule der bürgerlichen Philosophie.

Was eure geringschätzige Haltung gegenüber der Wissenschaft betrifft, so sehen wir darin ein Zeichen der Kapitulation vor den irrationalen, wissenschaftsfeindlichen Stimmungen, die sich unter weiten Teilen des ex-radikalen Kleinbürgertums breitgemacht haben. Wir sind bereits auf die philosophischen Wurzeln und Auswirkungen dieser Sichtweise eingegangen. Betrachten wir nun ihre praktische Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, das Geoghegan ein Kapitel seines Buchs dem »Utopismus« des verstorbenen Rudolf Bahro gewidmet hat, des ostdeutschen Dissidenten, der schließlich in die Bundesrepublik emigrierte und bei den neu gegründeten Grünen aktiv wurde. Bahro lehnte den Marxismus ebenso wie die zentrale historische Rolle der Arbeiterklasse ausdrücklich ab. Ihr erwähnt Geoghegans verständnisvolle Besprechung seines Werks nicht, vielleicht weil euch das peinlich ist. Laut Geoghegan lehnt Bahro »die in der modernen Welt vorherrschende technologisch-indus­trielle Fortschrittsidee ab. Es handelt sich um eine eigennützige und zerstörerische Auffassung, die dazu beiträgt, alle anderen Arten der gesellschaftlichen Unterdrückung zu verewigen. Damit muss gebrochen werden – die zukünftige Gesellschaft muss ›einfacher‹ sein, oder sie wird nicht existieren können …«[124]

Diese Ansichten stehen jenen sehr nahe, die du, Genosse Brenner, in deinem neo- (oder pseudo-)utopischen Manifest »Eine Sache zu kennen, heißt ihr Ende zu kennen« vorgebracht hast. Du kritisierst dort Genosse Beams, weil er das fortschrittliche Potenzial der Technologie betont, die es in einer vergesellschafteten Wirtschaft möglich macht, die Arbeitsproduktivität enorm zu erhöhen und die im Menschen steckenden Fähigkeiten zu realisieren. Du behauptest: »Im Gegensatz zu einer utilitaristischen ordnet eine sozialistische Vision die Produktivität der menschlichen Entwicklung unter, was bedeutet, dass sie Ideen unterstützt, die zeitweilig in direktem Gegensatz zur Maximierung des wirtschaftlichen Wachstums stehen, wie das ›Recht auf Faulheit‹.«

Du sprichst hier nicht über den Missbrauch der Technologie und der menschlichen Produktivität in einem Wirtschaftssystem, das auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht und nach Maximalprofiten und der Anhäufung großen persönlichen Reichtums für die Mitglieder der herrschenden Elite strebt. Du erklärst, es gebe »keinen Grund, weshalb die Freiheit ständiges Wirtschaftswachstum erfordert«, und fügst hinzu: »Für die ersten Generationen nach der Revolution – für die die Überwindung von weltweitem Hunger, Armut und Krankheit ohnehin Vorrang haben wird – wird das Hauptgewicht nicht so sehr auf der technologischen Veränderung liegen als auf der Konsolidierung, der Auswahl von dem, was den menschlichen Bedürfnissen am besten entspricht und ökologisch am wirkungsvollsten ist.«[125]

Es verschlägt einem die Sprache, wenn man sich die gesellschaftlichen Folgen eines Stopps des Wirtschaftswachstums und des erzwungenen Verbots technologischer Veränderung (denn die technologische Entwicklung ließe sich nur durch Polizeistaatsmaßnamen einschränken) über den Zeitraum mehrerer Generationen vorstellt. Es handelt sich um ein Rezept für eine soziale Katastrophe, deren schreckliche Folgen die reaktionären Experimente verschiedener, vom Maoismus beeinflusster Bewegungen erahnen lassen, die sich an der Macht befanden. Solche Ansichten und Strategien stehen im Gegensatz zum Marxismus, der, wie Trotzki in »Verratene Revolution« erklärte, »von der Entwicklung der Technik als der Haupttriebfeder des Fortschritts aus[geht] und … das kommunistische Programm auf der Dynamik der Produktivkräfte auf[baut]«.[126]

