David North
Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert

Vorwort

Der Beginn des 20. Jahrhunderts als politische und kulturelle Epoche wird von Historikern weitgehend einvernehmlich auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 datiert. Sein Ende hingegen bzw. die Frage, ob es überhaupt abgeschlossen ist, bietet Anlass zu heftigen Kontroversen. Dabei geht es nicht um die kalendarische Einordnung eines Zeitraums von 100 Jahren – so gesehen ist das 20. Jahrhundert natürlich vorbei. Doch es zieht die Welt auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch fest in seinen Bann. Wenn Historiker heute im Zorn auf das vergangene Jahrhundert zurückblicken, dann deshalb, weil die mit ihm verbundenen Schlachten auf den Gebieten der Politik, Wirtschaft, Philosophie und auch Kunst noch nicht entschieden sind.

Bis vor Kurzem waren Historiker recht zuversichtlich, dass das 20. Jahrhundert ad acta gelegt werden konnte. Der Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa 1989 und die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 hatten auf kapitalistischer Seite einen Siegestaumel ausgelöst, von dem sich wissenschaftliche Einrichtungen weltweit fast widerstandslos mitreißen ließen. Eilends brachte die Professorenschaft ihre Geschichtstheorien mit den jüngsten Schlagzeilen und Leitartikeln in Einklang.

Vor den Ereignissen von 1989–1991 ging die Fachwelt in ihrer überwiegenden Mehrheit davon aus, dass die Sowjetunion, die mehr oder weniger mit dem Sozialismus gleichgesetzt wurde, auf ewig fortbestehen würde. Selbst diejenigen, die mit Leo Trotzkis Stalinismuskritik vertraut waren, betrachteten seine Voraussage, dass die Herrschaft der Kremlbürokratie, sollte sie nicht von der sowjetischen Arbeiterklasse gestürzt werden, zur Auflösung des Arbeiterstaats und zur Wiedereinführung des Kapitalismus führen werde, als wirklichkeitsfremdes und überhebliches Lamento eines unterlegenen Stalingegners.

Als sich die stalinistischen Regime jedoch tatsächlich auflösten, verkündeten die Professoren und Thinktank-Analytiker flugs nicht nur den unumkehrbaren Sieg der Vereinigten Staaten von Amerika über ihren Gegner aus dem Kalten Krieg, sondern auch, dass der Kapitalismus seinen Erzfeind, den Sozialismus, aus dem Reich der historischen Möglichkeiten verbannt habe. Besonders deutlich kam der Geist dieses Augenblicks in einem Aufsatz von Francis Fukuyama zum Ausdruck, der in der Zeitschrift »The National Interest« erschien. Unter dem Titel »Das Ende der Geschichte?« schrieb der ehemalige Mitarbeiter der Denkfabrik RAND Corporation:

Womöglich erleben wir zurzeit nicht nur das Ende des Kalten Krieges oder den Abschluss einer bestimmten Periode der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte überhaupt, also den Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Staatsform des Menschen.[1]

Man muss Fukuyama Gerechtigkeit widerfahren lassen: Er behauptete nicht, dass die Zukunft geruhsam und sorgenfrei verlaufen werde. Allerdings bestand seiner Ansicht nach kein Zweifel mehr, dass die liberale kapitalistische Demokratie, so unvollkommen sie in den USA und West­europa auch umgesetzt werde, das unübertreffliche Ideal für die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Menschheit darstelle. Die Geschichte war in dem Sinne an ihr »Ende« gelangt, dass es zur liberalen Demokratie auf der Grundlage der kapitalistischen Marktwirtschaft keine glaubwürdige theoretische und politische Alternative mehr gab. In einem Buch, das 1992 erschien, entwickelte Fukuyama seine These weiter:

Zu Zeiten unserer Großeltern konnten sich viele, auch durchaus vernünftige Menschen eine glänzende sozialistische Zukunft ausmalen, in der es kein Privateigentum und keine kapitalistischen Verhältnisse mehr geben würde und der Staat abgestorben wäre. Wir hingegen können uns heute nur schwer eine Welt vorstellen, die von Grund auf besser ist als die, in der wir leben, oder uns eine Zukunft ausmalen, die nicht demokratisch und kapitalistisch geprägt ist. Innerhalb dieses Rahmens ließe sich natürlich noch vieles verbessern: Wir könnten die Heimatlosen aufnehmen, wir könnten Minderheiten und Frauen Chancengleichheit gewähren, die Konkurrenzbedingungen verbessern und neue Arbeitsplätze schaffen. Wir können uns auch zukünftige Welten ausmalen, die bedeutend schlechter sind als unsere heutige Welt, wo nationale, rassistische oder religiöse Intoleranz herrscht oder Kriege und Wirtschaftskrisen über die Menschen hereinbrechen. Aber wir können uns nicht vorstellen, dass wir in einer Welt leben, die wesentlich anders ist als unsere derzeitige Welt und zugleich besser. In anderen, weniger nachdenklichen Zeitaltern glaubten die Menschen zwar auch, sie lebten in der besten aller möglichen Welten, doch wir gelangen zu diesem Schluss, nachdem wir sozusagen erschöpft sind durch die Verfolgung von Alternativen, die vermeintlich besser sein mussten als die liberale Demokratie.[2]

In Fukuyamas Analyse verband sich das Siegesgeschrei der Bourgeoisie mit pechschwarzem Pessimismus. Eigentlich hätte der Verlag jedem Exemplar seines Buches eine ärztliche Verschreibung für ein Antidepressivum beilegen müssen. Wenn die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse wirklich das höchste der Gefühle waren, dann nahm sich die Zukunft der Menschheit recht trostlos aus. Doch wie realistisch war Fukuyamas Hypothese? Zwar berief er sich auf Hegel, doch sein Verständnis der Dialektik war ausgesprochen begrenzt. Die Aussage, dass die Geschichte an ihrem Endpunkt angelangt sei, setzte den Nachweis voraus, dass der Kapitalismus seine systemimmanenten konflikt- und krisenträchtigen Widersprüche auf irgendeine Weise gelöst und überwunden hatte. Vor einer derart kategorischen Schlussfolgerung schreckte sogar Fukuyama zurück. Er räumte ein, dass der Kapitalismus von der sozialen Ungleichheit und Unzufriedenheit, die er hervorbrachte, gebeutelt werden würde. Er gab sogar zu, dass die »ungleiche Anerkennung« (d.h. die soziale Ungleichheit) garantiere, »dass die Linke auch in Zukunft Alternativen zur liberalen Demokratie und zum Kapitalismus suchen wird«.[3] Aber was bleibt dann noch vom Ende der Geschichte, wie es Fukuyama proklamiert?

