Nadescha Joffe
Rückblende: Mein Leben, mein Schicksal, meine Epoche

Vorwort

Von den Schreckensjahren der stalinistischen Verfolgung zeugt eine bedeutende Literaturgattung, der wir Werke wie die Memoiren Nadeschda Mandelstams, Jewgenija Ginsburgs, Margarete Buber-Neumanns und Anna Bucharinas verdanken. Und doch darf das vorliegende Werk in diesem berühmten Kreis eine Sonderstellung beanspruchen. Nicht, dass die anderen weniger erduldet hätten, als Nadeschda Joffe, oder den durchlittenen Terror weniger eindringlich schilderten. Nein, das historisch Einmalige an diesen Memoiren ist die politische Perspektive der Autorin. Nadeschda Joffe war schon vor ihrer ersten Verhaftung eine bewusste und politisch aktive Gegnerin des Stalinismus gewesen. Aus der Sowjetunion nach Stalin sind dies die einzigen je verfassten Memoiren eines Mitglieds der Linken Opposition, die 1923 unter der Führung Leo Trotzkis gegründet worden war.

Es gäbe vielleicht weitaus mehr solche Werke, wenn Stalin und seine Henker nicht mit derart teuflischer Gründlichkeit alle marxistischen Gegner der Sowjetbürokratie vernichtet hätten. Der Vorwurf der »KRTD« – das russische Kürzel für »konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit« – bedeutete den sicheren Untergang. Wer lediglich der »KRD« – »konterrevolutionären Tätigkeit« – angeklagt war, der durfte hoffen, mit »nur« fünf Jahren Arbeitslager davonzukommen, was angesichts der Ungeheuerlichkeit des stalinistischen Terrors eine vergleichsweise milde Strafe war. Aber wenn die Anklage vermittels des »T« mit den Ideen von Stalins unversöhnlichstem Gegner in Verbindung gebracht worden war, dann durfte das Opfer keine Wiederkehr erwarten.

Ungezählte Tausende, die wegen KRTD verurteilt wurden, hatten in Wirklichkeit nicht das Geringste mit Leo Trotzki oder der Linken Opposition zu tun gehabt. Nicht so Nadeschda. Sie war die Tochter Adolf Abramowitsch Joffes, der zu Trotzkis engsten persönlichen Freunden und politischen Verbündeten zählte. Im November 1927 beging Joffe Selbstmord, um gegen Trotzkis Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Russlands zu protestieren. Damals war Nadeschda 21 Jahre alt und verfügte bereits über beachtliche politische Erfahrung in dem Kampf, den die Linke Opposition zu dieser Zeit gegen die Sowjetbürokratie führte. Im Gegensatz zu vielen anderen, die der Terror erfasste, sah sich Nadeschda nicht als Opfer eines willkürlichen und unergründlichen Schicksals. Sie wusste, dass sie ein politischer Gegner des Regimes war, und sie verstand die politischen Motive hinter Stalins Verbrechen. Die meisten, die in die Arbeitslager geworfen wurden, konnten sich einfach nicht erklären, weshalb sie dort waren. Ein solches Opfer erinnerte sich später in seinen Memoiren, dass die Trotzkisten »uns gegenüber den ungeheuren Vorteil hatten, ein geschlossenes System zu vertreten, das geeignet war, den Stalinismus abzulösen, und an dem sie in der tiefen Not der verratenen Revolution Halt fanden«.[1]

Eine Einführung in den vorliegenden Band verlangt einen kurzen Abriss der politischen Laufbahn des Vaters der Autorin. Adolf Joffe wurde 1883 geboren. Obwohl aus einer sehr wohlhabenden Familie und von schwacher Gesundheit, trat er um die Jahrhundertwende der russischen revolutionären Bewegung bei. Wie viele andere seiner Generation musste Joffe nach der Revolution von 1905 Russland verlassen. Während seines Aufenthalts in Wien 1908 schloss er sich eng an Leo Trotzki an und half ihm bei der Herausgabe einer neuen russisch-sprachigen Zeitung, der »Prawda«. Damals gehörte Trotzki weder der bolschewistischen noch der menschewistischen Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an. Seine theoretische Analyse der Ereignisse von 1905 mit ihrer Schlussfolgerung, dass Russland trotz seiner ökonomischen Rückständigkeit am Vorabend einer sozialistischen Revolution stehe, hatte ihn politisch isoliert. Selbst Lenin tat Trotzkis Theorie der permanenten Revolution als »absurd links« ab. Joffe gehörte zu den wenigen, die den vorausschauenden Charakter der Analyse Trotzkis erfassten. Aber nicht nur gemeinsame politische Ansichten brachten die beiden Männer zusammen. Sie teilten auch ein breites Band kultureller und wissenschaftlicher Interessen. Durch Joffe, der sich bei dem berühmten Alfred Adler selbst einer Psychoanalyse unterzogen hatte, lernte Trotzki die Schriften Freuds kennen.