Dein Bemühen, die menschliche Freiheit vom Wachstum der Technik und der Produktivität zu trennen, zeigt deine theoretische und politische Ignoranz. Hättest du Recht, würden mit der sozialistischen Revolution erstmals in der Geschichte die bestehenden wirtschaftlichen Organisationsformen umgestoßen, um die Entwicklung der Technologie und der Arbeitsproduktivität zu beschränken. Trotzki schrieb dagegen: »Letztlich ist die Geschichte nichts anderes als eine Jagd nach Arbeitszeitersparnis. Die Aufhebung der Ausbeutung allein könnte den Sozialismus nicht rechtfertigen; er soll der Gesellschaft, verglichen mit dem Kapitalismus, größere Zeitersparnis gewährleisten. Ohne Verwirklichung dieser Bedingung wäre selbst die Abschaffung der Ausbeutung nur eine dramatische Episode ohne Zukunft.«[127]

Es ist jetzt klar, dass der Zynismus, mit dem du über unser Vertrauen in die Möglichkeiten der Wissenschaft schreibst, Ausdruck einer rückständigen, wenn nicht unumwunden reaktionären Perspektive ist.

Es gibt noch einen weiteren bedenkenswerten Aspekt dieser Frage. Der Kampf für sozialistisches Bewusstsein erfordert, gerade in den Vereinigten Staaten, eine unermüdliche Verteidigung des wissenschaftlichen Denkens gegen jede Form von Rückständigkeit. Ich bin im Rahmen eines Vortrags, den ich im April 2005 in New York zum Fall von Terry Schiavo hielt, auf diese Frage eingegangen:

Wesentlicher Bestandteil der Bemühungen, Arbeiter politisch als Klasse zu organisieren, ist das Anheben ihres geistigen und kulturellen Niveaus und die Verteidigung des wissenschaftlichen Denkens gegen alle Formen von religiösem Aberglauben und Rückständigkeit – das heißt das Eintreten für ein materialistisches, marxistisches Verständnis der gesellschaftlichen und ökonomischen Beziehungen sowie der Grundlagen und der Struktur des menschlichen Bewusstseins. Wie in der Vergangenheit muss die sozialistische Bewegung verstehen, dass sie gegenüber der Arbeiterklasse eine gewaltige theoretische und pädagogische Verantwortung hat.

Es ist ermutigend, dass die Wissenschaft der sozialistischen Bewegung ein großes Arsenal neuer geistiger Waffen zur Verfügung stellt. Die Neurobiologie, die im Mittelpunkt der Kontroverse um Terri Schiavo steht, ist ironischerweise eine wissenschaftliche Disziplin, in der heute spektakuläre theoretische Durchbrüche stattfinden. Sie macht erstaunliche Fortschritte beim Verständnis der Physiologie des Gehirns, der komplexesten aller materiellen Strukturen. Diese Fortschritte bestätigen ihrerseits das materialistische Verständnis des Bewusstseins und der Erkenntnis, für das der Marxismus eintritt. Es wundert daher nicht, dass die Arbeit hervorragender Wissenschaftler, deren Entdeckungen im Bereich der Neurobiologie und verwandten Forschungsbereichen die letzten Bastionen der religiösen Mystik zerstören, der herrschenden Elite Angst einflößt.

Die Arbeiterklasse kann ohne die Hilfe der Wissenschaft keinen Fortschritt machen. Umgekehrt braucht die Wissenschaft Fortschritte der Arbeiterklasse. Heute versetzt das Anwachsen der politischen Reaktion in den Vereinigten Staaten den wissenschaftlichen Forscher in den Belagerungszustand. Der isolierte Wissenschaftler kann sich dabei nicht erfolgreicher verteidigen als der individuelle Arbeiter. Letztendlich hängt der Fortschritt der Wissenschaft als Ganzer, ganz zu schweigen von der körperlichen Sicherheit des einzelnen Forschers, vom Aufleben einer neuen revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse ab. Im tiefsten historischen Sinne vereinigt die sozialistische Bewegung unter ihrem Banner das Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit in all ihren Formen mit dem Kampf für die Gleichheit der Menschen.[128]