Dem amerikanischen Historiker Martin Malia (1924–2004) war klar, dass Fukuyamas Theorie nicht haltbar war. Er warnte vor dem »Triumphgeschrei«, dass die Geschichte, nachdem sie »die Illusionen des Faschismus und des Kommunismus überwunden« habe, »in den sicheren Hafen der Demokratie und des Marktes eingelaufen« sei. Eine solche »postmarxistische Version vom Ende der Geschichte« zog Malia in Zweifel.[4] Der Kapitalismus, so seine Befürchtung, könne das Gespenst seines historischen Gegenspielers niemals abschütteln. »Die sozialistische Idee wird uns so lange nicht verlassen, wie wir die Ungleichheit nicht beseitigt haben, und das wird wohl noch sehr lange dauern.«[5] Im Kampf gegen diese hartnäckigen sozialistischen Bestrebungen empfahl Malia, unter Verweis auf die sowjetische Erfahrung zu betonen, dass der Sozialismus nicht funktioniere. Entsprechend lautete die These seines Buchs: »Vollstreckter Wahn. Russland 1917–1991«. Die Auflösung der Sowjetunion 1991 sei das unvermeidliche Ergebnis der Oktoberrevolution von 1917 gewesen. Die bolschewistische Partei habe das Unmögliche versucht: die Schaffung eines nicht kapitalistischen Systems. Darin bestand der fatale historische Irrtum Lenins und Trotzkis.

Mit anderen Worten, nicht die zufällige erste Verwirklichung am falschen Ort, Russland, ist der Grund für das Scheitern des integralen Sozialismus, sondern die sozialistische Idee als solche. Der Sozialismus als konsequenter Anti-Kapitalismus ist schlechthin unausführbar.[6]

Die Belege für diese Aussage waren dürftig, und so schloss Malia sein Buch mit seltsam anmutenden vagen Befürchtungen. Er sah voraus, dass es erneut zu einer revolutionären Massenbewegung für den Sozialismus kommen könnte.

Das Phänomen Leninismus entstand aus der beispiellosen, weltweiten Krise der Jahre 1914 bis 1918. Jede ähnlich globale Krise könnte die schlafenden sozialistischen Programme wieder zum Maximalismus treiben und damit zu der Versuchung, absolute Macht zu erstreben, um absolute Ziele zu erreichen.[7]

Hatte Fukuyama argumentiert, dass das »Ende der Geschichte« auch das Ende des Sozialismus bedeute, so räumte Malia bedauernd ein, dass der Sozialismus weiterhin Anhänger gewinnen werde, obwohl das Ziel einer nicht kapitalistischen Gesellschaft unerreichbar wäre. Der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012), seines Zeichens mehr als 50 Jahre lang treu ergebenes Mitglied der stalinistischen Kommunistischen Partei Großbritanniens, formulierte in Anlehnung an die Argumentation Fukuyamas und Malias eine Theorie über die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die unter gemäßigt und ehemals linken Akademikern großen Anklang fand. Hobsbawm war als Historiker zu gebildet und zu stark in der empirischen Methodik verwurzelt, um die metaphysischen Spekulationen Fukuyamas unverändert zu übernehmen. Er stutzte sie auf ein handhabbares Format zurecht: Die Auflösung der Sowjetunion bedeutete für ihn nicht das Ende der Geschichte, sondern das Ende des 20. Jahrhunderts. In seinem Buch »Das Zeitalter der Extreme« bezeichnete Hobsbawm die Jahre zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und der Auflösung der Sowjetunion 1991 als das »kurze 20. Jahrhundert«,

das, wie wir heute im Rückblick erkennen können, eine kohärente historische Periode bildete, welche nun beendet ist … Zweifellos ist in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren eine Ära der Weltgeschichte zu Ende gegangen und hat eine neue begonnen. Dies ist die entscheidende Information für die Historiker dieses Jahrhunderts …[8]

Indem Hobsbawm das 20. Jahrhundert als den »kurzen« siebzigjährigen Zeitabschnitt von 1914 bis 1991 periodisierte, wiederholte er Malias Absage an das revolutionäre Vorhaben der Bolschewiki in weniger stringenter Form. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 ließ er den Vorhang im Drama des 20. Jahrhunderts fallen und verkündete damit zugleich das Ende der revolutionären Epoche, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begonnen hatte. Von 1914 bis 1991 war der Sozialismus in der einen oder anderen Form als Alternative zum Kapitalismus betrachtet worden. Diese Zeit ging 1991 unwiederbringlich zu Ende. Hobsbawm ließ unmissverständlich durchblicken, dass die revolutionären sozialistischen Vorhaben Lenins und Trotzkis von Anfang an eine Illusion gewesen sein dürften. Im Lichte des Jahres 1991 stellte sich die Machtergreifung der Bolschewiki ein Dreivierteljahrhundert zuvor als tragischer Irrtum dar. Selbst wenn die Verhältnisse des Jahres 1917 die Entscheidungen der bolschewistischen Führer in gewisser Weise rechtfertigten, war die Oktoberrevolution laut Hobsbawm ein absolut einmaliges und nicht wiederholbares Ereignis, dem aufgrund seiner einzigartigen Voraussetzungen keine aktuelle politische Relevanz zukam.

Sowohl Fukuyama als auch Hobsbawm machten das Schicksal der Sowjetunion zur Grundlage für die Einteilung geschichtlicher Perioden. Für Fukuyama bedeutete ihre Auflösung das »Ende der Geschichte«. Für Hobsbawm bedeutete sie das Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts«. Mit der kolossalen historischen Bedeutung, die sie der Auflösung der Sowjetunion beimaßen, gestanden beide indirekt ein, dass die Oktoberrevolution das prägende politische Ereignis des 20. Jahrhunderts war. Doch sowohl die These vom »Ende der Geschichte« als auch diejenige vom »kurzen 20. Jahrhundert« beruhte auf einer völlig falschen Vorstellung von den historischen Grundlagen der Oktoberrevolution und vom Charakter des sowjetischen Staats, der sich in den Jahrzehnten nach der Eroberung der Staatsmacht durch die Bolschewiki entwickelte. Während Fukuyama in abstrakten Gefilden schwebte, ohne sich groß um Fragen der historischen Kausalität zu kümmern, machte sich Hobsbawm die ebenso verbreitete wie oberflächliche Auffassung zu eigen, dass es ohne die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs niemals zur sozialistischen Revolution in Russland gekommen wäre: »Ohne den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts im Zeitalter der Katastrophe hätte es keine Oktoberrevolution und keine Sowjetunion gegeben.«[9]

Das ist keine Erklärung, sondern eine Tautologie. Die eigentliche wissenschaftliche Aufgabe, der Hobsbawm ausweicht, besteht darin, die tiefen Widersprüche auf Weltebene aufzudecken, die in den Weltkrieg und in die soziale Revolution mündeten. Immerhin gingen dem Ersten Weltkrieg jahrelange, immer schärfere Konflikte zwischen den Großmächten voraus. Außerdem war der Sozialismus in den Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution zu einer internationalen Massenbewegung der Arbeiterklasse geworden. Die Sozialisten hatten vor 1914 nicht nur mit dem Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft gerechnet, sondern auch davor gewarnt, dass er die Form eines verheerenden europäischen oder sogar weltweiten Kriegs annehmen könnte. Weit entfernt, einen solchen Krieg als wesentliche Voraussetzung für die sozialistische Revolution zu begrüßen, stellten die großen Marxisten aus der Zeit vor 1914 den Kampf gegen imperialistischen Militarismus in den Mittelpunkt ihrer politischen Tätigkeit.

Erst als sich abzeichnete, dass ein großer imperialistischer Krieg unmittelbar bevorstand, stellten sie sich die Frage nach den strategischen Konsequenzen vom Standpunkt des revolutionären Kampfs. Entscheidend ist, dass die marxistischen Sozialisten bereits vor 1914 erkannt hatten, dass die historische Krise des kapitalistischen Systems der gemeinsame Ursprung von Krieg und Revolution war. Hobsbawm hingegen behandelt die historische Kausalität in oberflächlicher Weise: Er übergeht die Auseinandersetzungen, die vor 1914 in der sozialistischen Bewegung geführt wurden, und stellt die Oktoberrevolution als zufällige Begleiterscheinung des Kriegs dar.

