David North
Das Erbe, das wir verteidigen

James P. Cannons »Offener Brief«

Bei aller Heftigkeit von Bandas Schmähungen gegen den »Offenen Brief« wird der Leser seiner »27 Gründe« vergeblich nach einer Analyse dieses Dokuments suchen. Er beschimpft ihn als »Epistel von den Philistern des ›orthodoxen Trotzkismus‹«, »arrogantes Ultimatum«, »opportunistische Reaktion« und »zweideutiges und ehrloses Manöver«. Aber er sagt nichts über den politischen Inhalt des »Offenen Briefs«. Er sagt nicht, ob er mit dessen Zusammenfassung der Prinzipien des Trotzkismus übereinstimmt oder nicht; ob er dessen Charakterisierung von Pablos Linie als revisionistisch zustimmt oder nicht, bzw. wie er zu der Feststellung steht, dass es unversöhnliche Gegensätze zwischen Trotzkismus und Pablismus gibt. Banda erklärt uns nicht einmal, weshalb er 1953 den »Offenen Brief« unterstützte.

Banda kann über Cannon schreiben, was er will. Er kann auf all seine persönlichen Fehler und politischen Grenzen hinweisen. Aber er bleibt uns immer noch die Antwort schuldig, was an dem politischen Inhalt des »Offenen Briefs« prinzipienlos oder revisionistisch war. Die Tatsache, dass er diese Antwort nicht gibt, zeigt, dass er an die Geschichte der Vierten Internationale auf subjektive, prinzipienlose und reaktionäre Art und Weise herangeht.

1939 legten Shachtman, Abern und Burnham in ihrem berüchtigten Dokument »Krieg und bürokratischer Konservatismus« (»War and Bureaucratic Conservatism«) eine lange Liste von Cannons persönlichen Schwächen, Fehlern und Missetaten vor. Trotzki war nicht im Geringsten beeindruckt und völlig desinteressiert. Er antwortete: »Cannon repräsentiert die proletarische Partei im Prozess ihres Aufbaus. Historisch liegt das Recht in diesem Kampf – unabhängig davon, welche Irrtümer und Fehler gemacht wurden – voll und ganz auf der Seite Cannons.«[1]

Wäre es falsch gewesen, die Cannon-Tendenz 1953 genauso einzuschätzen? Vertraten inzwischen Pablo und Mandel »die proletarische Partei im Prozess ihres Aufbaus«? Wenn man von den Irrtümern und Fehlern absieht, die selbst der größte Marxist in jedem schwierigen und komplexen Kampf macht, auf welcher Seite war 1953 das historische Recht? Wer vertrat, unabhängig von persönlichen Schwächen, die Klasseninteressen des Proletariats? Hätte es die Vierte Internationale gestärkt, wenn Cannon nicht gegen Cochran gekämpft, Pablos Linie nicht herausgefordert und den »Offenen Brief« nicht geschrieben hätte? Wäre der Trotzkismus aufgeblüht, wenn Pablos »entristische« Linie der Liquidierung in die stalinistischen Parteien verwirklicht worden wäre? Banda vermeidet diese Fragen, denn die Antworten wären eine vernichtende Widerlegung seines Angriffs auf den »Offenen Brief«. Die Tatsache, dass Banda den »Offenen Brief« ablehnt, jedoch kein Wort über die liquidatorischen Positionen verliert, die Cannon bekämpfte, beweist, dass er den Trotzkismus selbst angreift.

Beinahe 33 Jahre, nachdem er verfasst wurde, ist der »Offene Brief« immer noch ein herausragendes und außerordentlich zeitgemäßes Dokument. Er fasst alle wesentlichen Fragen zusammen, die im Kampf gegen das pablistische Liquidatorentum aufkamen. Er begann folgendermaßen:

Am 25. Jahrestag der Gründung der trotzkistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten grüßt die Vollversammlung des Nationalkomitees der Socialist Workers Party alle orthodoxen Trotzkisten auf der ganzen Welt …

Die amerikanischen trotzkistischen Pioniere machten, wie man weiß, vor 25 Jahren Trotzkis vom Kreml unterdrücktes Programm der Weltöffentlichkeit bekannt. Diese Tat erwies sich als entscheidend, um die Isolation zu durchbrechen, die die stalinistische Bürokratie Trotzki aufgezwungen hatte. Sie legte den Grundstein für die Vierte Internationale. Als Trotzki wenig später ins Exil gehen musste, begann er eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Führung der SWP, die bis zu seinem Tod währte …

Nach dem Mord an Trotzki durch einen Agenten der stalinistischen Geheimpolizei übernahm die SWP die Führungsrolle bei der Verteidigung und Vertretung seiner Lehren. Wir übernahmen die Führung nicht, weil wir sie uns ausgesucht hätten, sondern weil es notwendig war: Der Zweite Weltkrieg zwang die orthodoxen Trotzkisten in vielen Ländern, besonders unter den Nazis in Europa, in den Untergrund zu gehen. Gemeinsam mit den Trotzkisten in Lateinamerika, Kanada, England, Ceylon, Indien, Australien und anderen Ländern taten wir, was wir konnten, um das Banner des orthodoxen Trotzkismus durch diese schwierigen Kriegsjahre hindurch aufrecht zu halten.

Bei Kriegsende waren wir sehr erfreut, als in Europa Trotzkisten aus dem Untergrund auftauchten und die organisatorische Wiedererrichtung der Vierten Internationale in Angriff nahmen. Da uns reaktionäre Gesetze die Mitgliedschaft in der Vierten Internationale verboten, setzten wir umso größere Hoffnungen in das Entstehen einer Führung, die in der Lage wäre, die große Tradition fortzusetzen, die Trotzki unserer Weltbewegung hinterlassen hat. Wir fanden, dass wir der neuen Führung der Vierten Internationale in Europa unser volles Vertrauen und unsere Unterstützung geben mussten. Wenn diese Genossen von sich aus eigene, ernste Fehler berichtigten, fühlten wir uns in unserer Haltung bestätigt.

Heute müssen wir jedoch zugeben, dass eben diese Freiheit von scharfer Kritik, die wir und andere dieser Führung zugestanden, dazu beitrug, eine unkontrollierte, geheime Privatfraktion in der Führung der Vierten Internationale zu stärken, die das grundlegende Programm des Trotzkismus aufgegeben hat.