Abschließend ein Wort zu eurem verächtlichen Hinweis auf unsere Überzeugung, dass »objektive Umstände« die Grundlage für die Lösung aller politischen Aufgaben liefern werden. Stellen wir die Gegenfrage: Wo sonst soll diese Grundlage zu finden sein? Ein Satz, der als Kritik des Internationalen Komitees gemeint ist, entlarvt unabsichtlich euer eigenes Absinken in den subjektiven Idealismus und den Irrationalismus. Ihr schreibt: »Je mehr die wirklichen Probleme des Kampfs für sozialistisches Bewusstsein jenseits des Horizonts der ›objektiven Umstände‹ verschwinden, desto weiter entfernen sich die Aktivitäten und das Interesse der Bewegung von der Arbeiterklasse.« Das ist Mystik, kein Marxismus. Wer vorschlägt, »jenseits des Horizonts der ›objektiven Umstände‹« für Bewusstsein zu kämpfen, versucht in Wirklichkeit, der Realität zu entfliehen.

Wir leben und kämpfen in einer Welt der »objektiven Umstände«. Sie sind ebenso Quell unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten wie ihrer letztendlichen Lösung. Alles, was in der Zukunft entsteht, wird ein Ergebnis der heutigen Umstände sein. Wie Marx und Engels erklärt haben, handelt es

sich in Wirklichkeit und für den praktischen Materialisten, d. h. Kommunisten, darum … die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern …

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.[129]

Das Verständnis, dass die Welt, in der wir heute leben, das Potential für eine soziale Revolution in sich trägt, die sie von Gewalt und Inhumanität befreien wird, ist die Quelle von echtem Optimismus, der keiner zusätzlichen pseudo-utopischen Antidepressiva bedarf.

* * * * *

Die Ansichten, die ihr, Genossen Steiner und Brenner, in euren verschiedenen Dokumenten dargelegt habt, zeigen, wie enorm weit ihr theoretisch und politisch vom Marxismus weggedriftet seid, seit ihr die Bewegung vor fast drei Jahrzehnten verlassen habt. Wenn ihr weiter in diese Richtung geht, kann dies nur zur völligen Zurückweisung der politischen Überzeugungen führen, die ihr vor vielen Jahren vertreten habt. Wir hoffen, dass dies nicht der Fall sein wird. Das Internationale Komitee legt euch beiden eindringlich nahe, dieses Dokument sorgfältig zu studieren und eure gegenwärtigen Standpunkte zu überdenken.


[1]

Genosse Steiner hat die Workers League im September 1978 verlassen, Genosse Brenner im Januar 1979.

[2]

Die Robertson-Gruppe schrieb im März 1998: »Die neue Website der SEP, die mittels der gasförmigen ›großen Ideen‹ von David North rasch expandiert, ist die jüngste virtuelle Phantasiewelt in einem wachsenden Schrottgürtel, in der selbstdarstellerische graue Männchen mit gigantischen Egos und dubioser Politik Revolution spielen können … Dass sie vorgeben, das Abladen einiger Dokumente im Cyberspace sei ein Ersatz für den harten Kampf eines revolutionären Parteiaufbaus – in der wirklichen Welt und unter wirklichen Menschen –, bestätigt den abgrundtiefen Zynismus und Humbug, für den die Northisten berüchtigt sind.«

[3]

WSWS-Redaktion, »About the World Socialist Web Site«, auf: World Socialist Web Site,http://www.wsws.org/en/special/about.html, aufgerufen am 24.9.2015.

[4]

Der Ökonom Walt W. Rostow (1916–2003), ein Hauptverantwortlicher für die Eskalation des Vietnamkriegs, schlug in seinem 1960 erschienenen Buch The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto ein »Takeoff«-Modell der wirtschaftlichen Modernisierung vor.

[5]

David North, »Einleitender Bericht zur Internationalen Redaktionskonferenz der WSWS«, 8.3.2006, auf: World Socialist Web Site, https://www.wsws.org/de/articles/2006/03/dn-m08.html.

[6]

David North, Die russische Revolution und das unvollendete ZwanzigsteJahrhundert, Essen 2015, S. 229.