Ein schwerwiegender Mangel der von Fukuyama, Hobsbawm und auch Malia vertretenen Interpretationen besteht darin, dass die Sowjetunion in allen Phasen ihrer Geschichte kritiklos mit dem Sozialismus gleichgesetzt wird. Die Herrschaft des Stalinismus wird als unvermeidbar auf die Ursünde der Oktoberrevolution zurückgeführt. Diese fatalistische und überaus deterministische Sicht auf die sowjetische Geschichte schließt die Möglichkeit eines nicht stalinistischen Entwicklungswegs von vornherein aus. Den oppositionellen Tendenzen, die innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Herausbildung einer Diktatur unter Stalin bekämpften, stand Hobsbawm völlig gleichgültig gegenüber. Diskussionen über Alternativen zu Stalins Herrschaft waren für ihn kontrafaktische Geschichte und damit unzulässig. So heftig der Konflikt innerhalb der Kommunistischen Partei auch gewesen sein mochte, Stalins Fraktion setzte sich am Ende durch, und fortan war der Stalinismus, um den zynischen Ausdruck des Historikers zu verwenden, »der einzige Joker im Spiel«. Was Trotzki und die Linke Opposition sagten und schrieben, als innerhalb der Kommunistischen Partei der heftige Kampf von 1923–1927 tobte, spielte keine Rolle. Für Hobsbawm war es ein klarer Fall. Stalin siegte, Trotzki unterlag, und damit hatte es sich. Mit dem, was hätte sein können, sollten sich Historiker nicht aufhalten.

Wenn Hobsbawm jegliche Alternative zum Stalinismus kategorisch von sich wies, dann nicht aus strenger historischer Objektivität, sondern aus einer apologetischen Haltung heraus. Er war durchaus kein unpartei­ischer und vorurteilsfreier Beobachter. Als langjähriges Mitglied der britischen stalinistischen Bewegung nahm Hobsbawm zu keinem Zeitpunkt Anstoß daran, wie die Sowjetbürokratie die Geschichte der Russischen Revolution und die Rolle Leo Trotzkis verfälschte. Er sank 2012 im Alter von 95 Jahren ins Grab, ohne jemals offen eingestanden zu haben, dass er jahrzehntelang die lügenhafte offizielle stalinistische Geschichtsschreibung der UdSSR vertreten hatte.

Mit der Auflösung der Sowjetunion endete laut Hobsbawm das »Zeitalter der Extreme«. Nun war wieder der Kapitalismus, wie bereits vor 1917, »der einzige Joker im Spiel«. Und obwohl gewaltsame Aufstände in der Zukunft nicht unwahrscheinlich waren, bestand doch keine Aussicht auf das Wiedererstehen einer revolutionären sozialistischen Massenbewegung.

Aufgrund von Hobsbawms Darstellung musste der Leser zu dem Schluss gelangen, dass sich die Menschheit in eine Sackgasse verrannt hatte und in einer aussichtslosen Lage befand. »Wir wissen nicht, wohin wir gehen«, erklärte er am Ende von »Das Zeitalter der Extreme«. Für Hobsbawm boten die Erfahrungen der Vergangenheit keine Anhaltspunkte für eine positive Gestaltung der Zukunft. Nur eines stand fest: Die sozialistische Revolution vom Oktober 1917 konnte und durfte kein Vorbild für die Kämpfe der Zukunft sein. »Wenn wir versuchen, das dritte Jahrtausend auf dieser Grundlage aufzubauen, werden wir scheitern«, schrieb er. »Und der Preis für dieses Scheitern«, so schließt er mahnend sein dickes Buch, »ist Finsternis.«[10]

Die Vorträge und Artikel, die im vorliegenden Band veröffentlicht werden, entstanden vorwiegend in Opposition zu der Behauptung, dass das Zeitalter der sozialistischen Weltrevolution mit der Auflösung der Sowjet­union zu Ende gegangen sei. Im Gegensatz zu Fukuyamas »Ende der Geschichte« und Hobsbawms »kurzem 20. Jahrhundert« legte ich dar, dass die Auflösung der Sowjetunion, so bedeutsam sie sein mochte, nicht das traumatische Ende des Sozialismus bedeutet. Die Geschichte geht weiter. Und insofern es als Zeitalter einer tiefen Krise des Kapitalismus erscheint, das Kriege und Revolutionen hervorbrachte, wird das 20. Jahrhundert durch die Bezeichnung »unvollendet« treffend charakterisiert. Denn die wesentlichen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Widersprüche, mit denen die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert ist, sind im Wesentlichen dieselben wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ungeachtet aller wissenschaftlichen Fortschritte, technologischen Innovationen, politischen Erschütterungen und gesellschaftlichen Veränderungen war der Ausklang des 20. Jahrhunderts von einer eigenartigen Unentschiedenheit geprägt. Kein einziges der großen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Probleme, die den Kämpfen dieses Jahrhunderts zugrunde lagen, war abschließend gelöst. Dem Ersten Weltkrieg gingen Grenzstreitigkeiten auf dem Balkan voraus, die schließlich zu seinem Auslöser wurden. Fast 80 Jahre später mündete die Auflösung Jugoslawiens, von den USA und Deutschland vorangetrieben, in zehnjährige blutige Auseinandersetzungen über die Bildung unabhängiger Staaten und den Verlauf ihrer Grenzen. Der Erste Weltkrieg begann 1914 mit der Entscheidung Österreich-Ungarns, die nationalistische Regierung Serbiens dafür abzustrafen, dass sie sich den Interessen des Kaiserreichs widersetzt hatte. 85 Jahre später, als sich das 20. Jahrhundert seinem Ende zuneigte, zwangen die USA Serbien durch eine erbarmungslose Bombardierung eine imperialistische Neuordnung der Grenzen auf dem Balken auf.

Nun könnte man sagen, plus ça change, plus c’est la même chose (Je mehr sich die Dinge ändern, um so mehr bleiben sie sich gleich). Doch es steckt mehr dahinter, nämlich die langfristige Fortdauer der sozioökonomischen und politischen Grund­pro­bleme, welche die Welt von 2014 mit derjenigen von 1914 verbinden und dem 20. Jahrhundert seinen »unvollendeten« Charakter verleihen.