Joffe kehrte nach Russland zurück, um den Wirkungskreis der »Prawda« zu erweitern. Er wurde in Odessa verhaftet, eingesperrt und schließlich nach Sibirien gebracht. Dort blieb er bis zu seiner Befreiung durch den Zusammenbruch der zaristischen Herrschaft im Februar und März 1917. Als führendes Mitglied von Trotzkis einflussreicher Meschrajonzi-Gruppe kehrte er nach Petrograd zurück. Nachdem die Erfahrung des Weltkriegs und der erneute Ausbruch der Revolution in Russland die alten Differenzen zwischen Lenin und Trotzki bereinigt hatten, unterstützte Joffe die Aufnahme der Meschrajonzi in die Bolschewistische Partei, in der er bald als einflussreiche Persönlichkeit galt. Er zählte zu den fünf Mitgliedern des militärischen Revolutionskomitees, das unter Trotzkis Führung den Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung und die Errichtung der Sowjetregierung im Oktober 1917 organisierte.

Als guter Menschenkenner erkannte Lenin in Joffe jene Qualitäten, die ihn zu dem herausragendsten Sowjetdiplomaten der ersten Revolutionsjahre werden ließen. Als Mitglied der sowjetischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk unternahm Joffe seinen ersten Ausflug in die heimtückischen Gewässer der internationalen Machtpolitik. Später vertrat er Sowjetrussland auf wichtigen Missionen in Deutschland, China und Japan. Joffes tadelloses Auftreten und seine hohe Bildung trieben die bürgerlichen Diplomaten zur Verzweiflung. Sie hätten sich nie träumen lassen, als Bevollmächtigten eines revolutionären Arbeiterstaats eine solche geistige Kapazität zu treffen. Ungeachtet seiner souveränen Meisterschaft der raffinierten diplomatischen Etikette war Joffe allerdings in erster Linie Revolutionär. Ein amerikanischer Reporter erinnerte sich später daran, dass Joffes Botschaft in Berlin »als Hauptquartier einer deutschen Revolution diente. Er kaufte den deutschen Beamten Geheiminformationen ab und reichte sie an die radikalen Führer weiter, damit diese sie in Reden und Artikeln gegen die Regierung verwenden konnten. Er kaufte Waffen für die Revolutionäre und zahlte ihnen 100 000 Mark aus. Schriften gegen den Kaiser wurden tonnenweise gedruckt und auf Kosten der sowjetischen Botschaft verteilt. ›Wir wollten den monarchistischen Staat zu Fall bringen und den Krieg beenden‹, sagte Joffe mir gegenüber. ›Präsident Wilson versuchte dasselbe auf seine Weise.‹ Beinahe jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit schlüpften Führer der unabhängigen linken Sozialisten in das Botschaftsgebäude Unter den Linden, um Joffes Rat zu Fragen der Taktik einzuholen. Er war ein erfahrener Verschwörer. Sie wollten von ihm Ratschläge, Führung und Geld.«[2]

Als die deutsche Regierung Joffe vorwarf, er habe 105 000 Mark für den Sturz des Staats ausgegeben, beklagte sich dieser gegenüber einem führenden Sozialisten über die schlechte Buchführung des Kaisers; in Wirklichkeit habe er mehrere hunderttausend Mark aufgewendet.

Insbesondere während seines Aufenthalts in China 1922–1923 spielte Adolf Joffe auch eine wichtige Rolle, um dem sowjetischen Einfluss in Asien den Weg zu ebnen. Er besaß die erforderliche taktische Finesse, um heikle Verhandlungen mit Sun Yat-sen zu führen, während er gleichzeitig unter den chinesischen Intellektuellen und Studenten in der jungen Kommunistischen Partei Chinas, deren rasches Wachstum die konservativen bürgerlichen Nationalisten in der Kuomintang-Führung sehr beunruhigte, die Ideen des Marxismus verbreitete.

Joffes Berufung zum Diplomaten hielt ihn in einiger Entfernung vom täglichen Kampf der Linken Opposition. Stalin nutzte seine Stellung als Generalsekretär, die ihn zu Ernennungen bevollmächtigte, oftmals aus, um Anhänger Trotzkis mit Missionen außerhalb der Sowjetunion zu betrauen. Es stand jedoch außer Frage, dass Joffe mit Trotzkis Kritik an der Bürokratisierung der Sowjetregierung und an den Gefahren, die sie für den Fortbestand des Arbeiterstaats und für die Sache des internationalen Sozialismus mit sich brachte, von ganzem Herzen übereinstimmte. Manches deutet darauf hin, dass Joffe sogar früher noch als Trotzki zu dem Schluss gelangt war, dass Stalins Aufstieg den Beginn einer längeren Periode politischer Reaktion in der Sowjetunion ankündigte.