Diese Fraktion um Pablo arbeitet jetzt bewusst und zielgerichtet daraufhin, die historisch geschaffenen Kader des Trotzkismus in den verschiedenen Ländern aufzulösen, zu spalten und auseinanderzubrechen, um die Vierte Internationale zu zerstören.

Um zu zeigen, worum es geht, wollen wir noch einmal die grundlegenden Prinzipien darlegen, auf denen die trotzkistische Weltbewegung aufgebaut ist:

1. Der Todeskampf des kapitalistischen Systems droht, die Zivilisation durch immer schlimmere Depressionen, Weltkriege und barbarische Erscheinungen wie den Faschismus zu zerstören. Die Entwicklung von Atomwaffen unterstreicht heute diese Gefahr auf das Ernsteste und Nachdrücklichste.

2. Der Sturz in den Abgrund kann nur verhindert werden, indem der Kapitalismus weltweit durch eine sozialistische Planwirtschaft ersetzt und so die Spirale des Fortschritts, die der Kapitalismus in seiner Frühzeit in Gang gesetzt hat, wieder aufgenommen wird.

3. Dies kann nur unter der Führung der Arbeiterklasse geschehen, da sie die einzige wahrhaft revolutionäre Klasse in der Gesellschaft ist. Doch die Arbeiterklasse selbst ist mit einer Krise der Führung konfrontiert, obwohl die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf Weltebene noch nie so günstig wie heute dafür waren, dass die Arbeiter den Weg der Machteroberung beschreiten können.

4. Um sich für die Durchsetzung dieses welthistorischen Zieles zu organisieren, muss die Arbeiterklasse in jedem Land eine revolutionäre Partei nach dem Muster, wie es Lenin entwickelt hat, aufbauen; d. h. eine Kampfpartei, die in der Lage ist, Demokratie und Zentralismus dialektisch zu vereinen, – Demokratie in der Entscheidungsfindung, Zentralismus bei der Durchführung dieser Beschlüsse –, mit einer Führung, die von den einfachen Mitgliedern kontrolliert wird, Mitgliedern, die fähig sind, diszipliniert vorzugehen, auch wenn sie unter Feuer stehen.

5. Das Haupthindernis hierfür ist der Stalinismus, der dadurch, dass er das Ansehen der Oktoberrevolution von 1917 in Russland ausnutzt, Arbeiter anzieht, nur um dann später ihr Vertrauen zu missbrauchen und sie entweder in die Arme der Sozialdemokratie, in Apathie oder zurück zu Illusionen über den Kapitalismus zu treiben. Den Preis für diese Verrätereien hat dann das arbeitende Volk zu zahlen, in Form einer Stärkung faschistischer oder monarchistischer Kräfte und durch neue Kriege, die der Kapitalismus hervorbringt und vorbereitet. Seit ihrer Gründung stellte sich die Vierte Internationale als eine ihrer Hauptaufgaben den Sturz des Stalinismus innerhalb und außerhalb der UdSSR.

6. Viele Sektionen der Vierten Internationale, wie auch Parteien und Gruppen, die mit ihrem Programm sympathisieren, stehen vor der Notwendigkeit einer flexiblen Taktik. Es ist daher umso dringender, dass sie wissen, wie man den Imperialismus und alle seine kleinbürgerlichen Agenturen (wie z. B. nationalistische Organisationen und Gewerkschaftsbürokratien) bekämpft, ohne vor dem Stalinismus zu kapitulieren; dass sie umgekehrt wissen, wie man gegen den Stalinismus kämpft (der letzten Endes eine kleinbürgerliche Agentur des Imperialismus ist), ohne vor dem Imperialismus zu kapitulieren.

Diese grundlegenden Prinzipien, die Leo Trotzki aufgestellt hat, behalten auch in der heutigen, immer komplizierteren und sich verändernden politischen Weltlage ihre volle Gültigkeit. Tatsächlich haben die revolutionären Situationen, die sich, wie Trotzki vorhersah, überall eröffnen, erst jetzt vollen konkreten Inhalt all dem verliehen, was früher als eine Reihe von etwas entrückten, in keinem Zusammenhang mit der damaligen lebendigen Wirklichkeit stehenden Abstraktionen erschienen sein mag. In Wahrheit gewinnen diese Prinzipien zunehmend an Gültigkeit und Stärke, sowohl in der politischen Analyse als auch bei der Bestimmung des Kurses für das praktische Handeln.[2]

Banda erklärt nicht, was er an diesen Sätzen zurückweist. Er lässt uns nicht wissen, ob er glaubt, dass sie schon 1953 falsch waren, oder ob er sie inzwischen für veraltet hält. In diesen Absätzen bekräftigte Cannon die wesentlichen Auffassungen des Trotzkismus über den Charakter der Epoche, die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse, die Krise der revolutionären proletarischen Führung, die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus und die Notwendigkeit, die marxistische Strategie und Taktik des Kampfs um die Staatsmacht zu entwickeln. Durch sein Schweigen über diesen wesentlichen Inhalt des »Offenen Briefs« gibt Banda zu verstehen, dass er ihn keines Kommentars mehr würdig findet, denn er steht inzwischen über dem »dogmatischen Fetisch« des »orthodoxen« Trotzkismus.

Der »Offene Brief« analysierte im Folgenden Pablos Revision des Trotzkismus:

Pablo hat diese Prinzipien aufgegeben. Anstatt die Gefahr einer neuen Barbarei herauszustreichen, hält er die Entwicklung zum Sozialismus für »unaufhaltsam«, und doch sieht er den Sozialismus nicht für unsere Generation oder eine der nächsten Generationen kommen. Stattdessen vertritt er das Konzept einer »alles überflutenden« Welle von Revolutionen, die nichts als »deformierte« Arbeiterstaaten, d. h. Arbeiterstaaten des stalinistischen Typus, hervorbringen, die dann »jahrhundertelang« weiterbestehen.