Betrachten wir vergleichsweise, wie sich die Welt von 1800 den Menschen darstellte, die am Silvesterabend den Anbruch des 20. Jahrhunderts feierten. Zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die Napoleonischen Kriege eindeutig Geschichte. Die Französische Revolution und die Schlachten von Austerlitz und Waterloo waren für die Zeitgenossen im Jahr 1900 epische Kämpfe aus einem anderen Zeitalter. Die Persönlichkeiten von Ro­bespierre, Danton und Napoleon faszinierten sie weiterhin. Aber es waren Gestalten aus einer anderen Zeit und von einem anderen historischen Ort, weit entfernt von der Welt des Jahres 1900. Natürlich wirkten sie in der Weltgeschichte fort. Doch die politischen Umstände, unter denen sie gelebt hatten, waren im Verlauf des 19. Jahrhunderts von Grund auf verändert und umgewälzt worden. In Westeuropa und Nordamerika hatten sich die bürgerlich-demokratischen Nationalstaaten, die auf die französische und die amerikanische Revolution des 18. Jahrhunderts zurückgingen, weitgehend gefestigt. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen der fortgeschrittenen Länder waren durch die industrielle Revolution verändert worden. Der frühere Konflikt zwischen dem Feudaladel und der aufsteigenden Bourgeoisie wurde überlagert und abgelöst durch eine neue Form des Klassenkampfs, die sich aus der raschen Entfaltung des Industriekapitalismus und der Entstehung des Proletariats ergab. In den Revolutionen von 1848 hatte sich schmerzlich gezeigt, dass die allgemeinen demokratischen Parolen, unter denen die großen Kämpfe des späten 18. Jahrhunderts geführt worden waren, nicht mehr ausreichten. Die »Erklärung der Menschenrechte« war in der alten Sprache der bürgerlich-demokratischen Revolutionen abgefasst, das »Kommunistische Manifest« in der neuen Sprache der proletarischen sozialistischen Revolution.

Aufgrund der Entstehung einer eng verflochtenen Weltwirtschaft hatte die Politik an der Wende zum 20. Jahrhundert einen ausgesprochen globalen Charakter angenommen. Das Nationalstaatensystem, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts konsolidiert hatte, wurde von heftigen Spannungen erfasst. Sie äußerten sich in zunehmend verbissenen Kämpfen der stärksten kapitalistischen Staaten um die Weltherrschaft. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ging der Begriff »Imperialismus« in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Die ökonomischen Grundlagen dieses neuen Phänomens und seine gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen wurden in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sorgfältig analysiert. Der britische Ökonom J.A. Hobson vertrat in einem Buch mit dem Titel »Der Imperialismus« im Jahr 1902 folgende Einschätzung: »Die wirtschaftliche Wurzel des Imperialismus ist der Wunsch stark organisierter industrieller und finanzieller Interessen, auf öffentliche Kosten und durch die staatliche Macht private Märkte für ihren Warenüberschuss und ihren Kapitalüberschuss zu erschließen.«[11] Der österreichische sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding wies in seinem Werk »Das Finanzkapital« im Jahr 1910 nicht nur auf die demokratiefeindliche und gewalttätige Natur des Imperialismus hin, sondern auch auf seine revolutionären Implikationen:

Die Aktion der Kapitalistenklasse selbst, wie sie sich in der imperialistischen Politik darstellt, weist das Proletariat mit Notwendigkeit auf den Weg selbständiger Klassenpolitik, die nur mit der schließlichen Überwindung des Kapitalismus überhaupt enden kann. Solange der Grundsatz des laisser faire herrschte, die Intervention des Staates in die wirtschaftlichen Angelegenheiten und damit der Charakter des Staates als einer Organisation der Klassenherrschaft verhüllt war, gehörte ein verhältnismäßig hoher Grad von Einsicht dazu, die Notwendigkeit des politischen Kampfes und vor allem die Notwendigkeit des politischen Endzieles, die Eroberung der Staatsgewalt, zu begreifen. Ist es doch kein Zufall, dass gerade in England, dem klassischen Land der Nichteinmischung, auch das Aufkommen einer selbständigen politischen Aktion der Arbeiterklasse so erschwert war. Dies ändert sich nun. Die Kapitalistenklasse ergreift unmittelbar, unverhüllt, handgreiflich Besitz von der staatlichen Organisation und macht sie zum Werkzeug ihrer ­Exploitationsinteressen in einer Weise, die auch dem letzten Proletarier fühlbar wird, der nun erkennen muss, dass die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat sein nächstes, persönliches Interesse ist. Die offenkundige Besitznahme des Staates durch die Kapitalistenklasse zwingt unmittelbar jedem Proletarier das Streben nach Eroberung der politischen Macht auf, als dem einzigen Mittel, seiner Exploitation ein Ende zu setzen.[12]

Im Jahr 1916, als der Weltkrieg in sein drittes Jahr eintrat, fasste Lenin den Charakter des Imperialismus präzise zusammen:

Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus …

Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus Amerikas und Europas und in der Folge auch Asiens hat sich in den Jahren 1898 bis 1914 voll herausgebildet. Der Spanisch-Amerikanische Krieg (1898), der Burenkrieg (1899–1902), der Russisch-Japanische Krieg (1904–1905) und die Wirtschaftskrise in Europa im Jahre 1900 – das sind die wichtigsten historischen Marksteine der neuen Epoche der Weltgeschichte.

… Zweitens zeigt sich der Fäulnisprozess des Kapitalismus in der Entstehung einer gewaltigen Schicht von Rentiers, Kapitalisten, die vom »Kuponschneiden« leben … Drittens ist Kapitalexport Parasitismus ins Quadrat erhoben … Politische ­Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus. Korruption, Bestechung im Riesenausmaß, Panama­skandale jeder Art … [D]ie Ausbeutung der unterdrückten Nationen … durch ein Häuflein von »Groß«mächten …[13]

In »Der Krieg und die Internationale« bezeichnete Trotzki den Konflikt 1915 als »Aufruhr der Produktivkräfte … gegen ihre nationalstaatliche Ausbeutungsform«. Der Krieg bedeute »die Zertrümmerung des nationalen Staates als eines selbständigen Wirtschaftsgebietes«:

Der Krieg verkündet den Zusammenbruch des nationalen Staates. Doch zugleich auch die Zertrümmerung der kapitalistischen Wirtschaftsform. Aus dem nationalen Staat heraus revolutionierte der Kapitalismus die gesamte Weltwirtschaft, indem er den ganzen Erdball zwischen den Oligarchien der Großmächte verteilte, um welche sich ihre Trabanten, die Kleinstaaten, gruppieren, die von der Rivalität der Großen leben. Die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft auf kapitalistischer Grundlage bedeutet einen unaufhörlichen Kampf der Weltmächte um neue und immer neue Gebiete der einen und selben Erdoberfläche als eines Objektes kapitalistischer Ausbeutung. Die ökonomische Rivalität unter dem Zeichen des Militarismus wechselt mit Raub und Zerstörung, die die elementaren Grundlagen menschlicher Wirtschaft auflösen. Die Weltproduktion empört sich nicht nur gegen die national-staatlichen Wirrnisse, sondern auch gegen die kapitalistische Wirtschaftsorganisation, die sich zu deren barbarischer Desorganisation umgewandelt hat.[14]

In diesen Schriften tritt uns die Wortwahl und Terminologie der heutigen internationalen Geopolitik entgegen. Wir erkennen diese Welt als unsere eigene wieder. Es ist die Welt des Kapitalismus, der herrschenden Oligarchien, der riesigen Konzerne mit ihren globalen Interessen und der autoritären Regime. Diese Schriften entstanden zu Beginn der Epoche – von Kriegen und Revolutionen –, in der wir heute noch leben. Aus den gegensätzlichen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts ergeben sich weitreichende Folgen für unsere Auffassung der Gegenwart und unsere Zukunfts­erwartungen. Die These vom »Ende der Geschichte« stellt eine Rechtfertigung für Resignation und Selbstzufriedenheit dar. Die Erzählung vom »kurzen 20. Jahrhundert«, die den revolutionären Kampf für den Sozialismus als zur Niederlage verurteilt und letztlich sinnlos erklärt, verströmt existenzielle Hoffnungslosigkeit angesichts eines Kapitalismus, der selbst dann, wenn er unweigerlich auf die Vernichtung der gesamten Zivilisation zusteuert, stets stark genug ist, jede Massenopposition niederzuschlagen.