[7]

Mein Essay über dialektische Philosophie, eine eingehende Kritik des Buchs »Marx After Marxism« von Professor Tom Rockmore (siehe: »Engels war an allem schuld« auf S. 331 in diesem Buch), erschien am 2. und 3. Mai auf der World Socialist Web Site, fast zwei Wochen bevor ihr uns euer Dokument zugesandt habt. Aus Gründen, die ihr selbst wohl am besten kennt, habt ihr beschlossen, ihn zu ignorieren.

[8]

Leo Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 95.

[9]

Ebd., S. 68.

[10]

Das IKVI redet nicht einfach nur über die dialektische Methode. Es versucht, sie als Werkzeug der politischen Analyse anzuwenden. Beispielsweise versuchte ich 1998 in Australien im Rahmen eines Vortrags über »Marxismus und die Gewerkschaften« aufzuzeigen, wie die dialektische Logik Licht in das Wesen dieser komplexen sozialen Gebilde bringt. Siehe: »Weshalb lehnen die Gewerkschaften den Sozialismus ab?« in: David North, Die russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015, S. 187 ff.

[11]

Politisches Komitee der Workers League, The World Economic-Political Crisis and the Death Agony of U. S. Imperialism, 7.11.1978, S. 36 (aus dem Englischen).

[12]

David North, Leon Trotsky and the Development of Marxism, Detroit 1985, S. 18–19, (aus dem Englischen; Hervorhebungen im Original).

[13]

David North, Gerry Healy und sein Platz in der Geschichte der Vierten Internationale, Essen 1992, S. 108 f.

[14]

Die Sommerschule hatte die folgende Tagesordnung: Erster Vortrag: Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts (David North). Zweiter Vortrag: Marxismus gegen Revisionismus am Vorabend des 20. Jahrhunderts (David North). Dritter Vortrag: Die Ursprünge des Bolschewismus und Was tun? (David North). Vierter Vortrag: Marxismus, Geschichte und Wissenschaft der Perspektive (David North). Fünfter Vortrag: Der Erste Weltkrieg: Zusammenbruch des Kapitalismus (Nick Beams). Sechster Vortrag: Sozialismus in einem Land oder Permanente Revolution (Bill Van Auken). Siebter Vortrag: Marxismus, Kunst und die sowjetische Debatte über »proletarische Kultur« (David Walsh). Achter Vortrag: Die 1920er-Jahre – Weg zu Depression und Faschismus (Nick Beams). Neunter Vortrag: Der Aufstieg des Faschismus in Deutschland und der Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale (Peter Schwarz).

[15]

Wladimir I. Lenin, »Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve«, in: Lenin Werke, Bd. 1, Berlin 1974, S. 414.

[16]

Wladimir I. Lenin, »Materialismus und Empiriokritizismus«, in: Lenin Werke, Bd. 14, Berlin 1973, S. 328–329.

[17]

Zitiert nach Cornelis de Waal, On Pragmatism, Bloomington 2005, S. 73 (Hervorhebung im Original; aus dem Englischen).

[18]

Ebd., S. 74.

[19]

David North, »Die Wissenschaft der politischen Perspektive«, Vortrag auf der Sommerschule der SEP (USA), August 2005 (siehe in diesem Buch auf S. 304). Ein beträchtlicher Teil dieses Vortrags war der systematischen Zurückweisung der Angriffe Sir Karl Poppers auf den Marxismus gewidmet. Euer Dokument enthält keinen einzigen Hinweis auf diesen Vortrag und seinen Angriff auf Poppers Empirismus.

[20]

Cliff Slaughter (eds.), Trotskyism versus Revisionism, Bd. 3, London 1974, S. 161 (aus dem Englischen; Hervorhebung im Original).

[21]

Ebd., S. 162.

[22]

Ebd.

[23]

Leo Trotzki, »Zur Philosophie der Bürokratie«, in: Trotzki Schriften, Bd. 3.3, Köln 2001, S. 125.