Damit verrät er den größtmöglichen Pessimismus, was die Fähigkeiten der Arbeiterklasse betrifft. Das liegt völlig auf einer Linie mit dem Spott, mit dem er kürzlich den Kampf für den Aufbau unabhängiger revolutionärer sozialistischer Parteien bedachte. Anstatt am Hauptkurs festzuhalten und mit allen taktischen Mitteln unabhängige revolutionäre sozialistische Parteien aufzubauen, blickt er auf die stalinistische Bürokratie oder einen entscheidenden Teil dieser Bürokratie, ob sie sich nicht unter dem Druck der Massen dazu bringen lasse, sich zu verändern und die »Ideen« und das »Programm« des Trotzkismus anzunehmen. Unter dem Deckmantel der Diplomatie, die bei taktischen Manövern erforderlich sei, um in Ländern wie Frankreich Arbeiter im Lager des Stalinismus zu erreichen, deckt er jetzt den Verrat des Stalinismus.

Dieser Kurs hat bereits zu schwerwiegenden Desertionen aus den Reihen des Trotzkismus in das Lager des Stalinismus geführt. Die prostalinistische Abspaltung in der ceylonesischen Partei muss jedem Trotzkisten auf der ganzen Welt als ernste Warnung vor den tragischen Folgen der Illusionen über den Stalinismus dienen, die der Pablismus heranzüchtet.[3]

Das Dokument untersuchte die Reaktion der Pablisten auf wichtige Ereignisse des Jahres 1953 und wies in jedem Einzelfall nach, dass ihre Politik eine Kapitulation vor dem konterrevolutionären Kurs der sowjetischen Bürokratie darstellte.

Nach dem Tode Stalins kündigte der Kreml eine Reihe von Zugeständnissen an, darunter kein einziges politisches. Anstatt sie lediglich als Bestandteil eines Manövers zu bezeichnen, mit dessen Hilfe die Usurpatorenbürokratie ihre Macht nur noch gründlicher befestigen und sich darauf vorbereiten wollte, einen anderen führenden Bürokraten in den Mantel Stalins schlüpfen zu lassen, nahm die pablistische Fraktion die Zugeständnisse für bare Münze, stellte sie als politische Zugeständnisse hin und fasste sogar die Möglichkeit einer »Machtteilung« zwischen der stalinistischen Bürokratie und den Arbeitern ins Auge. (»Fourth International«, Januar–Februar 1953, S. 13)

Das Konzept der »Machtteilung«, wie es Clarke, ein Hohepriester des Pablo-Kultes, am offensten vertritt, hat Pablo selbst in einer rhetorischen Fangfrage abgesegnet: Werde die Liquidierung der stalinistischen Bürokratie, fragt Pablo, etwa nicht »die Form heftiger innerbürokratischer Kämpfe annehmen zwischen den Elementen, die für den Status quo oder sogar für einen Rückschritt eintreten, und den immer zahlreicheren Elementen, die von dem mächtigen Druck der Massen getrieben werden?« (»Fourth International«, März–April 1953, S. 39)

Diese Worte geben dem orthodoxen trotzkistischen Programm der politischen Revolution einen neuen Inhalt, nämlich die revisionistische Position, dass die »Ideen« und das »Programm« des Trotzkismus in die Bürokratie einsickern und sich in ihr oder in einem beträchtlichen Teil von ihr verbreiten und so den Stalinismus auf unvorhergesehene Weise »stürzen« würden.

Im Juni haben sich die Arbeiter in einer der größten Demonstrationen der deutschen Geschichte gegen die stalinistisch geführte Regierung in Ostdeutschland erhoben. Es war der erste proletarische Massenaufstand gegen den Stalinismus, seit er in der Sowjetunion die Macht an sich gerissen und gefestigt hat. Wie reagierte nun Pablo auf dieses epochemachende Ereignis?

Anstatt klar und deutlich die revolutionären Hoffnungen der aufständischen ostdeutschen Arbeiter zum Ausdruck zu bringen, deckte Pablo die konterrevolutionären stalinistischen Statthalter, die sowjetische Truppen einsetzten, um den Aufstand niederzuschlagen: »… konnten die sowjetischen Führer und die Führer der verschiedenen ›Volksdemokratien‹ und der Kommunistischen Parteien die weitreichende Bedeutung dieser Ereignisse nicht länger verfälschen oder ignorieren. Sie sahen sich gezwungen, noch weiter gehende und ehrlichere Zugeständnisse zu machen, um nicht Gefahr zu laufen, endgültig die Unterstützung der Massen zu verlieren und noch heftigere Explosionen zu provozieren. Sie werden in Zukunft nicht wieder auf halbem Wege stehen bleiben können. Sie werden gezwungen sein, in kleinen Portionen Zugeständnisse zu machen, um schwerere Explosionen in unmittelbarer Zukunft zu verhindern und nach Möglichkeit ›auf kaltem Wege‹ die gegenwärtige Situation in eine für die Massen erträglichere Situation umzuwandeln.« (»Erklärung des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale«, veröffentlicht in »The Militant« vom 6. Juli)

Anstatt den Rückzug der sowjetischen Truppen – der einzigen Kraft, die die stalinistische Regierung an der Macht hielt – zu fordern, nährte Pablo die Illusion, die Gauleiter des Kremls würden »noch weiter gehende und ehrlichere Zugeständnisse« machen. Hätte Moskau sich eine bessere Unterstützung wünschen können, als es begann, die enorme Bedeutung jener Ereignisse auf das Ungeheuerlichste zu verfälschen, die aufständischen Arbeiter als »Faschisten« und »Agenten des amerikanischen Imperialismus« zu verleumden und eine Welle brutaler Unterdrückung gegen sie zu entfesseln?[4]

Es kann kein Zufall sein, dass Banda uns nicht wissen lässt, ob er mit dieser Einschätzung von Pablos Kapitulation vor dem Stalinismus bei einem so bedeutenden Ereignis wie dem Aufstand in der DDR – dem historischen Vorläufer der ungarischen Revolution – übereinstimmt. »Schweigen bedeutet Billigung.« Er verliert kein Wort über Pablos gewaltigen Verrat und richtet sein Feuer gegen diejenigen, die diese politischen Verbrechen brandmarkten. Dies kann nichts anderes bedeuten, als dass er heute Positionen vertritt – oder, genauer gesagt, privat schon seit geraumer Zeit ­Positionen vertritt –, die mit Pablos Einschätzung der historischen Rolle der sowjetischen Bürokratie übereinstimmen.