Mit der Konzeption des »unvollendeten 20. Jahrhunderts« wird dem ahistorischen Pessimismus der kleinbürgerlichen Intelligenz eine Absage erteilt. Sie verortet die Menschheit inmitten eines fortdauernden und ungelösten Konflikts. Der Ausgang der globalen Krise, die im August 1914 begann, ist noch nicht entschieden. Die Menschheit steht vor derselben historischen Alternative, die Rosa Luxemburg im Ersten Weltkrieg, vor nahezu 100 Jahren, folgendermaßen formulierte: »entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof; oder der Sieg des Sozialismus, d.h. der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg.«[15] Für die dem Existenzialismus entliehene Kategorie der Hoffnungslosigkeit haben Marxisten keine Verwendung, wenn es um die wissenschaftliche Einschätzung historischer Möglichkeiten geht. Wir fassen die bestehenden Gegebenheiten in all ihrer Komplexität als vorübergehende Manifestationen gesetzmäßiger sozioökonomischer Widersprüche auf, die verstanden und zum Ausgangspunkt des Handelns gemacht werden können (und müssen). Aus der Einschätzung des 20. Jahrhunderts als »unvollendet« ergibt sich, dass seine Geschichte unbedingt studiert werden muss. Die Erschütterungen und Kämpfe der Vergangenheit werden als wesentliche strategische Erfahrungen aufgefasst, deren Lehren sich die internationale sozialistische Bewegung gründlich aneignen muss.

Die genannten gegensätzlichen Interpretationen der Auflösung der Sowjetunion wurden vor mehr als 20 Jahren formuliert. Welche hat sich bewahrheitet? Im Gegensatz zu den Erwartungen Fukuyamas zeigt die Geschichte nach der Auflösung der Sowjetunion wenig Neigung zu erlahmen. Eine seiner Kernaussagen hatte gelautet, dass mit dem »Ende der Geschichte« die Häufigkeit von Kriegen abnehmen werde. Unter gelehrten Verweisen auf Hume, Kant und Schumpeter hatte Fukuyama geltend gemacht, dass die liberale Demokratie friedfertig sei. »Die liberale Demokratie«, so seine Weissagung, »hat also nicht den natürlichen Trieb zu Aggression und Gewalt gezügelt, sondern die Triebe von Grund auf verwandelt. Damit gibt es kein Motiv mehr für Kriege.«[16]

Die Kristallkugel des Herrn Fukuyama war offenbar etwas rissig. Just als sich der RAND-Analytiker eine postsowjetische Welt des Friedens ausmalte, gaben die USA bekannt, dass sie keinen neuen Konkurrenten um ihre Stellung als Hegemonialmacht dulden würden. Mit dieser neuen strategischen Doktrin wurde der Krieg als wesentliches Instrument der US-Geopolitik quasi institutionalisiert. Entsprechend kam es in den 1990er Jahren zu einer stetigen Eskalation ihrer Militäroperationen. Das Jahrzehnt begann mit dem ersten Einmarsch im Irak und endete mit der grausamen Bombardierung Serbiens.

Die Tragödie des 11. September 2001, für deren undurchsichtige Vorgeschichte und Durchführung es bis heute keine angemessene Erklärung gibt, diente der Bush-Regierung als Vorwand für einen unbefristeten »Krieg gegen den Terror«, der ständig ausgeweitet wird. Unter Obama verband sich die irrwitzige Jagd auf »Terroristen« mit ungezügelter geopolitischer Eroberungsgier, die den gesamten Erdball – und auch den Weltraum – zum möglichen Austragungsort von US-Militäroperationen werden ließ. Welch unermessliches Leid der Ausbruch des imperialistischen Militarismus nach der Sowjetzeit mit sich brachte, spiegelt sich darin wider, dass die Zahl der Flüchtlinge heute (Juli 2014) weltweit mit mehr als 50 Millionen den höchsten Stand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht hat.[17] Auf Afghanistan und Pakistan – die Hauptopfer von Washingtons Amoklauf durch Zentralasien – entfallen mehr als vier Millionen dieser Flüchtlinge.

Seit Fukuyama den Sieg der liberalen Demokratie verkündet hat, ist deren Krise allerorten, vor allem in den USA, immer deutlicher zutage getreten. Der US-amerikanische Staat verselbständigt sich zu einem brutalen Leviathan, einem unkontrollierbaren Ungeheuer. Die Bill of Rights wird zum Fetzen Papier. Die US-Regierung maßt sich eine Herrschaft über ihre Bürger an, die vor weniger als einer Generation noch unvorstellbar gewesen wäre. Nicht genug, dass sie ausspioniert werden und ihr Leben bis in die intimsten Bereiche erfasst wird, sie können auch ohne ordentliches Gerichtsverfahren getötet werden. Was Hobsbawms »kurzes 20. Jahrhundert« anbelangt, so erwies sich seine Theorie jedenfalls als kurzlebiger, als es der Autor erwartet hatte. Kaum hatte das neue Jahrhundert begonnen, da zeichnete sich auch schon ab, dass es von den historischen Problemen seines Vorläufers beherrscht wurde. Das 20. Jahrhundert rückt durchaus nicht in eine immer fernere Vergangenheit, sondern erweist sich als drückende Schuldenlast, von der keiner weiß, wie sie abzutragen ist.

Für diese offenen Schulden fallen Zinsen an: immer wiederkehrende Forderungen nach der Revision der Geschichte entsprechend tagespolitischen Zielen. Die Geschichtsforschung – genau genommen Pseudo-Geschichtsforschung – wird immer schamloser den finanziellen und politischen Interessen der Herrschenden untergeordnet. Die Unterscheidung zwischen Geschichtswissenschaft und Propaganda wird systematisch untergraben.

Diese Degradierung der Geschichtswissenschaft zu Propaganda brachte eine weitere Konzeption des 20. Jahrhunderts hervor. Dem »Ende der Geschichte« und dem »kurzen 20. Jahrhundert« folgt nun die »Lügengeschichte des 20. Jahrhunderts«. Diese Schule speist sich aus der Unterdrückung, Verdrehung und direkten Fälschung historischer Tatsachen. Sie zielt darauf ab, die schlimmsten Verbrechen des kapitalistischen Imperialismus im 20. Jahrhundert zu beschönigen und zu rechtfertigen und zugleich den gesamten Kampf der internationalen sozialistischen Bewegung zu kriminalisieren und in den Schmutz zu treten.

Im Zuge dieses historischen Revisionismus wird die sozialistische Oktoberrevolution von 1917 als Ursünde des 20. Jahrhunderts dargestellt, die alle nachfolgenden Schrecken – insbesondere die nationalsozialistische Herrschaft unter Hitler und den Holocaust – unvermeidlich gemacht, ja sogar legitimiert habe. Vor der Auflösung der Sowjetunion hätte eine derart groteske Verdrehung der Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in Deutschland, als wissenschaftlich unhaltbar und verachtenswert gegolten.