Joffes nüchterne Einschätzung der sich verschlechternden politischen Lage trug viel zu seinem Entschluss bei, sich Ende 1927, auf dem Höhepunkt des innerparteilichen Kampfs, das Leben zu nehmen. Nicht aus Demoralisierung entschied er sich für den Selbstmord als angemessenste Antwort auf die Verbannung Trotzkis. Joffe erkannte vielmehr, dass seine unheilbare Krankheit, deren ordentliche Behandlung ihm die stalinistische Fraktion vermittels ihrer Kontrolle über die Partei versagte, ihn jeder Möglichkeit zur wirksamen Teilnahme am politischen Kampf beraubte. Die Gründe für seinen Schritt legte er in einem Brief dar, den er nur wenige Stunden, bevor er sich das Leben nahm, an Trotzki schrieb. Der vollständige Text dieses Briefes wird in diesem Band zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht. Die politischen Abschnitte dieses Dokuments sind selbstredend von außerordentlichem Interesse. Aber der wichtigste Absatz ist vielleicht jener, in dem Joffe in ebenso beredten wie einfachen Worten sein moralisches Credo formuliert: »... wenn ich auf mein Leben zurückblicke ..., darf ich – wie ich meine – mit Recht behaupten, dass ich mein ganzes bewusstes Leben meiner Philosophie treu blieb, d. h. ich verbrachte mein Leben auf sinnvolle Weise, in der Arbeit zum Wohle der Menschheit.«

Beinahe 70 Jahre nach dem tragischen Tod ihres Vaters erinnern die Memoiren Nadeschda Joffes an eine Geschichtsperiode, in der der Marxismus die geistige und moralische Triebkraft einer mächtigen, weltweiten Bewegung für die soziale Befreiung war. Nadeschdas Generation wuchs in den zwanziger Jahren heran, noch bevor der Stalinismus die Ideale und Träume der Jugend des Oktober unterdrückt hatte. Ihre Erinnerungen rufen den Geist dieser Generation wach: »Wir alle wollten nichts für uns selbst, wir wollten alle nur das eine: die Weltrevolution und Glück für alle. Und wenn wir dafür unser Leben hätten geben müssen, wir hätten es ohne Zögern getan.«

Die Kultur, die diese Ziele beförderte und nährte, wurde vom Stalinismus zerstört. Die Festigung der bürokratischen Herrschaft verlangte die Vernichtung all jener, die in der einen oder anderen Weise die Prinzipien und Traditionen des Oktober 1917 vertraten. Hierin lag das wesentliche Motiv für den politischen Völkermord an Sozialisten, den Stalin entfesselte. Hätte sich Nadeschdas Vater nicht selbst das Leben genommen, er wäre mit Sicherheit unter jenen gewesen, die zwischen 1936 und 1938 erschossen wurden. Aber auch der frühe Tod Adolf Joffes konnte seine Familie nicht vor dem stalinistischen Terror bewahren. Nadeschda wurde in Arbeitslager geschickt und ihr Ehemann Pawel ermordet.

Nadeschda Joffe überlebte, und ihre Memoiren schenken uns das Zeugnis eines Menschen, der mit einem hohen Maß an politischem Bewusstsein die tragischsten Ereignisse dieses Jahrhunderts miterlebte.

Die Sowjetunion existiert nicht mehr und es ist unter jenen, die noch vor kurzem recht einflussreiche Stellungen in ihrem bürokratischen Apparat innehatten, schick und vor allem lukrativ geworden, Lenin, dem Bolschewismus und dem Marxismus alle Verantwortung für die Verbrechen des stalinistischen Regimes zuzuschreiben. Auf diese Weise entheben sie sich der Verantwortung für ihr eigenes Handeln, mit dem sie viele Jahre lang zur Aufrechterhaltung des stalinistischen Systems beigetragen haben.

Nadeschda Joffes Memoiren sind eine moralische ebenso wie faktische Widerlegung dieser neuen, postsowjetischen Schule der stalinistischen Fälschung; denn sie erinnert jene, die es vielleicht vergessen haben, und erklärt jenen, denen man es wahrscheinlich nie gesagt hat, dass ungezählte Tausende im Kampf gegen den Stalinismus ihr Leben opferten, weil sie verstanden, »dass der Sozialismus, der in der Sowjetunion aufgebaut wurde, nicht der Sozialismus war, von dem die besten Denker der Menschheit geträumt hatten«.

David North, 13. September 1994


[1]

Leopold Trepper, Die Wahrheit, München 1975, Seite 63.

[2]

E. H. Carr, The Bolshevik Revolution 1917–1923, New York 1981, S. 76-77.