Als Nächstes untersuchte der »Offene Brief«, wie die Pablisten den französischen Generalstreik im August 1953 verrieten.

In Frankreich brach im August der größte Generalstreik in der Geschichte des Landes aus. Gegen den Willen ihrer offiziellen Führung von den Arbeitern selbst in Gang gesetzt, war er eine der günstigsten Ausgangspositionen in der Geschichte der Arbeiterklasse, um einen wirklichen Kampf um die Macht aufzunehmen. Die Bauern Frankreichs schlossen sich den Arbeitern in Demonstrationen an, in denen sie ihre starke Unzufriedenheit mit der kapitalistischen Regierung zum Ausdruck brachten.

Die offizielle Führung, Sozialdemokraten wie Stalinisten, verrieten diese Bewegung und taten ihr Äußerstes, um sie zurückzuhalten und den französischen Kapitalismus in Schutz zu nehmen. Man kann in der Geschichte schwerlich einen scheußlicheren Verrat finden, wenn man in Betracht zieht, welche Möglichkeiten vorhanden waren.

Wie reagierte die Pablo-Fraktion auf dieses kolossale Ereignis? Sie bezeichnete das Vorgehen der Sozialdemokraten als Verrat – aber aus falschen Gründen. Der Verrat, erklärte sie, bestehe darin, dass sie hinter dem Rücken der Stalinisten Verhandlungen mit der Regierung aufnahmen. Dieser Verrat war jedoch nur eine Folgeerscheinung ihres Hauptverbrechens, nämlich der Weigerung, den Weg der Machteroberung zu beschreiten.

Den Verrat der Stalinisten hingegen deckten die Pablisten. Dadurch beteiligten sie sich am stalinistischen Verrat. Die schärfste Kritik, die sie gegen den konterrevolutionären Kurs der Stalinisten äußern zu können glaubten, war der Vorwurf, sie hätten keine Politik gehabt.

Das war eine Lüge. Den Stalinisten fehlte nicht etwa eine Politik. Ihre Politik bestand gerade darin, im Interesse der Außenpolitik des Kremls den Status quo aufrechtzuerhalten und den angeschlagenen französischen Kapitalismus zu stützen.

Aber damit nicht genug. Selbst auf einer parteiinternen Schulung der französischen Trotzkisten weigerte sich Pablo, die Rolle der Stalinisten als Verrat zu bezeichnen. Er stellte fest, »die Führungen der traditionellen Organisationen haben mehr oder weniger eine Bremserrolle gespielt« (ein Verrat ist also nichts weiter als eine »Bremse«!), »aber auch die Fähigkeit bewiesen – und zwar besonders die stalinistische Führung –, unter dem Druck der Massen nachzugeben, wenn dieser Druck so stark wird wie während dieses Streiks«. (»Politische Anmerkung Nr. 1«)

Man sollte meinen, damit habe ein Führer, der den orthodoxen Trotzkismus aufgegeben hat, aber immer noch den Schutz der Vierten Internationale sucht, dem Stalinismus gegenüber genügend Versöhnlichkeit bewiesen. Doch Pablo ging noch weiter.

In einem an die Renault-Arbeiter in Paris gerichteten Flugblatt seiner Anhänger heißt es, die stalinistische Führung der CGT (des größten französischen Gewerkschaftsbundes) habe während des Generalstreiks »richtig gehandelt, als sie keine anderen als die von den Arbeitern verlangten Forderungen aufstellte«. Und das angesichts der Tatsache, dass die Arbeiter durch ihre Aktionen eine Arbeiter- und Bauernregierung forderten.[5]

An anderer Stelle in seinen »27 Gründen« greift Banda die Rolle der OCI in den Ereignissen vom Mai–Juni 1968 an: »Tatsache ist, dass die OCI den Generalstreik verriet und alle Traditionen und Prinzipien des Trotzkismus verleugnete, indem sie sich halsstarrig weigerte, Übergangsforderungen zu stellen und den Kampf um die Macht voranzutreiben.« Aber er verliert kein Wort über den weit größeren Verrat der Pablisten in einer ähnlichen Situation 1953. Stattdessen greift er diejenigen an, die das Augenmerk der internationalen trotzkistischen Bewegung auf den Verrat des Generalstreiks durch die Pablisten lenkten.

Nach seiner Analyse der Rolle der Pablisten im August 1953 befasste sich der »Offene Brief« mit dem Renegatentum der Cochran-Anhänger:

Der Test durch diese Weltereignisse hat unserer Meinung nach hinlänglich gezeigt, wie weit die Versöhnungsbereitschaft des Pablismus gegenüber dem Stalinismus geht. Trotzdem möchten wir der trotzkistischen Weltbewegung noch einige zusätzliche Tatsachen vorlegen.

Seit mehr als anderthalb Jahren führt die Socialist Workers Party einen Kampf gegen eine von Cochran und Clarke geführte revisionistische Tendenz. Der Kampf gegen diese Tendenz ist einer der härtesten in der Geschichte unserer Partei. Er dreht sich letztlich um dieselben Grundfragen, die uns am Anfang des Zweiten Weltkriegs von der Gruppe um Burnham und Shachtman und am Ende des Kriegs von der Morrow-Goldman-Gruppe trennten. Wieder wird versucht, unser grundlegendes Programm zu revidieren und aufzugeben. Es geht um die Perspektive der amerikanischen Revolution, den Charakter und die Rolle der revolutionären Partei und ihrer Organisationsmethoden und um die Perspektiven der trotzkistischen Weltbewegung.

In der Nachkriegsperiode hat sich in der amerikanischen Arbeiterbewegung eine mächtige Bürokratie festgesetzt. Diese Bürokratie stützt sich auf eine breite Schicht privilegierter, konservativer Arbeiter, die unter den Bedingungen des kriegsbedingten Wirtschaftsaufschwungs »gemäßigter« geworden sind. Diese neue, privilegierte Schicht stammt zum großen Teil aus den Reihen der ehemals kämpferischen Schichten der Arbeiterklasse, aus derselben Generation, die die CIO gründete.

Die relative Sicherheit und Stabilität ihrer Lebensbedingungen haben die Initiative und den Kampfgeist dieser Arbeiter, die früher an der Spitze aller militanten Klassenaktionen standen, zeitweilig gelähmt.