Mitte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre war Deutschland Schauplatz des berühmten Historikerstreits, der durch einen Essay des Geschichtswissenschaftlers Ernst Nolte ausgelöst worden war. Noltes Argumentation zufolge sollten die Verbrechen der Nationalsozialisten als nachvollziehbare Reaktion auf die Oktoberrevolution, den russischen Bürgerkrieg von 1918–1921 und die Barbarei des Sowjetbolschewismus aufgefasst werden. Er forderte eine mitfühlende Neubewertung des Dritten Reichs und bezeichnete das Vorgehen der Nationalsozialisten als »aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution«. Nolte fuhr fort: »Die Dämonisierung des Dritten Reiches kann nicht akzeptiert werden. Sie liegt schon dann vor, wenn dem Dritten Reich die Menschlichkeit abgesprochen wird, die einfach darin besteht, dass alles Menschliche endlich ist und damit weder ganz gut noch ganz schlecht, weder ganz hell noch ganz dunkel sein kann.«[18]

Noltes Schriften waren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der deutlichste Versuch eines Angehörigen des Wissenschaftsbetriebs in Deutschland, Hitler und das Dritte Reich zu verteidigen. Er schreckte nicht einmal davor zurück, das brutale Vorgehen gegen die europäischen Juden damit zu rechtfertigen, dass Chaim Weizmann als Führer des Zionistischen Weltkongresses 1939 geäußert habe, dass die Juden auf der Seite Englands gegen Deutschland kämpfen würden.[19] In seiner Heidegger-Biographie von 1992 verteidigte Nolte den Antisemitismus dieses Philosophen und seine Unterstützung für die Nationalsozialisten: »Im Vergleich mit ihr [der Russischen Revolution] war die deutsche Revolution des Nationalsozialismus in ihren unmittelbaren und laut verkündeten Zielen – der Wiederherstellung der Ehre und Gleichberechtigung Deutschlands – bescheiden, ja ärmlich und in ihren Methoden moderat …«[20]

Noltes Schriften stießen bei deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern auf grundsätzlichen Widerspruch. Man warf ihm vor, als Apologet des Nationalsozialismus aufzutreten, und sein Ruf als Historiker war ruiniert. Doch heute ist Nolte wieder auf dem aufsteigenden Ast. Im Alter von 91 Jahren wird er als Prophet gefeiert, dessen Zeit endlich gekommen sei. Am 10. Februar 2014 erschien »Der Spiegel«, das auflagenstärkste Nachrichtenmagazin in Deutschland, mit einer Geschichte, in der Noltes Thesen als bestätigt dargestellt wurden. »Der Spiegel« stellte die Behauptung auf, dass sich das Ausmaß von Hitlers Verbrechen im Vergleich mit denjenigen Stalins relativiere. Zu den vom »Spiegel« befragten Historikern zählte u.a. Professor Jörg Baberowski, der die Fakultät für die Geschichte Osteuropas an der angesehenen Humboldt-Universität zu Berlin leitet. Zur Verteidigung Noltes, dessen Ansichten er teilt, führte Baberowski an: »Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.«[21] Im Zuge der Rechtfertigung von Noltes Versuchen, Ausmaß und Einmaligkeit der Verbrechen des Dritten Reiches zu beschönigen, erklärte Baberowski: »Er hatte historisch recht.«[22]

Worin genau hatte Nolte recht? Im Interview mit dem »Spiegel« behauptete Nolte, Hitler sei durch die Unnachgiebigkeit Großbritanniens und Polens zum Krieg gezwungen worden. Damit nicht genug. Nach dem Bericht des »Spiegel« »kaprizierte er sich darauf, dem Judentum einen ›eigenen Anteil am Gulag‹ zu unterstellen, weil einige Bolschewisten Juden waren. In seiner Logik wären sie damit mitverantwortlich für Auschwitz.« Leicht erschüttert über Noltes Offenheit räumte der »Spiegel« ein: »Dies ist schon länger ein Argument von Judenhassern.«[23] Doch darin erschöpfte sich die Kritik des »Spiegel« auch schon, und den Aussagen von Nolte und Baberowski wurde so gut wie nirgends öffentlich entgegengetreten. Der Umstand, dass ihre Argumente auf so wenig Widerspruch stießen, ist ein Ausdruck von Prozessen, die sich nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch in der Politik abspielen. Seit einem Jahr läuft eine intensive politische Kampagne, um die Öffentlichkeit für die Wiederbelebung des deutschen Militarismus zu gewinnen. Mit Präsident Gauck an der Spitze verlangen die überregionalen Zeitungen, dass die Deutschen ihren Nachkriegspazifismus ablegen und akzeptieren, dass ihr Land seine legitimen Interessen als Großmacht im Ausland militärisch verteidigen müsse.

Bezeichnenderweise gingen die neuerlichen Forderungen, Deutschland müsse sich abermals einen »Platz an der Sonne« sichern, mit dem Versuch einher, den langjährigen geschichtswissenschaftlichen Konsens aufzubrechen, der auf die bahnbrechende Studie Fritz Fischers aus dem Jahr 1961, »Griff nach der Weltmacht«, zurückgeht. Der Historiker Fischer hatte nachgewiesen, dass die Reichsregierung unter Kaiser Wilhelm II. maßgeblich für den Kriegsausbruch 1914 verantwortlich war. Fischer, der 1999 verstorben ist, steht mittlerweile unter Dauerbeschuss. Sein Ruf als Wissenschaftler soll posthum ruiniert werden.

Anhand der fortdauernden Krise in der Ukraine zeigt sich besonders deutlich, wie die Geschichtswissenschaft aktuellen geopolitischen Zielen untergeordnet wird. Als die USA und Deutschland den Putsch rechter Kräfte im Februar 2014, an dem faschistische Organisationen maßgeblich beteiligt waren, als demokratische Revolution verkauften, kamen ihnen diese eklatanten Geschichtsfälschungen zugute. Dieser Vorgang wird im vorletzten Essay des vorliegenden Bands behandelt.

Dieser Band dokumentiert einen Teil des Kampfs, den das Internationale Komitee der Vierten Internationale in den letzten 20 Jahren geführt hat, um die historische Wahrheit gegen die Verdrehungen und Fälschungen zu verteidigen, die nach der Auflösung der Sowjetunion einsetzten. Für diesen Kampf war die trotzkistische Bewegung gut gewappnet. Seit der Gründung der Linken Opposition 1923 hatten sich die Trotzkisten gezwungen gesehen, die wahre Geschichte und das Vermächtnis der Oktoberrevolution gegen die Lügen der stalinistischen Bürokratie zu verteidigen. Die bürokratische Reaktion gegen Programm und Prinzipien der Oktoberrevolution begann in den frühen 1920er Jahren damit, dass die Fraktionskämpfe der russischen sozialdemokratischen Bewegung aus der Zeit vor 1917 verdreht wurden, um Trotzki als eingefleischten Gegner Lenins darzustellen. Trotzkis politische Positionen wurden dahingehend verfälscht, dass er als rücksichtsloser Feind der russischen Bauernschaft erschien. Nach Trotzkis Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Russlands im Jahr 1927 und seiner Verbannung aus der UdSSR 1929 wurde der gesamte Verlauf der sowjetischen Geschichte im Sinne der politischen Interessen des stalinistischen Regimes umgeschrieben. Selbst Sergej Eisenstein musste aus seinem filmischen Meisterwerk aus dem Jahr 1927, »Zehn Tage, die die Welt erschütterten«, alle Aufnahmen von Trotzki herausschneiden, obwohl dieser den Aufstand vom Oktober 1917 in Petrograd organisiert und geführt hatte.