[24]

Alan White, »Transit dispute exposes New York City’s class divide«, auf: WSWS, 10.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/twu-d10.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[25]

Alan White, »New York City transit workers vote to authorize strike«, auf: WSWS, 12.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/twu-d12.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[26]

Bill Van Auken, »The political issues confronting New York City transit workers«, auf: WSWS, 16.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/tran-d16.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[27]

Bill Van Auken, »New York City transit union calls selective strikes«, auf: WSWS, 17.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/twu-d17.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[28]

Peter Daniels, »New York City transit workers on brink of class confrontation«, auf: WSWS, 19.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/tran-d19.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[29]

WSWS-Redaktion und Socialist Equality Party, »Streik bei den New Yorker Verkehrsbetrieben: eine neue Stufe im Klassenkampf«, auf: WSWS, 22.12.2005, https://www.wsws.org/de/articles/2005/12/tran-d22.html, aufgerufen am 25.9.2015.

[30]

WSWS reporting team, »New York transit workers set up picket lines: ›Today’s strike is for all working people‹«, auf: WSWS, 21.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/nyct-d21.html, aufgerufen am 25.9.2015.

[31]

WSWS-Redaktion, »New York transit strikers confront escalating attacks«, auf. WSWS, 22.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/newy-d22.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[32]

WSWS reporting team, »New York City transit workers defiant: ›Bloomberg and his friends are the thugs, not us‹«, auf: WSWS, 22. Dezember 2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/news-d22.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[33]

WSWS-Redaktion, »The sudden end of the New York transit strike: A preliminary assessment«, auf: WSWS, 23.12.2005, https://www.wsws.org/en/articles/2005/12/trwu-d23.html, aufgerufen am 25.9.2015 (aus dem Englischen).

[34]

Bill Van Auken, »Gewerkschaften würgen Streik der New Yorker Verkehrsbetriebe ab«, auf: WSWS, 28.12.2005, https://www.wsws.org/de/articles/2005/12/tran-d28.html, aufgerufen am 25.9.2015.

[35]

Wladimir I. Lenin, »Was tun?«, in: Lenin Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 425. (Hervorhebungen im Original).

[36]

Ebd., S. 426, (Hervorhebungen im Original).

[37]

Ebd., S. 427, (Hervorhebungen im Original).

[38]

Ebd., S. 9–10.

[39]

David North, »Nach der Wahl 2004«, in: Amerikas Demokratie in der Krise, Essen 2005, S. 95–96.

[40]

David North, »Die Ursprünge des Bolschewismus und ›Was tun?‹«, in: Die russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015,S. 275–277.

[41]

David North, »Politische Demoralisierung und Flucht vor der historischen Wahrheit«, in: Die russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015, S. 222–225.

[42]

Karl Marx, Friedrich Engels, »Die heilige Familie«, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1972, S. 138.

[43]

Preliminary Commission of Inquiry, The Case of Leon Trotsky, New York 1969, S. 584–585 (aus dem Englischen).

[44]

Hier einige typische Passagen: »Wenn wir daher annehmen, die Biologie liefere einen Antrieb zu genitalem Sex, dann müssen wir auch annehmen, sie liefere einen Antrieb zum Oralsex – der natürlich eine Art von Sex ist, von der beide Geschlechter Befriedigung erlangen können. Und wenn wir schon dabei sind – indem sie die Libido auf den Penis lenkt, zwingt die Biologie nicht automatisch auch den Penis, Befriedigung in der Vagina zu suchen: Im Gegenteil, der Mund oder der Anus – wiederum beider Geschlechter – ist ebenso geeignet, von der Masturbation ganz zu schweigen.« Oder: »Mit Sicherheit ist nichts Reifes oder voll Entwickeltes an einer genitalen Sexualität, in der der Geschlechtsakt lediglich darin besteht, dass ein Mann auf eine Frau steigt und seinen Penis in ihre Vagina stößt, bis er zur Ejakulation gelangt; im Gegenteil, diese Verhaltensweise ist ganz klar ein Zeichen extremer Unterdrückung, einer Beschränkung der Sexualität auf eine mechanische, unmenschliche Kälte.«

[45]

Nick Beams, »Some questions and answers on life under socialism«, auf: WSWS, 30.5.2002, https://www.wsws.org/en/articles/2002/05/corr-m30.html, aufgerufen am 28.9.2015 (aus dem Englischen).