Der Cochranismus ist ein Ausdruck des Drucks dieser neuen Arbeiter­aristokratie und ihrer kleinbürgerlichen Ideologie auf die proletarische Avantgarde. Die Stimmungen und Tendenzen dieser passiven, relativ zufriedenen Schicht von Arbeitern wirken als ein machtvoller Mechanismus, der den Druck feindlicher Kräfte in unsere Bewegung überträgt. Die Parole der Cochranisten, »Werft den alten Trotzkismus auf den Müll«, ist ein Ausdruck dieser Stimmung.

Die Cochran-Tendenz betrachtet das mächtige revolutionäre Potenzial der amerikanischen Arbeiterklasse als etwas, womit man erst in ferner Zukunft rechnen kann. Die marxistische Analyse, die die molekularen Prozesse aufzeigt, aus denen neue Kampfregimenter des amerikanischen Proletariats hervorgehen werden, lehnt sie als »sektiererisch« ab.

Soweit sie überhaupt irgendwelche fortschrittlichen Tendenzen in der Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten sehen, dann nur in den Reihen oder dem Umfeld des Stalinismus oder bei »gut ausgebildeten« Gewerkschaftspolitikern – den Rest der Klasse halten sie für so hoffnungslos verschlafen, dass ihn nur ein Atomkrieg wecken könnte.

Kurz gesagt verrät ihre Position: kein Vertrauen mehr in die Perspektive der amerikanischen Revolution, kein Vertrauen mehr in die Rolle der revolutionären Partei im Allgemeinen und der Socialist Workers Party im Besonderen.[6]

Banda zieht es vor, sich nicht zu dieser Analyse über die Cochran-Tendenz zu äußern, denn deren Auffassungen kommen seinen eigenen sehr nahe. Sie lehnten den »Offenen Brief« mehr als 30 Jahre früher als Banda ab. Sie behaupteten, er entstamme einer »Traumwelt«, in der »der heutige kleine Kern sich morgen in revolutionäre Massenparteien verwandelt, die alle Gegner herausfordern und sie auf dem Schlachtfeld vernichten werden«.[7] Sie erklärten, die Traditionen und das Programm der Vierten Internationale seien »für die heutigen Arbeiterbewegungen nicht von Interesse«, und »die revolutionären Parteien von morgen werden nicht trotzkistisch sein in dem Sinne, dass sie sich unbedingt der Tradition unserer Bewegung, unserer Einschätzung von Trotzkis Platz in der Hierarchie der Revolutionäre oder jeder einzelnen Auffassung und Parole Trotzkis anschließen«.[8]

Der »Offene Brief« dokumentierte des Weiteren Pablos Autoritätsmissbrauch. Als Erstes zeigte er auf, wie er heimlich mit Cochran und Clarke zusammenarbeitete, um eine revisionistische Tendenz in der Socialist Workers Party aufzubauen, während er nach außen hin vorgab, gegen prinzipienlosen Fraktionalismus zu kämpfen. Dann rechnete er mit Pablos Versuch ab, der Führung der britischen Sektion mit Hilfe einer »Komiteedisziplin« im Stil der Komintern einen Maulkorb umzuhängen. Schließlich dokumentierte er den bürokratischen Ausschluss der Mehrheit der französischen Sektion 1952, wobei die SWP ausdrücklich einräumte, dass es falsch war, nicht früher gegen Pablos beispiellose Aktion vorzu­gehen:

Dieser Fehler ist darauf zurückzuführen, dass wir nur unzureichend verstanden, um welche Fragen es ging. Wir dachten, es gehe um taktische Differenzen, und deswegen stellten wir uns auf Pablos Seite, obwohl wir sein organisatorisches Vorgehen missbilligten, als nach einem monatelangen verheerenden Fraktionskampf die Mehrheit ausgeschlossen wurde.

Doch im Grunde waren die Differenzen programmatischer Natur. In Wirklichkeit erkannten die französischen Genossen der Mehrheit klarer als wir, was gespielt wurde …

Die gesamte Situation in Frankreich muss im Lichte der darauf folgenden Entwicklung neu untersucht werden. Die Rolle der Mehrheit der französischen Sektion im vergangenen Generalstreik zeigt in aller Deutlichkeit, dass sie die grundlegenden Prinzipien des orthodoxen Trotzkismus zu verteidigen weiß. Die französische Sektion der Vierten Internationale wurde ungerechtfertigt ausgeschlossen. In der französischen Mehrheit um die Zeitung »La Vérité« sind die wirklichen Trotzkisten Frankreichs, und sie werden von der SWP offiziell als solche anerkannt.[9]

Pablos organisatorische Methoden lagen nicht in persönlichen Fehlern, sondern im liquidatorischen Kurs des Internationalen Sekretariats begründet. Die Rolle der WRP innerhalb des Internationalen Komitees seit den frühen siebziger Jahren hat erneut bewiesen, dass der Versuch, der Vierten Internationale eine liquidatorische Linie aufzuzwingen, immer mit der Anwendung niedriger und fraktioneller Methoden gegen den trotzkistischen Kader verbunden sein muss. Healy, Banda und Slaughter entwickelten die Methoden, die Pablo dreißig Jahre zuvor benutzt hatte, bis zur Perfektion. Es überrascht daher nicht, dass Banda Cannons Anklage gegen Pablos organisatorische Methoden lieber übergeht.

Der »Offene Brief« kam dann auf einen Aspekt von Pablos Opportunismus zu sprechen, der bisher zu wenig beachtet wurde:

Besonders empörend ist die verleumderische Falschdarstellung, die Pablo über die politische Position der chinesischen Sektion der Vierten Internationale verbreitet. Die Pablo-Fraktion stellte sie als »Sektierer« und »Flüchtlinge vor der Revolution« hin.