Die Lügen und Fälschungen der 1920er Jahre – die dazu dienten, Trotzki zu entmachten und das Programm des sozialistischen Internationalismus, auf dem die Oktoberrevolution beruht hatte, zurückzuweisen – wuchsen sich in den 1930er Jahren zu den Moskauer Schauprozessen aus, mit denen Stalin der Massenvernichtung der Marxistengeneration, die die Arbeiterklasse an die Macht geführt, die Kommunistische Internationale gegründet und die Sowjetunion ins Leben gerufen hatte, den Anschein von Rechtmäßigkeit verleihen wollte. Die Fälschung der Geschichte bildet, wie Trotzki erklärte, den unabdingbaren ideologischen Kitt der politischen Reaktion. Sei es in Form von Schauprozessen, Propaganda vonseiten des Staats und der Medien oder der Verdrehung historischer Tatsachen durch skrupellose kleinbürgerliche Akademiker, Lügen über die Geschichte dienen stets dazu, die Verbrechen der Herrschenden zu rechtfertigen, die öffentliche Meinung in die Irre zu führen und der breiten Masse der Bevölkerung die Informationen und Kenntnisse vorzuenthalten, die sie braucht, um einen erfolgreichen und revolutionären Kampf gegen das kapitalistische System zu führen. Deswegen ist der Kampf gegen Geschichtsfälschungen kein zweitrangiger oder gar beliebiger Aspekt der politischen Arbeit. Die Verteidigung der historischen Wahrheit – insbesondere mit Bezug auf die Oktoberrevolution und die strategischen Erfahrungen der internationalen sozialistischen Bewegung im 20. Jahrhundert – ist die Voraussetzung dafür, dass sich in der Arbeiterklasse, anknüpfend an frühere Traditionen, wieder sozialistisches Bewusstsein herausbildet.

In den letzten Jahren ihres Bestehens war in der gesamten Sowjetunion ein verstärktes öffentliches Interesse an der Geschichte der Russischen ­Revolution zu verzeichnen. Nach Jahren der Unterdrückung erschienen allenthalben Artikel über Trotzki, vor allem aber wurden seine Werke allgemein zugänglich. Für die Sowjetführung war dies beängstigend. Denn im Gegensatz zur unverrückbar prokapitalistischen Orientierung der stalinistischen Bürokratie, die die Rückkehr zur Marktwirtschaft als einzigen Ausweg verkaufen wollte, ging aus den Schriften Trotzkis und aus dem dokumentierten Kampf der Vierten Internationale gegen den Stalinismus hervor, dass es eine sozialistische Alternative zur bürokratischen Herrschaft gab.

Als der Kreml die UdSSR auflöste, bestand eines seiner Hauptziele darin, die Rückbesinnung der Arbeiterklasse auf eine sozialistische Perspektive zu verhindern. Daher wurde die Auflösung der Sowjetunion von einer neuerlichen Geschichtsfälschungskampagne begleitet, deren Tenor lautete, die Sowjetunion sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Diese »postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung« bewegte sich auf denselben Gleisen wie Fukuyama, Malia und Hobsbawm. In allen diesen Werken wurde die grundlegende Botschaft vermittelt, dass die Auflösung der UdSSR eine unvermeidliche Folge der Oktoberrevolution und kein anderer Ausgang möglich gewesen seien. Der Stalinismus habe die Oktoberrevolution nicht pervertiert, sondern sich zwangsläufig aus ihr ergeben. Eine Alternative gab es nicht.

In den hier vorgelegten Vorträgen und Artikeln, in denen die Konzeption des »unvollendeten 20. Jahrhunderts« Gestalt annahm, wird durchweg betont, dass das Bestehen einer Alternative zum Stalinismus historisch eindeutig belegt ist. Ich trat Hobsbawms Behauptung entgegen, dass das Nachdenken über Alternativen zum Stalinismus sinnlos und als kontrafaktische Geschichtsschreibung unwissenschaftlich sei. »Die Geschichte muss von dem ausgehen, was sich tatsächlich ereignet hat«, schrieb er. »Alles andere ist Spekulation.«[24]

Dieser Absatz ist deshalb bemerkenswert, weil er exemplarisch für eine ebenso verbreitete wie perfide Herangehensweise an die Geschichte der Sowjetunion steht. Hobsbawm verzichtet auf eine direkte Fälschung des historischen Materials. Aber er vergeht sich an der historischen Wahrheit, indem er wichtige Tatsachen unterschlägt und ein unvollständiges Bild zeichnet. Hobsbawm trägt mit Auslassungen zur Fälschung der Geschichte bei.

Leider sah ich mich in zahlreichen Vorträgen und Essays gezwungen, nicht nur auf Lücken hinzuweisen, sondern drastische Fälschungen historischer Tatsachen zu widerlegen. Bisweilen staunte ich nur noch über die Dreistigkeit, mit der gewisse Personen, die sich Historiker nennen, Behauptungen zu Papier bringen, die nachweislich unwahr sind, und damit der Nachwelt ein Zeugnis ihrer Unaufrichtigkeit in theoretischen Fragen hinterlassen.

Begünstigt wurden die Fälschungspraktiken durch den Einfluss diverser Schulen des Postmodernismus, deren kombinierte Wirkung auf die Geschichtswissenschaften und die Geschichtsschreibung nur als verheerend bezeichnet werden kann. Der Zusammenhang zwischen diesem Rückschritt auf dem Gebiet der Philosophie und der Fälschung der Geschichte kann nicht überbetont werden. Kehren wir noch einmal zu den Arbeiten von Professor Baberowski zurück, der seine Methodik als Schüler von Michel Foucault in seinem Werk »Der Sinn der Geschichte« erläutert:

In Wahrheit hat es der Historiker nicht mit der Vergangenheit zu tun, sondern nur mit ihrer Interpretation. Er kann, was er Wirklichkeit nennt, nicht von den Lebensäußerungen der vergangenen Menschen trennen. Denn es gibt keine Wirklichkeit jenseits des Bewusstseins, das sie produziert. Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, man könne durch die Rekonstruktion der in den Dokumenten vermittelten Ereignisse erfahren, wie die russische Revolution wirklich gewesen ist. Es gibt keine Wirklichkeit ohne ihre Repräsentation. Geschichte betreiben heißt, um es mit Roger Chartier zu sagen, den Betrieb der Repräsentationen zu untersuchen.[25] (Hervorhebung hinzugefügt)

Unter Berufung auf die weitreichendste Aussage des idealistischen Solipsismus – das Leugnen jeder Wirklichkeit außerhalb des Denkens – spricht Baberowski der Geschichtswissenschaft das Recht ab, sich als wahrheitsgetreue Rekonstruktion einer Vergangenheit zu begreifen, die objektiv stattgefunden hat. Die Geschichte, erklärt er uns, ist lediglich ein subjektives Konstrukt. Es gibt keine objektive historische Wahrheit, die gesellschaftliche, ökonomische und politische Gegebenheiten so abbildet, wie sie früher tatsächlich gewesen sind. Diese Art von historischer Wirklichkeit interessiert Baberowski nicht. »›Wahr‹ ist eine Geschichte dann«, so Baberowski, »wenn sie die Prämissen erfüllt, die der Historiker aufgestellt hat«.[26] Diese Degradierung der Geschichte ist ein Freibrief für falsche Erzählungen, die subjektiven Bestrebungen dienen – zum Beispiel der Rehabilitierung von Hitlers verbrecherischem Regime. Nicht zufällig hat sich Professor Baberowski mit Leuten wie Ernst Nolte zusammengetan.