[46]

David North, The Workers League and the Founding of the Socialist Equality Party, ­Detroit 1996, S. 36–37 (aus dem Englischen).

[47]

Ebd., S. 6 (aus dem Englischen).

[48]

Friedrich Engels, »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft«, in: MEW, Bd. 20, Berlin 1962, S. 247.

[49]

Karl Marx, »Erster Entwurf zum Bürgerkrieg in Frankreich«, in: MEW, Bd. 17, Berlin 1962, S. 557.

[50]

Ebd.

[51]

Friedrich Engels: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1962, S. 208–209.

[52]

Karl Höchberg (1853–1885) war ein wohlhabender Förderer der sozialistischen Bewegung.

[53]

Wilhelm Weitling (1808–1871) war einer der ersten Anführer der jungen Arbeiterbewegung im Deutschland der späten 1830er- und 1840er-Jahre. Er vertrat eine Form von utopischem Kommunismus, die Engels als »sentimentale Liebesduselei« bezeichnete.

[54]

Karl Marx, »Marx an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken«, in: MEW, Bd. 34, Berlin 1966, S. 302 f.

[55]

Georgi W. Plechanow, Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung, Berlin 1956, S. 136.

[56]

Friedrich Engels, »Einleitung [zu Karl Marx‘ »Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« (1895)]«, in: MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 523.

[57]

Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Essen 2010, S 2.

[58]

Karl Marx, Friedrich Engels, »Die deutsche Ideologie«, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1973, S. 70 (Hervorhebung im Original).

[59]

Ebd., S. 27.

[60]

Ebd., S. 37.

[61]

Karl Marx, Friedrich Engels, »Die heilige Familie«, in: MEW, Bd. 2, S. 38 (Hervorhebung im Original).

[62]

Friedrich Engels, »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1973, S. 210

[63]

Ebd., S. 210, 211 (Hervorhebung im Original).

[64]

KarlMarx, Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, S. 478.

[65]

Ebd., S. 478–479.

[66]

Friedrich Engels, »Grundsätze des Kommunismus«, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, S. 375.

[67]

(Hervorhebung hinzugefügt).

[68]

Karl Marx, »Thesen über Feuerbach«, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1969, S. 533 (Hervorhebung im Original).

[69]

Karl Marx, »Kritik des Gothaer Programmentwurfs«, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1973, S. 21.

[70]

Ebd., S. 21–22.

[71]

Wladimir I. Lenin, »Staat und Revolution«, in: Lenin Werke, Bd. 25, S. 438. (Hervorhebung im Original).

[72]

Eduard Bernstein, »Wie ist wissenschaftlicher Socialismus möglich?«, in: Helmut Hirsch (Hrsg.), Ein revisionistisches Sozialismusbild. Drei Vorträge von Eduard Bernstein, Hannover 1966, S. 17 (Hervorhebungen im Original).

[73]

Ebd., S. 19 (Hervorhebungen im Original).

[74]

Ebd., S. 22–23.

[75]

Ebd., S. 28 (Hervorhebung im Original).

[76]

Ebd., S. 29.

[77]

Leo Panitch, »Preface«, in: Socialist Register2000, Suffolk 1999, S. vii (aus dem Englischen).

[78]

Ernst Bloch, »Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 43–55«, in: Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main 1959, S. 1628.

[79]

Wayne Hudson, The Marxist Philosophy of Ernst Bloch, New York 1972, S. 33 (aus dem Englischen).

[80]

Ebd., S. 33–34 (aus dem Englischen).

[81]

Ebd., S. 45 (aus dem Englischen).

[82]

Ebd., S. 46 (aus dem Englischen).

[83]

Leo Panitch, Sam Gindin, »Transcending Pessimism. Rekindling Socialist Imagination«, in: Socialist Register2000, Suffolk 1999, S. 2 (aus dem Englischen).

[84]

Ebd., S. 5 (aus dem Englischen).

[85]

Übersetzung der britischen Version. Der deutsche und der originale französische Text lauten anders.