Im Gegensatz zu dem von der Pablo-Fraktion bewusst geschaffenen Eindruck haben die chinesischen Trotzkisten als wirkliche Vertreter des chinesischen Proletariats gehandelt. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie von Maos Regime verfolgt wurden, genau wie Stalin die gesamte Generation von Lenins Bolschewiki in der UdSSR hinrichten ließ und damit den Noskes und Scheidemanns nacheiferte, die die Luxemburgs und Liebknechts der Revolution von 1918 hinrichten ließen. Doch Pablos versöhnlerische Linie gegenüber dem Stalinismus führt ihn unweigerlich dazu, das Mao-Regime schönzufärben und die prinzipielle Haltung unserer chinesischen Genossen mit Schmutz zu bewerfen.[10]

Banda äußert sich zwar nicht zu diesem Abschnitt, aber es steht außer Zweifel, dass er in dieser Frage vollständig mit Pablo übereinstimmt. Wie sich in seinem früheren Hinweis auf die »totale Unfähigkeit« der Vierten Internationale, die chinesische Revolution zu verstehen, zeigt, hält Banda den Maoismus nicht nur für eine taugliche Alternative zum Trotzkismus; er ist vielmehr der Überzeugung, dass er gegenüber der Vierten Internationale einen Fortschritt darstellt. Die Wurzeln dieser Position liegen darin, dass er den Klassenstandpunkt des revolutionären Proletariats vollständig aufgegeben hat.

Bandas kleinbürgerliche Auffassung der Revolution lässt das Element aus, das im Zentrum der gesamten marxistischen Auffassung des Klassenkampfs steht, d. h. die Diktatur des Proletariats. Banda bildet sich wirklich ein, »die Macht kommt aus den Gewehrläufen«, und dieser dumme Aphorismus – der vom Standpunkt der wissenschaftlichen Politik ebenso sinnlos ist wie vom Standpunkt der wissenschaftlichen Ballistik – dient ihm als theoretische Begründung für seinen Glauben, der bewaffnete Kampf sei die grundlegende Strategie des Marxismus.[11]

Der »Offene Brief« schloss mit folgenden Worten:

Wir fassen zusammen: Der Graben zwischen Pablos Revisionismus und dem orthodoxen Trotzkismus ist so tief, dass weder ein politischer noch ein organisatorischer Kompromiss möglich ist. Die Pablo-Fraktion hat bewiesen, dass sie das Zustandekommen von demokratischen Entscheidungen, die wirklich die Meinung der Mehrheit widerspiegeln, nicht zulassen wird. Sie verlangen die vollständige Unterordnung unter ihre verbrecherische Politik. Sie sind entschlossen, alle orthodoxen Trotzkisten aus der Vierten Internationale zu vertreiben oder ihnen einen Maulkorb und Handschellen zu verpassen.

Sie haben geplant, ihr Versöhnlertum gegenüber dem Stalinismus stückweise einzuschleusen und ebenso stückweise sich derer zu entledigen, die durchschauen, was vor sich geht, und Widerspruch anmelden. Das ist die Erklärung für die merkwürdige Doppeldeutigkeit vieler pablistischer Formulierungen und diplomatischer Ausflüchte.

Bis jetzt hatte die Fraktion Pablos mit diesen prinzipienlosen und machiavellistischen Manövern einen gewissen Erfolg. Doch inzwischen ist eine qualitative Veränderung eingetreten. Die politischen Fragen haben den Schleier der Manöver zerrissen, und es findet ein offener Entscheidungskampf statt.

Wenn wir den Sektionen der Vierten Internationale von unserer Position aus, die erzwungenermaßen außerhalb der Mitgliedschaft liegt, einen Rat geben dürfen, so meinen wir, dass es Zeit ist zu handeln – entschlossen zu handeln. Es ist Zeit, dass die orthodox-trotzkistische Mehrheit der Vierten Internationale ihren Willen gegen Pablos Machtanmaßung durchsetzt.

Darüber hinaus sollte sie die administrative Leitung der Vierten Internationale sicherstellen, indem sie Pablo und seine Handlanger ihrer Ämter enthebt und sie durch Kader ersetzt, die in der Praxis bewiesen haben, dass sie den orthodoxen Trotzkismus zu verteidigen und die Bewegung politisch und organisatorisch auf einem richtigen Kurs zu halten wissen.[12]

Eine prinzipielle Kritik an der Berechtigung des »Offenen Briefs« müsste nachweisen, dass Cannons Worte über den »Graben zwischen Pablos Revisionismus und dem orthodoxen Trotzkismus« entweder übertrieben oder überhaupt falsch waren. Banda müsste zeigen, dass ein Kompromiss im Interesse der Arbeiterklasse sowohl möglich als auch wünschenswert gewesen wäre. Weil dies auf der Grundlage einer ehrlichen Darstellung der Geschichte nicht möglich ist, muss Banda wieder einmal zu unverschämten Lügen Zuflucht nehmen. Er bringt folgende unglaubliche Aussage vor: »Ich fordere North und seine Lakaien im IK heraus, ein einziges Dokument, eine Resolution oder ein Memorandum vorzulegen, das die Wurzeln und Ursachen der Spaltung theoretisch darzulegen versucht. Er wird keines finden. Das ist das größte Urteil gegen das IK, und aus diesem Grund werde zumindest ich diese Anrufung der Autorität des IK mit der Verachtung, dem Mitleid und der Wut behandeln, die sie verdient.« (Betonung im Original)

Die schriftliche Dokumentation des Kampfs von 1953 schneidet außerordentlich gut ab im Vergleich zu den beiden Spaltungen in der Workers Revolutionary Party, an denen M. Banda direkt beteiligt war: dem Ausschluss von Alan Thornett 1974 und dem Bruch der WRP mit Healy 1985. Die ganze Thornett-Affäre dauerte kaum länger als sechs Wochen. In diesem Kampf behauptete Banda, er habe Thornetts »Menschewismus« mit einem einzigen kurzen Dokument »entlarvt«, an dem einzig auffällt, wie es das Recht der Mehrheit verteidigt, die Parteistatuten entsprechend den fraktionellen Bedürfnissen der Führung umzuändern. Und in dem Blutbad von 1985 verkündete Banda hocherhobenen Haupts, die Partei habe sich »nicht wegen taktischer und programmatischer Fragen gespalten, sondern wegen der grundlegenden Frage der revolutionären Moral«.[13]

Im Gegensatz dazu gibt es kaum politische Kämpfe, die so ausführlich dokumentiert sind wie die Spaltung in der Vierten Internationale 1953. Bandas »Herausforderung« kann man mit Leichtigkeit erledigen. Wenn man alle Dokumente von 1951 bis 1954 veröffentlichen würde, die sich mit den Wurzeln des Pablismus und der Entwicklung der Spaltung befassen, dann würden sie mehrere Bände mit insgesamt weit über 1000 Seiten füllen.