Künftige Generationen werden sich mit der Frage auseinandersetzen, weshalb reaktionäre Philosophen wie Jean-François Lyotard, Richard Rorty und Michel Foucault, deren Begrifflichkeiten der »Rumpelkammer des bürgerlichen Denkens« entlehnt sind,[27] in den letzten Jahrzehnten des 20. und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen derart unverdienten und bedrohlichen Einfluss gewannen. Es würde mich sehr freuen, wenn die hier vorgelegten Vorträge und Artikel, die Themen der Philosophie behandeln, künftigen Forschern dabei helfen, die politische und gesellschaftliche Pathologie des krankhaften Postmodernismus zu verstehen.

Die polemische Herangehensweise des vorliegenden Bandes ist meines Erachtens dem Thema und unserer Zeit angemessen. Die Geschichte ist zum Schlachtfeld geworden. »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden«, schrieb Marx.[28] Im 15. Jahr des neuen Jahrhunderts können sich weder Politiker noch Historiker vom Alp des vorigen Jahrhunderts befreien. Die ständig zunehmenden Konflikte und Krisen des 21. Jahrhunderts sind ausnahmslos mit Auseinandersetzungen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben. Je stärker aktuelle politische Kämpfe an historische Fragen rühren, desto offener wird der Umgang mit ihnen durch politische Erwägungen bestimmt. Die Vergangenheit wird im Interesse der heutigen politischen Reaktion gefälscht. Möge dieses Buch, indem es zumindest einige der dreistesten Geschichtsfälschungen über das 20. Jahrhundert widerlegt, in den revolutionären Kämpfen der Zukunft als Waffe dienen.

Das Material in diesem Band ist mit wenigen Ausnahmen chronologisch angeordnet. Auf diese Weise kann der Leser verfolgen, wie sich die Arbeit des Internationalen Komitees der Vierten Internationale über zwanzig Jahre hinweg entwickelt hat. Bei Bedarf habe ich im üblichen Rahmen stilistische Veränderungen vorgenommen, um die vor Publikum gehaltenen Vorträge aus der gesprochenen in die etwas gehobenere schriftliche Sprache zu übertragen.

Die Vorträge und Essays gewannen durch die intensive Zusammenarbeit mit Genossen und Mitstreitern der trotzkistischen Bewegung weltweit und in den USA. Die tragische und leidvolle Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ist seit nahezu 40 Jahren ein Thema meiner Diskussionen mit Ulrich Rippert, dem nationalen Sekretär der Partei für Soziale Gleichheit. Zu Dank verpflichtet bin ich Frederick S. Choate, auf dessen Kenntnisse der russischen und sowjetischen Geschichte ich seit vielen Jahren zurückgreifen darf. Ich danke dem unermüdlichen Redaktionsteam von Mehring Books, Jeannie Cooper und Heather Jowsey, denen es gelungen ist, alle Bestandteile zu einem zusammenhängenden und sorgfältig erschlossenen Band zusammenzuführen. Danken möchte ich auch Linda Tenenbaum von der Socialist Equality Party in Australien, die zahlreiche der hier vorgelegten Texte von der Entwurfs- bis zur Endfassung gegengelesen hat.

Abschließend darf nicht unerwähnt bleiben, welchen Beitrag der mittlerweile verstorbene sowjetrussische Historiker und Soziologe Wadim Rogowin zur historischen Arbeit des Internationalen Komitees geleistet hat. Wir trafen uns zum ersten Mal im Februar 1993 in Kiew. Damals hatte er soeben eine Studie mit dem Titel »Gab es eine Alternative?« abgeschlossen, die den Kampf der Linken Opposition gegen die stalinistische Herrschaft in den Jahren 1923 bis 1927 behandelte. Nach unseren Diskussionen in Kiew und in Moskau entschied sich Wadim, gemeinsam mit dem Internationalen Komitee an einer »internationalen Gegenoffensive gegen die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung« zu arbeiten. Obwohl er 1994 unheilbar an Krebs erkrankte, hielt er rund um die Welt Vorträge auf Versammlungen, die das Internationale Komitee ausrichtete. Wadims Studien von Leo Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus umfassten am Ende sieben Bände. Seit 1991 ist bis heute kein Buch über die Sowjetunion erschienen, das diesem Meisterwerk der historischen Literatur stilistisch und inhaltlich auch nur annähernd gleichkommt.

Im Januar 1998 teilte ich zum letzten Mal mit Wadim das Rednerpult. Er war mit seiner Frau Galja nach Sydney gereist, um auf einer Veranstaltung zu sprechen, zu der die Socialist Equality Party in Australien einlud. Zum Abschluss seines Vortrags erklärte er, dass er den letzten Band seines historischen Werks dem Internationalen Komitee widme. Acht Monate später, am 18. September 1998, verstarb Wadim im Alter von 61 Jahren. Dem Andenken an diesen Kämpfer für die historische Wahrheit ist der vorliegende Band gewidmet.

David North

12. Juli 2014


[1]

»The National Interest«, Nr. 19 (Sommer 1989), S. 3 (aus dem Englischen).

[2]

Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 83f.

[3]

Ebd., S. 397.

[4]

Martin Malia, Vollstreckter Wahn. Russland 1917–1991, Stuttgart 1994, S. 581.

[5]

Ebd.

[6]

Ebd., S. 261.

[7]

Ebd., S. 289.

[8]

Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 20.

[9]

Ebd., S. 23.

[10]

Ebd., S. 720.

[11]

J.A. Hobson, Der Imperialismus, Köln/Berlin 1968, S. 112.

[12]

Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Berlin 1955, S. 558f.

[13]

W.I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus«, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1972, S. 102f.

[14]

Leo Trotzki, »Der Krieg und die Internationale«, in: Europa im Krieg, Essen 1998, S. 377f.

[15]

Rosa Luxemburg, »Die Krise der Sozialdemokratie«, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1990, S. 62.

[16]

Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 263.

[17]

Übersetzt aus: http://www.bbc.com/news/world-27921938, aufgerufen am 4.9.2014.

[18]

Ernst Nolte, »Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus? Das Dritte Reich im Blickwinkel des Jahres 1980«, in: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1995, S. 32, 34.

[19]

Ebd., S. 24.

[20]

Ernst Nolte, Martin Heidegger: Politik und Geschichte im Leben und Denken, Berlin/Frankfurt a.M. 1992, S. 123.

[21]

Dirk Kurbjuweit, »Der Wandel der Vergangenheit«, in: Der Spiegel 10.2.2014, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-124956878.html, aufgerufen am 8.8.2014.

[22]

Ebd.

[23]

Ebd.

[24]

Eric Hobsbawm, Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?, München/Wien 2005, S. 22.

[25]

Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte: Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005, S. 22.

[26]

Ebd., S. 9.

[27]

Dieser Ausdruck stammt von G.W. Plechanow.

[28]

Karl Marx, »Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 1972, S. 115.