[86]

Vincent Geoghegan, Utopianism and Marxism, London und New York 1987, S. 67–68. Die im Vortrag vom letzten Sommer zitierte Stelle ist hervorgehoben.

[87]

Hendrik De Man, Zur Psychologie des Sozialismus, Jena 1927, S. 2.

[88]

Ebd., S. 18.

[89]

Daniel Guérin, Fascism and Big Business, New York 1973, S. 76 (aus dem Englischen, Hervorhebungen im Original).

[90]

Ebd., S. 63.

[91]

Ebd., S. 63–64.

[92]

Ebd., S. 73 (Hervorhebung im Original).

[93]

Ebd.

[94]

Ebd., S. 73–74 (Hervorhebung im Original).

[95]

Ebd., S. 74.

[96]

Ebd., S. 75.

[97]

Ebd. (Hervorhebungen im Original).

[98]

Ebd., S. 76 (Hervorhebung im Original).

[99]

Ebd.

[100]

Ebd., S. 17.

[101]

Wilhelm Reich, Was ist Klassenbewusstsein?, Kopenhagen 1934, S. 8–9.

[102]

Ebd., S. 13–14 (Hervorhebungen im Original).

[103]

Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 391. Friedrich Engels, »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in: MEW, Bd. 21, Berlin 1969, S. 307.

[104]

Gestattet mir den Hinweis, dass sich Genosse David Walsh in seinem bedeutenden Beitrag zur letztjährigen Sommerschule (»Marxismus, Kunst und die sowjetische Debatte über ›proletarische Kultur‹«) mit der Frage der Kulturarbeit der sozialistischen Bewegung in Deutschland und in ganz Europa befasst hat. Leider findet sich in eurem Dokument kein Hinweis auf diesen Vortrag.

[105]

Wilhelm Reich, Was ist Klassenbewusstsein?, Kopenhagen 1934, S. 21 (Hervorhebung im Original).

[106]

Ebd., S. 19.

[107]

Ebd., S. 26–27.

[108]

Ebd., S. 38.

[109]

Ebd., S. 45.

[110]

Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971, S. 15 (Hervorhebung im Original).

[111]

Ebd., S. 15–16.

[112]

Ebd., S. 24.

[113]

Ebd., S. 29.

[114]

Ebd., S. 311–312.

[115]

Leo Trotzki, »Klasse, Partei und Führung«, in: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931–1939«, Köln 1976, S. 341.

[116]

Ebd., S. 346.

[117]

Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 301–305.

[118]

Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971, S. 77–78.

[119]

Du, Genosse Brenner, hast ein etwas anderes politisches Programm, wie du uns in deinem Utopie-Dokument eröffnest: »Lässt man die Machbarkeit (oder Wünschbarkeit) eines garantierten Orgasmus beiseite, bleibt doch ein wichtiger Punkt: Die Beendigung der Diktatur der Genitalien ist ebenso wesentlich wie die Beendigung der Diktatur der Ökonomie, um eine echt menschliche Existenz zu ermöglichen.« Jeder Kommentar zu diesem Absatz würde seine komische Wirkung beeinträchtigen.

[120]

Leo Trotzki, Literatur und Revolution, Essen 1994, S. 266–268.

[121]

Ebd., S. 269–270.

[122]

Friedrich Engels, Karl Marx, »Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik«, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1972, S. 98.

[123]

»The past is never dead. It’s not even past.« William Faulkner, Requiem for a Nun, New York 1951.

[124]

Vincent Geoghegan, Utopianism and Marxism, London und New York 1987, S. 118 (aus dem Englischen).

[125]

Ebd., S. 22.

[126]

Leo Trotzki, Verratene Revolution, Essen 1997, S. 97.

[127]

Ebd., S. 126.

[128]

David North, »Der Fall Terri Schiavo und die Krise der Politik und Kultur in den Vereinigten Staaten«, auf: World Socialist Web Site, 9.4.2005, http://www.wsws.org/de/articles/2005/04/schi-a09.html, aufgerufen am 29.9.2015.

[129]

Karl Marx, Friedrich Engels, »Die Deutsche Ideologie«, in: MEW, Bd. 3, S. 42 und 35 (Hervorhebungen im Original).