Es gab in Wirklichkeit Mengen von Dokumenten, Resolutionen, Memoranda und Briefen, anhand derer der Kader der trotzkistischen Bewegung – besonders in der Socialist Workers Party – sorgfältig und genau alle politischen Fragen verfolgen konnte, die nach dem Dritten Weltkongress aufkamen.

Zu den wichtigsten Dokumenten, die Pablos revisionistische Einstellung gegenüber dem Stalinismus analysierten, zählt »Einige Bemerkungen zu ›Aufstieg und Fall des Stalinismus‹« von Morris Stein und das »Memorandum zu ›Aufstieg und Niedergang des Stalinismus‹« von John G. Wright. Diese beiden Dokumente zusammengenommen waren eine vernichtende Widerlegung von Pablos »neuer Realität« und wiesen nach, dass er restlos die wesentlichen programmatischen Auffassungen verworfen hatte, auf denen die Gründung der Vierten Internationale beruhte.

Dem »Offenen Brief« vom November 1953, der, wie wir gesehen haben, in extrem knapper Form die zentralen Fragen von Prinzipien, Programm und Organisation zusammenfasste, um die es in der Spaltung ging, folgte ein ausführlicheres Dokument des Plenums zum 25. Jahrestag der SWP, »Gegen den pablistischen Revisionismus«.

Ein weiteres außerordentlich wichtiges Dokument, das Pablos kriminellen Missbrauch der chinesischen trotzkistischen Bewegung und seine widerwärtige Anpassung an den Maoismus entlarvte, war »Die chinesische Erfahrung mit dem pablistischen Revisionismus und Bürokratismus« von Peng Shuzhi.

Viele Dokumente von entscheidender Bedeutung wurden in der Vierten Internationale zunächst in der Form von Briefen verfasst. Cannons umfangreicher Briefwechsel mit Sam Gordon, Healy, Leslie Goonewardene und George Breitman ist eine unschätzbare historische Dokumentation der Spaltung und bietet einen hervorragenden Einblick in die politischen und historischen Fragen, die im Kampf gegen den Pablismus be­inhaltet waren.

Zu den wichtigsten Briefen, die Cannon über die Bedeutung und die Folgen der Spaltung schrieb, zählt sein Schreiben an Leslie Goonewardene, den Sekretär der Lanka Sama Samaja Party in Sri Lanka, vom 23. Februar 1954. Besonders wichtig ist dieser Brief im Hinblick auf Bandas Hetze gegen den »Offenen Brief«. Obwohl Banda es lieber verschweigen möchte, ist sein heutiger Angriff auf den »Offenen Brief« zum Teil eine verspätete Verteidigung der völlig prinzipienlosen Position, die die LSSP in der Spaltung mit den Pablisten bezog. Bandas Anrufung organisatorischer Kriterien, um den »Offenen Brief« anzugreifen (z. B. er »trug nicht dazu bei, das Kräfteverhältnis zu ändern«), wiederholt einfach die damalige Position der LSSP.

Aus Gründen, die mit der politischen Situation in Sri Lanka zusammenhingen, sympathisierte die LSSP stark mit denjenigen Aspekten von Pablos liquidatorischer Linie, die ihre eigene, immer offenere Anpassung an die bürgerlich-nationalistischen Parteien rechtfertigten. Obwohl die LSSP Pablos Kurs gegenüber den Stalinisten immer noch kritisch begegnete, wollte sie keinen Kampf gegen den Zentrismus innerhalb der Vierten Internationale, der ihre Annäherungsversuche an Kräfte wie Bandaranaikes MEP gestört hätte. Aus diesem Grund verabschiedete die LSSP eine Resolution gegen den »Offenen Brief«.

Goonewardene versicherte Cannon, die LSSP bekämpfe nach wie vor jede versöhnlerische Haltung gegenüber dem Stalinismus in ihrer eigenen Sektion, rechtfertigte aber gleichzeitig die Opposition der LSSP gegen den »Offenen Brief« mit einer Reihe formaljuristischer Argumente. Er forderte Cannon auf, von der Spaltung mit den Pablisten abzulassen und an dem geplanten Vierten Weltkongress teilzunehmen.

Die Entwicklung der LSSP in den folgenden 10 Jahren entlarvte den organischen Zusammenhang zwischen ihrer Ablehnung des Kampfs gegen den Pablismus und ihrem stetigen Abdriften zur Volksfrontpolitik. Cannon spürte, dass Goonewardenes Position Ausdruck einer politischen Schwächung der trotzkistischen Überzeugungen der LSSP war, und diese Besorgnis zeigte sich, trotz des insgesamt höflichen und brüderlichen Tons des Briefs, sehr deutlich. Er gratulierte der LSSP zu ihrem Kampf gegen eine prostalinistische Tendenz in ihren eigenen Reihen, erinnerte Goonewardene aber gleichzeitig daran, dass »es als Internationalisten unsere Pflicht ist, verdecktem Versöhnlertum gegenüber dem Stalinismus in anderen Parteien und in der internationalen Bewegung überhaupt genauso wachsam zu begegnen«.[14] (Betonung im Original)

Nach dieser deutlichen Zurechtweisung erklärte Cannon die Bedeutung der Spaltung:

Wenn man realistisch an die heutige Krise herangehen will, muss man zunächst anerkennen, dass die Vierte Internationale keine politisch einheitliche Organisation mehr ist. Die Fragen des Fraktionskampfs sind Prinzipienfragen, die die trotzkistische Bewegung direkt vor die Frage stellen: »Sein oder nicht sein«. Hervorgerufen wurde die heutige Krise in unserer internationalen Bewegung durch den Versuch, die anerkannte trotzkistische Analyse des Charakters des Stalinismus und die leninistisch-trotzkistische Theorie der Partei zu revidieren und damit den trotzkistischen Parteien und der Vierten Internationale insgesamt jede historische Berechtigung einer unabhängigen Existenz letztlich abzusprechen. Im Zusammenhang damit stehen auch sehr wichtige, aber trotzdem untergeordnete Fragen organisatorischer Prinzipien – nicht einfach Verfahrensweisen, sondern Prinzipien.

Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir mit einer revisionistischen Tendenz konfrontiert sind, die von theoretischen Grundfragen bis hin zu politischer Aktion und organisatorischer Arbeit reicht. Wir haben uns diese Tendenz nicht ausgedacht oder sie erfunden; wir stellen einfach fest, was Tatsache ist. Von dieser Tatsache waren wir erst überzeugt, als wir die Entwicklung von Pablos Fraktion sehr gründlich überdacht und untersucht hatten, wie sie sich in ihren konkreten Aktionen und in ihren ausgefeilten theoretischen Formulierungen und Auslassungen ausdrückte. Wir haben dieser Tendenz offen den Krieg erklärt, denn wir wissen, dass sie zu nichts anderem führen kann als zur Zerstörung unserer Bewegung, und weil wir meinen, ein Schweigen unsererseits wäre Verrat an unserer höchsten Verpflichtung, das heißt, unserer Verpflichtung gegenüber der internationalen Bewegung …

Mit diesem Kampf erfüllen wir unsere höchste Pflicht, die wir übernahmen, als wir uns vor 25 Jahren Trotzki und der russischen Opposition anschlossen. Es ist die Verpflichtung, internationale Erwägungen an die allererste Stelle zu setzen, uns um die Angelegenheiten der internationalen Bewegung und der angeschlossenen Parteien zu kümmern, ihnen zu helfen, wo wir nur können, sie mit unseren wohlüberlegten Stellungnahmen zu unterstützen und sie im Gegenzug um ihre Meinung und ihren Rat zu fragen, wie unsere eigenen Probleme zu lösen sind. Internationale Zusammenarbeit ist das erste Prinzip des Internationalismus. Das haben wir von Trotzki gelernt. Wir glauben daran, und wir handeln entsprechend …

Die erste Sorge von Trotzkisten galt immer, und so sollte es auch heute sein, der Verteidigung unserer Lehre. Das ist das erste Prinzip. Das zweite Prinzip, das das erste mit Leben erfüllt, ist der Schutz der historisch geschaffenen Kader gegen jeden Versuch, sie zu spalten und zu zersplittern. Formale Einheit kommt bestenfalls an dritter Stelle.

Die Kader der »alten Trotzkisten« sind das angesammelte Kapital eines langen Kampfs. Sie sind die Träger der Lehre, die einzigen menschlichen Instrumente, die es gibt, um unsere Lehre – das Element des sozialistischen Bewusstseins – in die Massenbewegung zu bringen. Die pablistische Kamarilla setzte sich bewusst das Ziel, diese Kader in einem Land nach dem anderen zu zerstören. Und wir haben uns nicht weniger bewusst – nach einer zu langen Verzögerung – das Ziel gesetzt, die Kader gegen diesen hinterhältigen Angriff zu verteidigen. Unser Verantwortungsgefühl gegenüber der internationalen Bewegung ließ uns gar keine andere Wahl. Revolutionäre Kader sind nicht unzerstörbar. Das hat uns die tragische Erfahrung der Komintern gelehrt.[15] (Betonung im Original)

Diese Zeilen – und, was noch wichtiger ist, der ganze Inhalt der politischen Arbeit der SWP von 1953–1954 – widerlegen Bandas verlogene Anschuldigung: »1950 hatten Cannon und die SWP selbst den Anschein fallengelassen, die Vierte Internationale aufzubauen.« Wie wir bereits auf der Grundlage der geschichtlichen Dokumente gezeigt haben, war Cannons Kampf gegen den Pablismus der Höhepunkt seines Lebens als marxistischer Revolutionär und proletarischer Internationalist. Ausgehend vom Kampf gegen eine rechte Tendenz, die den enormen Druck des amerikanischen Imperialismus auf die SWP widerspiegelte, nahm Cannon eine internationale Offensive gegen den Revisionismus in der Vierten Internationale auf. Dabei bewahrte er das Erbe des Trotzkismus und führte es fort. Der Kampf gegen den Pablismus 1953 war in vieler Hinsicht die letzte Kraftanstrengung dieses zwar fehlbaren, aber großen Kämpfers für den Trotzkismus. Es gibt keine Entschuldigung für Cannons spätere Rückzüge, aber sie beeinträchtigen nicht im Geringsten seine Leistung, als er die Kontinuität der Weltbewegung 1953–1954 verteidigte. Wer das leugnen wollte, reicht Cannon nicht einmal bis zu den Knöcheln.


[1]

Leo Trotzki, »Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party«, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 73.

[2]

»Der Offene Brief der Socialist Workers Party« vom 16. November 1953, in: gleichheit, Nr. 1/2014, Essen, S. 28–29. Cliff Slaughter (Hrsg.), Trotskyism Versus Revisionism: A Documentary History, Bd. 1, The Fight Against Pabloism in the Fourth International, London 1974, S. 298–301.

[3]

Ebd., S. 29. S. 301.

[4]

Ebd., S. 29–30, S. 301–303.

[5]

Ebd., S. 30, S. 303–304.

[6]

Ebd., S. 31, S. 306–307.

[7]

National Education Department Socialist Workers Party, Towards a History of the Fourth International, Juni 1973, Teil 4, Bd. 4, S. 208–209.

[8]

Ebd., S. 209.

[9]

»Der Offene Brief der Socialist Workers Party«, in: gleichheit, Nr. 1/2014, S. 33. Slaughter (Hrsg.), Trotskyism Versus Revisionism, Bd. 1, S. 311–312.

[10]

Ebd., S. 33, S. 312.

[11]

Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Wie die WRP den Trotzkismus verraten hat, 1973–1985«, in: Vierte Internationale, Jg. 13, Nr. 1, Sommer 1986, S. 46–49.

[12]

»Der Offene Brief der Socialist Workers Party«, in: gleichheit, Nr. 1/2014, S. 33. Slaughter (Hrsg.), Trotskyism Versus Revisionism, Bd. 1, S. 312–313.

[13]

News Line, 2. November 1985.

[14]

SWP, Towards a History, Teil 3, Bd. 4, S. 222.

[15]

Ebd., S. 222–228.